12.01.2006

Kosovo: Nicht mit deutschem Geld! Gegen Zwangsumsiedlung von Roma-Flüchtlingen auf verseuchtes Gebiet

Offener Brief Außenminister Frank-Walter Steinmeier

Sehr geehrter Herr Minister,

in unserem Schreiben vom 21.12.2005 hatten wir Ihnen die unerträgliche Situation in den drei mit Schwermetallen verseuchten Flüchtlingslagern für Roma und Aschkali in Nord-Mitrovica im Kosovo ausführlich geschildert. Seit 1999 müssen dort 560 "Insassen" – unter ihnen 218 Kinder unter zehn Jahren – ausharren. Durch die permanente Belastung mit giftigen Schwermetallen aus einer nahen Abraumhalde leiden die Menschen inzwischen an Bleivergiftung. Auch eine Reihe deutscher Politiker und Parlamentarier hatten wir ausführlich mit einer detaillierten Dokumentation informiert.

 

Schon zuvor hatten wir das Auswärtige Amt mehrfach dringend um Hilfe gebeten, jedoch auch nachdrücklich davor gewarnt, das Vorhaben der Übergangsverwaltung der Vereinten Nationen im Kosovo UNMIK mit Mitteln des Auswärtigen Amtes zu finanzieren, die kontaminierten Flüchtlinge nur wenige Schritte entfernt und noch im Bereich der giftigen Halde in einer Kaserne unterzubringen. Wir hatten an Sie appelliert, die Menschen in eine unbelastete Region umzusiedeln und dort schnell mit der medizinischen Behandlung, sprich Entgiftung, zu beginnen.

 

Indem Sie jedoch den unverantwortlichen Plan der UNMIK unterstützen, machen Sie sich an der fortschreitenden Vergiftung der Flüchtlinge mitschuldig. Ihnen ist bekannt, dass schon mehrere von ihnen an Bleivergiftung gestorben sind. Wir wollen Sie im Folgenden noch einmal an den Sachverhalt erinnern und damit auch auf Ihr Schreiben vom 03.01.2006 antworten.

 

Wir hatten Ende Oktober 2005 einen der europaweit ausgewiesensten Spezialisten für Schwermetallvergiftung, den Umweltmediziner Dr. Klaus-Dietrich Runow, mit einer "Fact Finding-Mission" in den Kosovo gesandt. Dr. Runow hatte Blutproben und 66 Haarproben genommen. Die Methode zur Untersuchung von Haarproben auf eine mutmaßliche Bleivergiftung ist relativ neu. Dennoch ist es erschreckend, dass die Proben die weltweit höchsten Bleiwerte ergaben, die sich bisher bei Anwendung dieser Methode gefunden haben. Die Werte der Flüchtlinge überstiegen bei allen Proben den Grenzwert mindestens um das 200-Fache, bei mehreren Kindern waren sie noch extremer auf das 1200-Fache erhöht. Dazu kommen bei vielen Proben sehr hohe Kadmium- und Arsenwerte.

 

Die Folgen für die vergifteten Menschen hatten wir Ihnen ebenfalls geschildert. Wir zählen sie im Folgendem noch einmal auf: Aus umweltmedizinischer Sicht werden die Flüchtlinge irreversible Schädigungen des Nerven- und Immunsystems sowie Störungen des Knochenwachstums und der Blutbildung davontragen. Kinder zeigen schon beunruhigende Symptome von Bleivergiftung wie Gedächtnisverlust, Koordinationsschwierigkeiten und komatöse Zustände.

 

Der Umweltmediziner Dr. Runow bekräftigte uns gestern noch einmal telefonisch: "Aus umweltmedizinischer Sicht ist die Umsiedlung in das ehemaligen KFOR-Camp "Osterode" überaus problematisch. Aus meinen Untersuchungen geht hervor, dass die Roma-Flüchtlinge extrem belastet sind. Um sie zu retten, muss die Umsiedlung an einen deutlich entfernten Ort eingeleitet werden. Es reicht nicht, die Blei belasteten Böden zu betonieren, denn der Kontakt mit dem giftigen Schwermetall kommt immer noch durch die Luft zustande. Ich habe selbst das ehemalige KFOR-Camp besucht und sah die Berge von toxischem Endmaterial, die sich in unmittelbarer Nähe von "Osterode" befinden und nicht nur den Boden, sondern auch die Luft kontaminieren. Therapie und Entgiftung sind an einem Ort dieser Belastung nicht möglich. Man kann die Flüchtlinge erst heilen, wenn es zu einem Expositionsstopp gekommen ist. Natürlich sind die Lebensbedingungen auf dem ehemaligen Militärstützpunkt besser, doch was haben die Flüchtlinge davon, wenn sie weiter an Schwermetallvergiftung leiden müssen?"

 

Die Gesellschaft für bedrohte Völker International ist mit einem vierköpfigen Team ständig vor Ort - im Unterschied zu den Hilfsorganisationen, die dort in der Vergangenheit gelegentlich auftauchten. Nach den Berichten von Dr. Runow, der dem Boden Proben entnommen hat, ist dieser voll mit Schwermetallteilchen, die man mit bloßem Auge erkennt. Es ist unmöglich, die 218 kleinen Kinder davon abzuhalten mit und in dieser Erde zu spielen und zu wühlen.

 

Es ist absurd anzunehmen, dass sanitäre Anlagen, fließend Wasser, Elektrizität und Beheizung, die den Roma- und Aschkali-Flüchtlingen jetzt erst - nach sechs Jahren Flüchtlingsdasein - zur Verfügung gestellt werden sollen, den Vergiftungsprozess aufhalten oder gar rückgängig machen können. Wir denken allein an die besonderen Gefahren für Kinder und Schwangere. Es hat schon eine Reihe von Fehlgeburten gegeben in jüngster Zeit. Im übrigen sollte es Sie sehr nachdenklich machen, dass die französischen Soldaten, die nur wenige Monate in "Osterode" stationiert waren, die wegen der Bleibelastung Anweisung erhielten, innerhalb der ersten neun Monate nach ihrer Rückkehr in Frankreich keine Kinder zu zeugen. Dies erfuhr unser amerikanischer Mitarbeiter vor Ort.

 

Die Flüchtlinge brauchen jetzt kein "Camp-Management", das sie in vergifteter Umgebung bevormundet. Ein solches Management, das diese Aufgabe übernimmt, missachtet die Menschenwürde der Flüchtlinge und wird mitverantwortlich für weitere Erkrankungen und Todesfälle. Wir hören mit Interesse von der UNMIK, dass jetzt plötzlich Obst, Gemüse, Nahrungsmittel, Hygieneartikel bereitgestellt und sogar Ausbildungskurse vorgesehen werden. Es ist beschämend genug, dass die internationale Verwaltung ausgerechnet die Hauptopfer der Minderheitenverfolgung seit 1999 die ganze Zeit allein gelassen hat und mit Hilfe erst begonnen hat, nachdem ein amerikanischer Film im Lager gedreht wurde und erste westliche Zeitungen, unter ihnen die "Herald Tribune", ausführlich über die Kritik der Gesellschaft für bedrohte Völker berichteten.

 

Jeder Arzt wird Ihnen bestätigen können, dass die Flüchtlinge sofort evakuiert werden sollten. Serben und Albaner wurden in Gefahrensituationen zu Tausenden evakuiert, als ihr Leben bedroht war. Als 1999 mindestens 120.000 der 150.000 (80 bis 90 %) der Angehörigen der farbigen Minderheiten der Roma und Aschkali aus dem Lande gejagt wurden, kamen ihnen keine internationalen Truppen zur Hilfe.

 

Der bekannteste lebende deutsch-jüdische Philosoph Ernst Tugendhat hat im Zusammenhang mit den Zuständen in diesen drei Lagern erklärt, dass Roma bis heute vielfach als Untermenschen behandelt werden. Und er erinnerte daran, dass der Holocaust Juden und Sinti und Roma gleichermaßen traf. Dass eine deutsche Bundesregierung, dass der neue deutsche Außenminister daran teilnimmt, das Leben dieser 218 kleinen Kinder aufs Spiel zu setzen, ist traurig und verantwortungslos. Die Gesellschaft für bedrohte Völker bittet Sie noch einmal dringend, diese Menschen schnell in eine sicherere Region zu evakuieren und dort mit einer Entgiftungsaktion durch kompetente Umweltmediziner zu beginnen.

 

Mit freundlichem Gruß

gez. Tilman Zülch

Generalsekretär