26.04.2005

Kurden:Kosmetik statt Reformen

Europas größte "Minderheit", weiterhin ohne grundlegende Rechte

Die Türkei drängt in die Europäische Union (EU). EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen will die Grenzen der Gemeinschaft bis zu den iranischen und irakischen Nachbarn vortreiben. Nach 70 Jahren gnadenloser Kurdenverfolgung herrscht jetzt ein neuer Ton in der Türkei. Die islamische Regierungspartei unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan scheint es mit demokratischen Reformen ernst zu meinen. Weil der Westen die Türkei als Bollwerk gegen den Kommunismus brauchte, hat er die Halbdiktatur der Generäle im Geiste des großen Atatürk jahrzehntelang schön geredet. Türkische Politiker, Herrscher über korrumpierte Parteien, beugten sich dem nationalen Sicherheitsrat, der in allen wesentlichen Fragen das letzte Wort hatte. Funktionierten die Politiker nicht, übernahm das Militär die ganze Macht.

Erdogan räumt auf. Er schaffte die Todesstrafe und die berüchtigten Staatssicherheitsgerichte ab, erließ Reformen für viele Bereiche des türkischen Unrechtsstaates. So nimmt die Zahl der Folterungen und willkürlichen Verhaftungen, des Verschwindenlassens und der Publikationsverbote ab. Doch diese Verbesserungen allein werden das Hauptproblem des Landes nicht lösen: 20 bis 25 Prozent der Einwohner der Türkei sind Angehörige ihrer größten "Minderheit", des auf vier Staaten des Nahen Ostens aufgeteilten Volkes der Kurden. Allein in der Türkei leben 15 bis 20 Millionen von ihnen. Ihre Sprache, Kultur und Identität wurden verfolgt und unterdrückt. Kurdische Parteien, Institutionen und Medien waren seit der Machtergreifung Atatürks verboten. In den 20er und 30er Jahren reagierte die Armee auf kurdischen Widerstand mit Deportationen und der Liquidierung Hunderttausender.

Diese Unterdrückung wurde nach Ende des Zweiten Weltkrieges gnadenlos fortgesetzt. Die Folge war der Aufstand der kurdischen Arbeiterpartei PKK. Ihr Führer Abdullah Öcalan steuerte die Guerilla-Bewegung von Syrien bzw. dem syrisch besetzten Libanon aus. Syriens Diktator Assad benutzte Öcalan für seine Ziele. Er musste die Existenz des syrischen Kurdistans leugnen. Statt Befreiung brachte die autoritär organisierte PKK den Kurden Repressalien auch in den eigenen Reihen. Öcalan ließ sein gesamtes Politbüro ermorden und zahlreiche Widerstandskämpfer töten. Auch die Kurden im europäischen Exil, vor allem in Deutschland, bekamen seinen harten Unterdrückungsapparat zu spüren. 1999 wurde der türkisch-kurdische Bürgerkrieg beendet. Er hatte 40.000 Opfer gefordert, darunter 35.000 Kurden. Öcalan ist heute politischer Gefangener auf einer Insel im Marmarameer und kooperiert mit den türkischen Behörden. Nachdem sie jahrzehntelang von beiden Seiten verboten und verfolgt worden waren, könnten die sozialistischen, konservativen und anderen demokratischen kurdischen Parteien jetzt die Chance bekommen, politisch aktiv zu werden und sich zu etablieren.

Ministerpräsident Erdogan ist der erste türkische Regierungschef, der offen über das Kurdenproblem spricht. Doch bisher bleiben seine Reformen für die Minderheiten Kosmetik. Die zugesagte halbe Fernsehstunde in kurdischer Sprache pro Tag wird keinen Kurden befriedigen, auch wenn damit zum ersten Mal ihre Existenz offiziell anerkannt wird. Denn im benachbarten Nordirak senden die beiden Fernsehsender von Barzani (KDP) und Talabani (PUK) rund um die Uhr. Dort werden eine Million Schüler in ihrer kurdischen Muttersprache unterrichtet und drei kurdische Universitäten sowie drei kurdische Technische Hochschulen funktionieren vorbildlich. Das alles setzt Maßstäbe für eine moderne Nationalitätenpolitik auf europäischem Niveau.

Doch davon ist die Türkei noch weit entfernt. Sieht man von der russischen Politik in Tschetschenien und der Situation im Kosovo und in Bosnien ab, werden im Kreis der Europarats-Mitglieder in keinem Land Volksgruppen so massiv unterdrückt wie die Kurden in der Türkei. Die frei gewählte kurdische Abgeordnete Leyla Zana und drei ihrer Parlamentskollegen wurden nach zehnjähriger Haft zwar entlassen, und dies wurde in den Medien auch europaweit positiv gewürdigt. Doch erhielten damit nur die prominentesten kurdischen Häftlinge die Freiheit. Noch sitzen 3.500 kurdische politische Gefangene in Haftanstalten, die jahrzehntelang als Folterkammern berüchtigt waren. Im vergangenen Jahr wurden allein im kurdischen Ostanatolien 502 Fälle von Folter gezählt, starben 84 Menschen bei extralegalen Hinrichtungen, wurden 574 Kurdinnen und Kurden widerrechtlich verhaftet und 52 Publikationen beschlagnahmt.

Schon die enorme Anzahl politischer Gefangener macht es für den unvoreingenommenen Beobachter unvorstellbar, dass die Türkei als EU-Beitrittskandidat in Frage kommen soll. Doch ihr Schicksal ist nur die Spitze des Eisberges. Denn es gibt darüber hinaus 2,4 Millionen kurdische Flüchtlinge und Vertriebene, die im eigenen Land im tiefsten Elend leben müssen. Sie wurden zwischen 1984 bis 1989 aus ihren Dörfern gejagt. Mehr als 3.400 Siedlungen wurden zerstört – über 3.000 von ihnen von der türkischen Armee. Nachdem eine Kommission des türkischen Parlaments diese Zahlen bereits 1997 veröffentlicht hatte, wurden sie inzwischen von einer Reihe von Nichtregierungsorganisationen bestätigt.

Fast die Hälfte der Vertriebenen haust ohne jede Hoffnung auf eine bessere Zukunft in notdürftig zusammen gezimmerten Baracken oder Zelten am Rande großer Städte. Diese Menschen leben seit Jahren von der Hand in den Mund. 80 Prozent sind arbeitslos. Selbst Sechsjährige müssen schon betteln gehen, damit die Familien überleben können. Die Zahl der Einwohner von Diyarbakir, der heimlichen Hauptstadt der Kurden, ist von etwa 300.000 auf 1,5 Millionen angeschwollen. 82 Prozent der Flüchtlinge klagen über gesundheitliche Probleme und mangelnde medizinische Versorgung. Nur jede 25. Frau und jeder 20. Mann ist sozialversichert. 78 Prozent der Vertriebenen sind unzureichend ernährt. 40 Prozent haben keinen Zugang zu reinem Trinkwasser, noch einmal soviel haben keine Heizung. Rund 42 Prozent der erwachsenen Vertriebenen sind Analphabeten, ein Viertel der Kinder geht gar nicht zur Schule.

Obwohl bis zu 80 Prozent der Vertriebenen in ihre Heimatorte zurückkehren und ihr meist bäuerliches Leben auf dem Lande wiederaufnehmen möchten, ist dies erst etwa fünf Prozent gelungen. Denn es gibt kein breit angelegtes, von der Regierung unterstütztes Wiederaufbauprogramm für den Südosten der Türkei. Internationale Hilfswerke wurden bisher meist an der Arbeit gehindert.

Erst wenn es für das zerstörte türkische Kurdistan ein Wiederaufbauprogramm gibt, die Flüchtlinge und Vertriebenen aus ihrer unerträglichen Situation erlöst werden und zurückkehren können, kann von wirksamen demokratischen Reformen gesprochen werden. Voraussetzung dafür ist selbstverständlich auch die Freilassung der politischen Gefangenen. Prüfstein für die Glaubwürdigkeit von echten Reformen wären die volle Gleichberechtigung des Kurdischen und das Angebot regionaler Selbstverwaltung für die überwiegend kurdisch besiedelten Provinzen unter Beteiligung der dort ebenfalls ansässigen assyrisch-aramäischen Christen.

Bilanz der Kurdenverfolgung 2003

Obwohl die militärischen Auseinandersetzungen im kurdischsprachigen Südost-Anatolien weitgehend eingeschlafen sind, müssen wir für das vergangene Jahr eine erschreckende Anzahl von Menschenrechtsverletzungen vor allem an Angehörigen des kurdischen Bevölkerungsviertels zur Kenntnis nehmen.

  • Tote bei militärischen Gefechten: 105 Tote
  • Extralegale Hinrichtungen: 84 Tote
  • Vorwurf der Folter: 502 Fälle
  • Folter in Gefängnissen: 26 Fälle
  • Verschwindenlassen: 7 Fälle
  • Widerrechtliche Verhaftungen: 574 Fälle
  • Verletzungen des Eigentumsrechts: 3.096 Fälle
  • Schließung von Radiostationen: 1 Fall
  • Schließung von zivilgesellschaftlichen Einrichtungen: 2 Fälle
  • Verbote von kulturellen Aktivitäten: 36 Fälle
  • Konfiszierte Publikationen: 42 Fälle