24.06.2005

Keine Aussicht auf Frieden

Tschetschenien im Spätsommer 2004

Tschetschenische Mutter mit ihrem getöteten Kind

Zusammenfassung

Auch nach den Wahlen vom 29. August 2004 besteht in Tschetschenien keine Hoffnung auf Frieden. Innerhalb von nur wenigen Tagen kamen in Russland Ende August / Anfang September mehr als 100 Personen bei Terroranschlägen ums Leben. In einer Presseerklärung hat die GfbV diese Verbrechen auf das Schärfste verurteilt. Doch die tägliche Chronik der Verbrechen in Tschetschenien, die Teil des vorliegenden aktuellen Memorandums der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) ist, macht deutlich, dass das Morden weitergeht: Bombardements in der tschetschenischen Bergregion, Explosionen von Autobomben, Schießereien, "Säuberungen", d.h. Razzien von Dörfern und Wohnungen, nächtliches Verschwindenlassen von Zivilisten, Leichenfunde an Dorfrändern, Verlustmeldungen russischer Soldaten und Minenunfälle, sind schrecklicher Alltag. Durch massive Wahlfälschung wurde der bisherige Innenminister Alu Alchanow zum tschetschenischen Präsidenten gewählt. Er ist mitverantwortlich für die prekäre Menschenrechtslage. Die tschetschenische Bevölkerung verbindet mit ihm keine Hoffnung auf eine positive Veränderung.

Die Arbeit von Menschenrechtsorganisationen in Inguschetien und Tschetschenien wird durch Angestellte des russischen, tschetschenischen und inguschetischen Geheimdienstes noch stärker behindert als bisher. Auch Berichte über Schikanen gegen unabhängige, Kreml kritische Journalisten haben zugenommen.

Während des Sommers wurden wie auch in den Vormonaten nahezu täglich bei so genannten gerichteten Säuberungen oder "Operationen zur Passkontrolle" Zivilisten verschleppt. Bei einem Besuch einer GfbV-Delegation im Juni 2004 in Inguschetien, berichten sowohl tschetschenische Flüchtlinge in Inguschetien als auch Tschetschenen niemand würde nachts aus Angst vor den Hausdurchsuchungen und Aktivitäten der Todesschwadronen mehr schlafen. Trotzdem betont die russische Regierung, sie habe die Lage in Tschetschenien unter Kontrolle und die Situation würde sich normalisieren. Auch eine Zunahme von Kampfhandlungen zwischen Tschetschenen und Russen straft diese Behauptung Lügen. In der Nacht vom 20. auf den 21. Juni überfielen sie die inguschetische Hauptstadt Nasran und töteten nahezu 90 Personen, in ihrer Mehrheit Angehörige des Sicherheitsapparates. Ein ähnlicher Übergriff durch geschätzte 200 bis 400 tschetschenische Kämpfer fand am 21./22. August in Grosny statt. Auch hier starben etwa 100 Personen.

Präsident Putin hat erkannt, dass die russische Armee das Gebiet im Süden Russlands nicht befrieden kann. Also soll die "Tschetschenisierung" fortgesetzt werden, die dazu führt, dass sich Tschetschenen untereinander bekriegen. Die Leidtragenden sind Kinder, Frauen, Männer: die tschetschenischen Zivilisten.

Besonders besorgniserregend ist weiterhin die Lage der Flüchtlinge in Inguschetien und der noch etwa 70.000 Binnenvertriebenen in Tschetschenien. Alle größeren Lager in Inguschetien wurden geräumt. Dort leben jedoch immer noch in Sammelunterkünften wie ehemaligen Kuh- und Schweineställen oder Fabrikgebäuden bzw. in Privatunterkünften rund 50.000 tschetschenische Vertriebene in Inguschetien. Seit dem Übergriff tschetschenischer Kämpfer vom Juni 2004 sind sie noch stärker als bisher Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt, was eine Chronik der Übergriffe in Inguschetien im vorliegenden Memorandum deutlich macht.

Die Gesellschaft für bedrohte Völker ist davon überzeugt, dass erst nach einem beidseitigen Waffenstillstand und ernst gemeinten Friedensverhandlungen unter internationaler Beobachtung, in die der tschetschenische Führer Aslan Maschadow einbezogen werden muss, eine Chance für demokratische, geheime und gleiche Wahlen besteht und erst dann auf eine friedliche Entwicklung in Tschetschenien gehofft werden kann.

Die Gesellschaft für bedrohte Völker stellt folgende Forderungen an die Bundesregierung:

     

  1. Für Flüchtlinge aus Tschetschenien soll Deutschland einen Abschiebestopp erlassen.

  2. Die Zusammenarbeit zwischen der Bundeswehr und der russischen Armee, sowie zwischen dem BND und dem russischen Geheimdienst FSB muss öffentlich untersucht und beendet werden.

  3. Deutsche Politiker, besonders der Bundeskanzler und der Außenminister sollen jede Gelegenheit bilateraler Gespräche nutzen, um öffentlich Kritik an Russlands Vorgehen in Tschetschenien zu üben.

  4. Die Bundesregierung muss sich für eine Rückkehr der OSZE und die Einladung der UN-Sonderberichterstatter nach Tschetschenien stark machen.

  5. In Zusammenarbeit mit den europäischen Partnern soll die Bundesregierung Verhandlungen zwischen der russischen Regierung und den maßgeblichen Kräften in Tschetschenien unter ihnen auch dem legitimierten tschetschenischen Präsidenten Maschadow in die Wege leiten.

     

1. Völkermord in Tschetschenien

Genozidforscher wie der Bremer Gunnar Heinsohn haben als Alarmzeichen für Völkermord neben seiner Vorbereitung die Kennzeichnung der Gruppe durch die staatlichen Medien ausgemacht. Dies trifft im Fall Tschetscheniens zu. Nach den Bombenangriffen auf Wohnhäuser in Moskau im August 1999 starteten Medien und Politiker eine beispiellose Hetzkampagne gegen die "schwarzen", wie Kaukasier in Russland abwertend bezeichnet werden. Das gesamte Volk der Tschetschenen wurde seit Anfang der 90-er Jahre bis heute zunehmend als "Banditen", "Terroristen", "Extremisten" und "Verbrecher" diffamiert. Natürlich trug die ansteigende Zahl von Terroranschlägen tatsächlicher tschetschenischer Terroristen in Moskau und anderen Gebieten Russlands noch zu einer Verstärkung dieser Tendenz bei. Mittlerweile wird nach etlichen Verbrechen sofort eine "tschetschenische Spur" gewittert. Die Verfolgung der Tschetschenen innerhalb der Russischen Föderation hat in den letzten Jahren eine so große Intensität angenommen, dass selbst russische Organisationen wie "Bürgerhilfe", eine Schwesterorganisation von Memorial, geleitet von der bekannten Menschenrechtlerin Swetlana Gannuschkina, sagen, Tschetschenen könnten nirgends in der Föderation friedlich und sicher leben. Seit dem Machtantritt Putins und dem neuerlichen Kriegsausbruch in Tschetschenien wird an den Tschetschenen Völkermord begangen. Misst man die Verbrechen der russischen Sicherheitskräfte an der UN-Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermords liegt nach Artikel II a), b) und c) Genozid vor. Bisher sind ihm mindestens 80.000 Menschen zum Opfer gefallen. Die meisten Opfer waren zu Beginn des Krieges zu beklagen.

Aber auch heute noch sterben einige Hunderte bis Tausend Zivilisten an dem russischen Vorgehen im Nordkaukasus. Wobei natürlich die terroristischen Aktivitäten versprengter Teile des tschetschenischen Widerstands, die sich radikalisiert haben, genauso zu verurteilen sind.

Genozidkonvention Artikel II, §a "Tötung von Mitgliedern der Gruppe": Artikel II der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes, 9.12.1948

"In dieser Konvention bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören":

1. Nach vielen vorliegenden Berichten und Zeugenaussagen wurden Zivilisten tschetschenischer Nationalität, aber auch Angehörige anderer Volksgruppen überall im Land wahllos von russischen Truppen einzeln oder in kleineren oder größeren Gruppen getötet. Russische Soldaten feuerten auf Zivilisten an Bushaltestellen, auf Menschenansammlungen in Straßen und auf Märkten oder in Moscheen. Sie ermordeten Menschen bei Hausdurchsuchungen und Plünderungen, Frauen nach Vergewaltigungen. Sie setzten Flammenwerfer und Handgranaten gegen Kinder, Frauen und unbewaffnete Männer ein, schossen auf Busse, auf zu Fuß flüchtende Menschengruppen, auf Flüchtlinge in Einzelfahrzeugen oder Konvois. Die Leichen der Ermordeten wurden häufig mit Benzin übergossen, verbrannt und in Massengräbern verscharrt, oder die Häuser, in denen die Toten lagen, wurden in die Luft gesprengt.

Menschenrechtsorganisationen und westliche Medien haben über eine Reihe von größeren Massakern berichtet, denen viele hundert Tschetschenen zum Opfer gefallen sind. Derartige Massenmorde wurden u.a. in Alkhan-Jurt, in Staropromylowski bei Grosny, in Katyr-Jurt und in Aldi bei Grosny begangen. Vielfach wurden auch schwer verwundete tschetschenische Kämpfer liquidiert. Die amerikanische Hilfsorganisation "Ärzte für Menschenrechte" hatte am 27.2.2000 erklärt, die Hälfte von 326 befragten tschetschenischen Vertriebenen hätten über Erschießungen von Zivilisten berichtet.

2. Landesweit starben viele tausend Menschen 1999 und 2000 bei Luftangriffen auf zivile Ziele. So wurden Plätze, Märkte, Dörfer und Straßen, Flüchtlingskonvois und selbst mit Rotkreuzzeichen gekennzeichnete Krankenwagen, öffentliche Verkehrsmittel, Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten und Moscheen, Industrieanlagen und Fernsehstationen von der russischen Luftwaffe bombardiert. Menschen wurden bei Feldarbeiten oder beim Holzsammeln aus der Luft angegriffen und getötet.

Gnadenlos wurde die tschetschenische Hauptstadt Grosny (früher etwa 400.000 Einwohner) fünf Monate lang bombardiert und dem Erdboden gleichgemacht. Wiederholt beschossen Flugzeuge und Hubschrauber fliehende Einwohner. Entlang den Ausfallstraßen seien Felder Anfang Dezember 1999 mit Leichen übersät gewesen. Nach der Eroberung der Stadt berichteten Journalisten und Einwohner über Plünderungen, Vergewaltigungen, ungezählte Einzel- und Massenerschießungen und In-die-Luft-Sprengen von Bewohnern durch russische Soldaten in vielen Stadtteilen. Straßenweise wurden ganze Wohnblocks gesprengt. Die Trümmer begruben Tote und möglicherweise noch Lebende in den Kellern. Auch noch in den Jahren nach den systematischen Bombenangriffen kamen Zivilisten in Tschetschenien durch Bomben oder Artilleriebeschuss ums Leben.

3. Die russische Militäradministration hatte nach den schweren Bombardements Tschetschenien im Jahr 2000 und 2001 mit einem Netz von so genannten Filtrationslagern überzogen. Dazu gehörten sowohl länger funktionierende als auch kurzfristig eingerichtete provisorische Lager. Insgesamt werden sich viele tausend Menschen in diesen Lagern befunden haben. Eine größere Zahl von ihnen wurde zu Tode gefoltert, an Ort und Stelle erschossen oder nach Vergewaltigung ermordet. Diese Filtrationslager wurden nach und nach aufgelöst. Statt dessen werden Menschen noch heute an so genannten "Filtrationspunkten" festgehalten. Das sind teils Keller von Polizeiwachen, teils Erdgruben. Diese sind drei bis vier Meter tief, teils mit Wasser gefüllt. Eine unterschiedliche Zahl von Menschen wird in ihnen festgehalten, in periodischen Abständen rausgeholt und von den wachhabenden Soldaten gefoltert. Gerade nach Verschleppungen und Entführungen wird Folter angewandt, um Geständnisse zu erpressen.

Genozidkonvention Artikel II, §b "Verursachung von schweren körperlichen oder seelischen Schäden an Mitgliedern der Gruppe":

Schwere körperliche Schäden erleiden überlebende Opfer von Misshandlungen, Folter, Vergewaltigung und Beschießung. Nach der Einrichtung der so genannten Filtrationslager wurden in Städten und Dörfern tausende Tschetschenen, ganz überwiegend Zivilisten, in die Lager deportiert. Vielfach wurden einzelne oder kleinere Gruppen willkürlich an Straßen und auf Plätzen verhaftet, Menschen wurden nachts entführt, in einer ganzen Reihe von Fällen wurde Krankenhauspersonal -Ärzte und Schwestern - verschleppt. Nach der Ankunft im Lager mussten die Gefangenen ein Spießrutenlaufen absolvieren, wobei sie von den Wärtern mit Holzknüppeln, Gummischlagstöcken oder sogar mit Eisenhämmern geschlagen wurden. Überall wurden Frauen und Männer vergewaltigt. Misshandlungen und Folter sind an der Tagesordnung. Unvorstellbare Haftbedingungen, völlig unzureichende Ernährung, keine sanitären Anlagen, tagelanges Sitzen ohne Kleidung in kalten Haftzellen, Versprühen von Tränengas in die Zellen, nächtelanges Stehen mit erhobenen Händen haben viele der Überlebenden zu Invaliden gemacht und zu schweren Traumatisierungen geführt. Tschetschenische Kriegsgefangene sind ebenfalls Folterungen und Misshandlungen ausgesetzt. Trotz der traditionellen Zurückhaltung der Tschetschenen gibt es zahlreiche Berichte über Vergewaltigungen aus allen Landesteilen. Während der Massaker, der Beschießung von Flüchtlingstrecks und den Bombardements von Städten und Dörfern wurden Zehntausende Frauen, Kinder und Männer verwundet und traumatisiert. Tausende haben bleibende seelische und körperliche Schäden erlitten. In einem ihrer seltenen "Public Statements" vom 10. Juli 2003 kritisiert das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und anderer menschenunwürdiger Behandlung (CPT) das russische Vorgehen in Tschetschenien. Eine Delegation des CPT habe zwischen dem 23. und 29. Mai 2003 mit einer großen Anzahl Personen unabhängig voneinander und an verschiedenen Orten gesprochen, die schwere körperliche Misshandlung durch Sicherheitskräfte bezeugte.

Genozidkonvention Artikel II, §c "vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen":

Durch die systematische Bombardierung von Städten und Dörfern, durch drohende Folter, Vergewaltigung oder Ermordung wurden hunderttausende Einwohner Tschetscheniens zu Flüchtlingen und Vertriebenen. Wahrscheinlich war mindestens die Hälfte, möglicherweise bis zu zwei Dritteln der Bevölkerung Flüchtling. Noch heute leben 50.000 tschetschenische Vertriebene in der Nachbarrepublik Inguschetien und 70.000 sind als Binnenflüchtlinge in Tschetschenien selbst auf Hilfe angewiesen. Die Umstände der Massenflucht und Massenvertreibung, besonders im Winter 1999/2000, unter Beschießung, Bombardement, ohne medizinische Versorgung, ausreichende Ernährung und Trinkwasser wird eine unbekannte, aber hohe Zahl von Opfern gefordert haben. Vor allem Alte, Kranke, Behinderte, Schwangere, Kleinkinder und Säuglinge haben unter diesen Bedingungen geringere Überlebenschancen.

Die systematische Behinderung humanitärer Hilfe und internationaler Beobachter hat diese Situation immer wieder dramatisch verschärft. Die gezielte Zerstörung der Stadt Grosny, die Unterbrechung der landwirtschaftlichen und industriellen Produktion, die Zerstörung von Wasser- und Elektrizitätswerken und -leitungen, die Beschießung von Ölquellen und "pipelines, haben der tschetschenischen Bevölkerung Lebensbedingungen auferlegt, denen viele körperlich nicht gewachsen sind. Durch die Behinderung humanitärer Hilfe für Flüchtlingslager sind dort Krankheiten, u.a. Tuberkulose, ausgebrochen, die viele Opfer gefordert haben. Durch den Krieg und die weitgehende Zerstörung der Ölförderanlagen bzw. "wilde" Ölförderung verseucht Erdöl das Grundwasser. Weite Teile des Landes haben sich in ein ökologisches Katastrophengebiet verwandelt. Wie der Sekretär des tschetschenischen Sicherheitsrates, Rudnik Dudajew, am 7. August 2004 gegenüber der Nachrichtenagentur Itar Tass berichtete, zeigen die Krankheitsstatistiken deutlich die verheerenden Folgen des andauernden Krieges: Tuberkulose, Viruserkrankungen und besonders Hepatits-A haben ebenso wie Krebserkrankungen bedrohlich zugenommen. Laut Dudajew haben die Schwermetallrückstände im Grundwasser vieler Städte längst das zumutbare Maß überschritten. Und da es seit Jahren keine öffentliche Müllentsorgung mehr gibt, entstünden besonders in den Städten wilde Müllkippen, die das Grundwasser verseuchten und Ungeziefer anlockten.

Bilanz des Völkermords

Seit Herbst 1999 ist Krieg in Tschetschenien. Die russische Führung hat von Anfang an versucht, den Informationsfluss aus Tschetschenien so zu kanalisieren, dass nur Regierungsnachrichten veröffentlicht wurden. Internationalen Beobachtern, wie unabhängigen Journalisten, der OSZE, UN-Sonderberichterstattern und Menschenrechtlern wird der Zugang zum Kriegsgebiet weiterhin versperrt. Untersuchungen zur Ermittlung genauer Opferzahlen werden so genauso verhindert wie Dokumentationen einzelner schwerer Verbrechen. Nur Schätzungen und die Addition der Opfer bekannt gewordener Massaker und Einzeltötungen können daher die Grundlage für annähernde Angaben über die Zahl der Toten sein. Nach der "heißen" Phase des Krieges Ende 2000 schätzte die GfbV die Zahl auf 80.000 Tote. Danach sind jedes Jahr mindestens mehrere hundert bis mehrere tausend Opfer dazu gekommen. 2003 wurden nach offiziellen Angaben der pro-russischen tschetschenischen Regierung 537 Einwohner Tschetscheniens getötet, 597 verschleppt und 127 verschwanden spurlos. Im Jahr 2004 suchen monatlich durchschnittlich 25 Patienten mit Minen- oder Schußverletzungen ein einziges Krankenhaus in Grosny auf. Im ersten Halbjahr 2004 wurden nach Berichten der Organisation Memorial auf circa einem Drittel des tschetschenischen Gebietes 141 Personen getötet, darunter 67 Zivilisten, 32 Mitarbeiter der pro-russischen Sicherheitsdienste, vier Repräsentanten der tschetschenischen Verwaltung und 14 mutmaßliche tschetschenische Kämpfer. Die Leichen der restlichen 24 sind noch nicht identifiziert. 194 Personen wurden seit Januar in Tschetschenien verschleppt. 15 von ihnen wurden tot gefunden, 97 kamen frei, der Aufenthaltsort der restlichen 82 bleibt unbekannt.

Seit 1999 sind in Tschetschenien nach Angaben der russischen Soldatenmütter mindestens 13.000 russische Soldaten ums Leben gekommen.

2. Aktuelle menschenrechtliche Lage in Tschetschenien

In Europa und der OSZE gibt es kein anderes Gebiet, in dem die Menschenrechte in den letzten Jahren so massiv verletzt werden, wie in Tschetschenien. Gerade im Spätsommer und Herbst nehmen die Kampfhandlungen und die darauf folgenden Menschenrechtsverletzungen erfahrungsgemäß wieder zu. Am 6. August meldeten Nachrichtenagenturen beispielsweise, dass in den vergangenen 24 Stunden in 18 Angriffen der tschetschenischen Kämpfer mindestens sechs russische Soldaten getötet und 12 verletzt worden seien. Danach seien mindestens 150 Personen wegen des Verdachts, an den Übergriffen beteiligt gewesen zu sein, festgenommen worden. Praktisch jeden Tag führten Sicherheitskräfte "Säuberungen" durch.

Dabei würden nach wie vor Dutzende insbesondere junge Männer verschleppt, die daraufhin verschwänden. Üblicherweise wird ihnen vorgeworfen, zu den Kämpfern bzw. zu bewaffneten Banden zu gehören. Am 16.8. meldet die tschetschenische Journalistenvereinigung "SNO", die Situation in Tschetschenien habe sich massiv verschlechtert. Zusammenstöße zwischen russischen Einheiten und tschetschenischen Kämpfern hätten zugenommen. Am Morgen des 17. August wurde eine so genannte Sicherheitsoperation im Lenin Bezirk der Hauptstadt Grosny durchgeführt. Dabei blockierten russische OMON und tschetschenische Spezialeinheiten der Polizei Straßen und kontrollierten alle Passanten. Zwei junge Männer wurden verhaftet. Alle Kräfte des tschetschenischen Innenministeriums wurden in ihre Baracken gebracht, zusätzliche Polizeikräfte partroullieren auf den Straßen der tschetschenischen Dörfer und Städte. Eine tschetschenische Menschenrechtsorganisation meldet am 19.8.2004, dass Bewohner der Hauptstadt Grosny verlassen würden, um in anderen Teilen der Republik zu leben. Sie hätten Angst vor einer groß angelegten Militäraktion in Grosny. Am Wochenende vor den Präsidentschaftswahlen am 29.8. hatten etwa 300 Kämpfer Polizeistationen und Wahllokale beschossen, dabei kamen mehr als 80 Personen ums Leben. Vor den Präsidentschaftswahlen am 29. August wurden die Sicherheitsmaßnahmen wiederum verstärkt. Am Wahltag dann sprengte sich ein Mann vor einem der Wahllokale in Grosny in die Luft. Ansonsten sorgte ein massives Polizeiaufgebot für Ruhe.

3. Verfolgung von Menschenrechtsverteidigern

Am 12. Juli 2004 wurde im Büro der "Gesellschaft für Russisch-Tschetschenische Freundschaft" von Geheimdienstmitarbeitern eine Razzia durchgeführt. Über 40 Polizisten drangen gegen 6:30 Uhr in das Büro der Organisation ein. Die meisten von ihnen waren maskiert und mit Maschinengewehren bewaffnet. Sie konfiszierten sechs Videokassetten, vier Computerdisketten und Akten mit Aussagen von Überlebenden russischer Verbrechen. Als Imran Eschiev, der Leiter der Organisation, den Polizisten vorhielt, sie hätten keinen Durchsuchungsbefehl und würden sich illegal im Büro aufhalten, schrie ihn ein Polizist an: "Es ist illegal, dass du geboren wurdest. Es ist illegal, dass du ein Tschetschene bist. Sei unbesorgt, wir werden auf jeden Fall etwas Kriminelles gegen dich finden."

Seit dieser Razzia werden Mitarbeiter und ihre Familienangehörige ständig von Behörden und Polizei schikaniert, provoziert und verängstigt, die Arbeit seiner Organisation werde blokkiert, berichtete Imran Eschiev.

Die "Gesellschaft für Russisch-Tschetschenische Freundschaft" hat als eine der größeren tschetschenischen Menschenrechtsorganisationen immer mutig und offen die russische Politik in Tschetschenien kritisiert. Sie kümmert sich besonders um die in Inguschetien verbliebenen tschetschenischen Flüchtlinge. Der Leiter und Gründer der Organisation, Imran Eschiev, ist schon 18 Mal festgenommen und gefoltert worden.

Aber auch andere Menschenrechtsverteidiger werden bedroht und schikaniert. Gegen Lipkan Basajewa, Leiterin des Büros der Organisation Memorial in Nasran, wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Immer wieder wurde ihr Haus in Grosny durchsucht, ihre Neffen und andere männliche Verwandte kontrolliert und bedrängt.

Der russische Präsident Putin ergreift jedoch auch Maßnahmen anderer Art, um die Kontrolle über Nichtregierungsorganisationen zu verstärken. Am 22. Juli 2004 kommentiert die Zeitung "The Moscow Times" Gesetzesvorschläge, die in einem Steuerreformpaket untergebracht sind und es für ausländische Spender und Stiftungen deutlich erschweren würden, russische Organisationen zu unterstützen. Jede Überweisung müsste vom Ausland aus bei einer Regierungskommission registriert werden. Wenn dies nicht passiert, muss die Empfängerorganisation 24% der Geldspende als Steuer abführen. Aber auch russische Organisationen, die in ihrer Heimat Projekte durch Spenden unterstützen wollen, müssen auf einer Regierungsliste der Organisationen zu finden sein, die offiziell eine Spendenerlaubnis haben. Immer wieder hatte die russische Regierung den Nichtregierungsorganisationen vorgeworfen, sie ließen sich durch ausländische Organisationen sowohl finanzieren als auch manipulieren, sie interessierten sich nur für Geld und seien deshalb unglaubwürdig.

4. Krieg unter Ausschluss der Öffentlichkeit

Die russische Staatsführung behindert seit Jahren eine unabhängige Berichterstattung aus dem tschetschenischen Kriegsgebiet. Weder russische noch ausländische Journalisten dürfen ohne offizielle Genehmigung aus Moskau nach Tschetschenien reisen. Wer sich im Konfliktgebiet vor der Präsidentenwahl jenseits der Kreml-Propaganda informieren wollte, war auf illegal vertriebene Zeitungen wie "Itschkerija" angewiesen.

Denn nach Drohungen gegen den Chefredakteur Timur Aliev musste die letzte kritische tschetschenische Zeitung, die in einer Auflage von 3.000 Exemplaren gedruckte Wochenzeitung "Tschetschenische Gesellschaft" (Tschetschenskoe Obschestvo), ihr Erscheinen einstellen.

Aliev ist Anfang August ins Innenministerium von Nasran, der Hauptstadt der Russischen Teilrepublik Inguschetien, geladen und beschuldigt worden, seine Zeitung sei "regierungsfeindlich". Später wurde auch der Geschäftsführer seiner Druckerei vorgeladen und unter Druck gesetzt, nicht mehr für Aliev zu arbeiten. Dieser hat ihm dann dringend empfohlen, die Zeitung mit ihren kritischen Berichten und Dokumentationen über Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien einzustellen. Aliev macht sich wenig Hoffnung, im Nordkaukasus eine andere Druckerei zu finden, die bereit zur Zusammenarbeit wäre. Mehrere internationale und russische Menschenrechtsorganisationen sowie Journalistenverbände haben gegen diese Maßnahmen gegen die "Tschetschenische Gesellschaft" protestiert, bislang ohne Erfolg.

Denn kurz vor den Präsidentschaftswahlen in Tschetschenien sollen die letzten Kritiker des Kreml und der korrupten tschetschenischen Politiker zum Schweigen gebracht werden. Seit dem 25. August wurde es den russischen und inguschetischen Sicherheitskräften ermöglicht, alle Internetkanäle in Inguschetien zu kontrollieren. Etliche Internetcafés in der nordkaukasischen Republik wurden geschlossen.

Immer wieder geraten auch russische Journalisten, die sich mit dem Thema Tschetschenien beschäftigen, unter Druck in einer streng kontrollierten Medienlandschaft. Auf der Rangliste der Organisation "Reporter ohne Grenzen" zur Presse- und Meinungsfreiheit 2003 nimmt Russland den 148. von 166 Plätzen ein, nur noch gefolgt von Ländern wie Saudi Arabien, Buthan, Nord Korea und Usbekistan. Die Organisation nennt den russischen Präsidenten Putin einen "Feind der Pressefreiheit".

Mittlerweile hat der Kreml alle überregionalen Kanäle unter seine Kontrolle gebracht, Kritik an der Regierung kommt nicht mehr auf den Bildschirm. Ein Großteil der russischen Bürger hat keinen Zugang zu alternativen Informationen. Nach den Aussagen einer Journalistin der Nowaja Gaseta, die sich in ein entlegenes Dorf zurückzog und dort nur noch den staatlich kontrollierten Sender RTR sehen konnte, muss der Eindruck entstehen, alles sei gut und werde noch besser. Sie habe viel Putin gesehen und keine Nachrichten über die Demonstrationen gegen die neuen Sozialreformen vom August.

Nachdem vor drei Jahren der letzte kritische Sender NTW schließen musste, hat nun der Nachfolgekanal auch die Sendung "Freiheit des Wortes" (Swoboda Slowa) aus dem Programm genommen, wo es unter Leitung des populären Journalisten Sawik Schuster zu lebhaften Diskussionen gekommen war. Diese wöchentlich ausgestrahlte Polit-Live Talkshow musste nach dem Willen des Programmdirektors trotz guter Einschaltquoten weichen, weil er mehr Unterhaltung bringen wollte.

Journalisten sind auch physisch in der Russischen Föderation gefährdet. Pail Pelojan, der als Redakteur für die russischsprachige Kunstzeitschrift "Armjanski Pereulok" gearbeitet hatte, ist am 19. Juli neben einer Schnellstraße in Moskau tot aufgefunden worden. Pelojan hatte Stichwunden an der Brust und Verletzungen im Gesicht. Es wird davon ausgegangen, dass der Mord an dem Journalisten etwas mit seinem Beruf zu tun hatte.

Bereits am 9. Juli hatten Unbekannte den Chefredakteur der russischen Ausgabe des Wirtschaftsmagazins "Forbes", Pawel Chlebnikow, in Moskau auf offener Straße erschossen. Das in den Vereinigten Staaten ansässige Komitee zum Schutz von Journalisten hat Russlands Präsidenten daraufhin schon damals aufgerufen, etwas gegen das herrschenden "Klima der Gesetzlosigkeit" zu unternehmen.

5. Lage der Flüchtlinge in Inguschetien

Obwohl nach dem Angriff tschetschenischer und inguschetischer Kämpfer auf Inguschetien und den darauf folgenden Polizei- und Geheimdienstmaßnahmen etliche tschetschenische Flüchtlinge aus Inguschetien geflohen sind, halten sich in der Kaukasusrepublik noch mindestens 46.677 Vertriebene auf, teilte die inguschetische Migrationsbehörde mit. Über 32.000 von ihnen seien in Wohnungen untergekommen, der Rest jedoch lebe in Behelfsunterkünften. Der Dänische Flüchtlingsrat, der die Flüchtlinge in Inguschetien von Beginn an betreut und versorgt hat, nennt für August 2004 die Zahl von 48.250 tschetschenischen Vertriebenen in Inguschetien.

Am Morgen des 6. Juli wurden in Karabulak, Inguschetien sechs junge Männer verschleppt: Zaur Muzolgow (geb. 1981), Majrbek Gaparchoew (geb. 1984), Alischan Pugoew (geb. 1978), Adam (geb. 1974), Magomed (geb. 1978) und Abubakar Barkinchiew Aushewich.

Zwei Personen wurden bei einer Razzia durch russische Soldaten am 7. Juli in Arschti, Inguschetien verhaftet: Ramzan Tschimaew (geb. 1960), ein Flüchtling aus Grosny und Salawdi Sadulaew, ein Flüchtling aus Katyr-Jurt, Tschetschenien.

Am 20. Juli wurde in dem Dorf Galaschki in Inguschetien Beslan Arapchanow (geb. 1966) von russischen Soldaten getötet. Möglicherweise wurde er Opfer einer Verwechslung.

Am 20. Juli wurden zwei Brüder im Dorf Barsuki in der Nähe von Nasran verhaftet: Bashir und Bechan Velchiew. Durch Gewalteinwirkung während der Haft starb Bashir Velchiew. Bechan, der durch Schläge und Folter schwer verletzt wurde, kam am nächsten Tag frei.

Am 26. Juni 2004 wurde Bechan Lolochoew (24) aus dem Dorf Ekashewo, Inguschetien verschleppt und zwei Wochen lang festgehalten. Während der Haft war der junge Mann gefoltert worden: er wurde getreten, mit Stöcken geschlagen, Elektrokabel wurden an seiner Nase, an den Ohren, Genitalien, der Zunge angebracht und er wurde mit Elektroschocks gefoltert. Es wurde ihm mit dem Tod gedroht, sollte er sich nicht eines Verbrechens für schuldig bekennen, für das er drei bis vier Jahre ins Gefängnis käme. Seine gesamte Familie würde umgebracht, dann gäbe es niemanden mehr, der sich für ihn einsetzen würde. Die ersten fünf Tage bekam er weder zu essen noch zu trinken, danach bekam er jeden zweiten Tag Brot und Wasser. Am 10. Juli wurde er frei gelassen, davor wurde ihm gedroht, sollte er irgendjemandem sagen, was mit ihm geschehen war, würde er getötet. Mitarbeiter von Memorial sprachen mit dem jungen Mann und können bestätigen, dass sein Körper von Folterspuren gezeichnet war.

Die Flüchtlinge werden jedoch zunehmend Opfer von Menschenrechtsverletzungen. Am 27. Juli gegen 9 Uhr sind 50 maskierte Mitarbeiter der Sicherheitskräfte in 20 Fahrzeugen zum "Kristall" Flüchtlingslager in Nasran gefahren und haben alle Männer aufgefordert, nach draußen zu kommen. Dabei haben sie ihnen gedroht und gerufen, alle Flüchtlinge sollten erschossen werden. Aslambek Merzoev, Said-Emin Tasoujew, Achmed Mamtsuew, Islam Daudow und Adam Gantemirow wurden verhaftet, zur Polizeiwache gebracht, kurze Zeit später jedoch wieder auf freien Fuß gesetzt.

Am 3. August wurde Adam Parchiew (geb. 1974) aus seinem Haus in Nasran entführt. Etwa 15 Bewaffnete sowohl in Tarnanzügen als auch in Zivil stürmten das Haus der Parchiews und riefen: "Adam, komm raus!". Als Parchiew aus dem Haus trat, wurde er sofort festgehalten und ohne weitere Erklärungen in einen Wagen gezwungen. Er wurde zu den inguschetischen Innenbehörden gebracht. Drei Tage nach der Verhaftung wurde den Verwandten mitgeteilt, Adam sei den russischen (föderalen) Kräften überstellt worden, halte sich aber noch auf dem Territorium Inguschetiens auf. Am 7. August konnte ein Kontakt mit Adams Anwalt hergestellt werden, der berichtete, dass Adam in der Haft schwer gefoltert und geschlagen werde mit dem Ziel, ihn dazu zu bewegen, dass er seine Beteiligung an den Übergriffen auf Inguschetien gestehen sollte.

Am 4. August wurden bei einer Razzia in einer Flüchtlingsunterkunft in Ordschonikidse in Inguschetien sieben Flüchtlinge festgenommen. Sechs von ihnen kamen am 6. August wieder frei. Vom siebten jedoch, dem 42-jährigen Sultan Chatuew, fehlt trotz intensiver Nachforschungen durch seine Angehörigen bislang jede Spur. (sno, 17.8.2004)

Am 10. August gegen 9 Uhr prügelten der Leiter der inguschetischen Migrationsbehörde, Abdul-Khamid Kuzikow, und seine Wachen auf Flüchtlinge im Lager Yandare bei Nasran ein. Dieser Ausbruch ist der Höhepunkt eines längeren Konfliktes. Zwei Familien hatten mehrmals angekündigt, nach Tschetschenien zurück zu wollen, hatten aber keinerlei Transporthilfen bekommen. Vor der Prügelei hatte eine der Flüchtlingsfrauen dann Abdul-Khamid Kuzikow nochmals die Bitte um Bereitstellung eines LKWs vorgetragen. Wieder wurde ihr versichert, der LKW käme. Als am Ende des Tages dann ihr Bruder nochmals anrief, um herauszufinden, wann der Wagen käme, wich Kuzikow aus, beschimpfte den Flüchtling und es folgte ein Wortgefecht. Kurz darauf kamen die Mitarbeiter der Migrationsbehörde in das Lager gefahren und begannen, Mitglieder der genannten Familien mit Gewehrkolben und Fäusten zu verprügeln. (Chechentimes, 11.8.2004)

Am 11. August fand eine "Säuberung" in dem Flüchtlingscamp "MRO" in Ordschonikidse statt, bei dem der Flüchtling Magomed Zhakaew verschleppt wurde. Eigentum von weiteren Flüchtlingen wurde geplündert, drei Vertriebenen wurden ihre Mobiltelefone abgenommen. (Chechentimes, 11.8.2004)

5.1. In der Pankisi-Schlucht, Georgien

Etwa 2.000 tschetschenische Flüchtlinge leben in der Pankisi-Schlucht in Georgien. Russland hat Georgien immer wieder vorgeworfen, dass sich dort tschetschenische Kämpfer verstecken würden bzw. ihr Rückzugsgebiet hätten. Anfang August 2004 klagten Flüchtlinge, sie seien immer wieder von unbekannten Bewaffneten schikaniert worden. Elf Flüchtlinge wurden für mehrere Stunden festgenommen. Deshalb vermuteten die Flüchtlinge, dass die Angreifer in den Reihen des georgischen Sicherheitsdienstes zu suchen seien. Die Sicherheitskräfte hätten versucht, die Flüchtlinge anzuwerben, berichteten sie nach ihrer Freilassung. "Die Situation bleibt angespannt und die Menschen haben Angst. Wir wissen nicht, was wir tun werden, wenn der Druck auf uns noch ansteigt. Die Mehrheit von uns will aber auf keinen Fall nach Tschetschenien zurück", sagte ein Flüchtling gegenüber Journalisten. (Prague Watchdog, 8.8.2004) Gleichzeitig haben etwa 30 Flüchtlingsfamilien aus der Pankisi-Schlucht in Schweden Aufnahme gefunden. Die Flüchtlinge hatten sich in einem Appell an mehrere Länder gewandt, nur Schweden hat jedoch positiv reagiert. Vereinzelt wurden Flüchtlinge aus Pankisi auch in Norwegen aufgenommen. Andere versuchen, die georgische Staatsbürgerschaft zu erwerben, um nicht mehr rechtlos den Sicherheitskräften ausgeliefert zu sein. (Interfax, 18.8.2004)

6. Wahlkampf in Tschetschenien: Tschetschenen haben keine Wahl

Kurz nach dem tödlichen Anschlag auf den damaligen tschetschenischen Präsidenten Achmed Kadyrow am 9. Mai 2004 wurden Neuwahlen für den 29. August 2004 angesetzt. Der russische Präsident Putin entschied sich dafür, den bisherigen Innenminister Alu Alchanow im Wahlkampf zu unterstützen. Durch die Wahl Alchanows wird die dem Kreml gefügige Machtstruktur in der Kaukasusrepublik erhalten bleiben. Der einzige ernst zu nehmende Gegenkandidat Alchanows, Malik Saidullaev, ein Moskauer Geschäftsmann, wurde mit der Begründung ausgeschaltet, in seinem Pass sei als Geburtsort "Alchan-Jurt, Tschetschenien" angegeben, obwohl es zum Zeitpunkt seiner Geburt nur die Autonome Tschetschenisch-Inguschetische Sowjetische Teilrepublik gegeben habe.

Alchanow wurde 1957 in Kasachstan geboren. 1995, nach der Eroberung Grosnys durch russische Truppen, wurde Alchanow stellvertretender Leiter der Eisenbahnpolizei. Ein Jahr später verteidigte er mit einer Polizeieinheit den Bahnhof von Grosny gegen anrückende tschetschenische Kämpfer, musste aber schließlich abziehen. 1997 bis 2000 lebte Alchanow außerhalb Tschetscheniens. Laut einer Umfrage der "Nesawisimaja Gaseta" wird Alchanow nur von drei Prozent der tschetschenischen Bevölkerung unterstützt. Als tschetschenischer Innenminister unter der Kadyrow Regierung ist Alchanow mit verantwortlich für die anhaltenden massiven Menschenrechtsverletzungen und die Korruption in Tschetschenien. Auch das Anwerben ehemaliger Kämpfer für die tschetschenischen Polizei- und Spezialeinheiten, ein Methode der Politik Kadyrows, die zur "Tschetschenisierung" des Krieges beigetragen hat, wurde von Alchanow geduldet. Zudem berichtet die russische Journalistin Anna Politkowskaja nach einem Interview mit dem 27-jährigen Vizepremierminister Ramzan Kadyrow im Juni, alle Entscheidungen würden in Gudermes, dem Hauptquartier des Vize getroffen und nicht in Grosny. Dessen Privatarmee ist wegen der Aktivität ihrer Todesschwadronen und dem Verschwindenlassen etlicher Zivilisten berüchtigt. Auch Malik Saidullaew sagte in einem Interview am Wahltag, die Fäden der Macht in Tschetschenien liefen in Wirklichkeit bei Ramzan Kadyrow zusammen.

Schon vor Wahlkampfbeginn haben namhafte russische Menschenrechtler gefordert, zuerst frei ein neues tschetschenischen Parlament wählen zu lassen, um die Menschen wieder zu vereinen und einen demokratischen Prozess in Gang zu setzen. Wenige Tage vor der Wahl, am 17. August veröffentlichten tschetschenische Politiker, Wissenschaftler und Personen des öffentlichen Lebens einen Brief an den russischen Präsidenten, in dem sie ihm vorwerfen, der Wahlkampf verletzte schwer die Bestimmungen der russischen Gesetzgebung. "Die gesamte Bevölkerung kann sehen, dass alle administrativen Ressourcen eingesetzt werden, um einen bestimmten Kandidaten zu unterstützen", werfen die Autoren Putin vor. Sie machen auf mehrere Missstände aufmerksam. So sei auf die Verwaltungschefs der tschetschenischen Bezirke Druck ausgeübt worden, 60-70% der Stimmen am Wahltag für Alchanow zu sammeln. In 15minütigen Gesprächen seien sie instruiert worden, im Vorhinein seien jedem 10.000 Dollar ausgezahlt worden für das Versprechen, dass Alchanow gewinnen werde. Weitere 30.000 Dollar sollen sie bekommen, wenn Alchanow wirklich tschetschenischer Präsident wird.

Nach Angaben der Moskauer Zeitung "Nowaja Gaseta" vom 23.9.2004 haben alle Kreisverwaltungen bereits die Anweisung erhalten, dass am 29. August mindestens 60 bis 70 Prozent aller Stimmen auf Alchanow entfallen. Anderenfalls drohe den Lokalbeamten die Entlassung. Maskierte Bewaffnete stürmten das Haus des einzigen verbliebenen Alchanow-Rivalen, des ehemaligen Geheimdienst-Offiziers Mowsur Chamidow, und verhafteten dessen Bruder. Auch Chamidows Wahlkampfstab wurde dem Bericht zufolge Ziel einer so genannten "Säuberung".

Wahlergebnisse

Das offizielle Ergebnis der Wahlen lautet, dass bei einer 85%-igen Wahlbeteiligung 73,48 % für Alu Alchanow gestimmt haben. Berichte aus Tschetschenien selbst zeigen, wie die Wahlfälschung vorgenommen wurde: So viele Tschetschenen hätten die Wahl boykottiert oder hätten aus Angst die größeren Städte verlassen, dass die Mindestbeteiligung von 30% weit unterschritten wurde, bezeugten Vertreter der Organisation Memorial. Tatjana Lokschina von der Moskauer Helsinki-Gruppe sagte, sie seien in knapp 20 Wahllokalen gewesen, überall habe es mehr Polizisten als Wähler gegeben. Im Wahllokal 412 in Grosny sagte eine Zeugin, in den ersten drei Stunden nach Wahlbeginn habe sie 50 Wähler gezählt. Offiziell waren fast 700 da gewesen. Im Wahllokal 405 in Grosny zähle ein Korrespondent der unabhängigen Zeitung Kawkasskij Usjol bis Sonntagmittag 10 Wähler von 2.656 in den Wahllisten registrierten. Trotzdem war die Urne mindestens zu einem Viertel gefüllt.

Wie bei der Wahl Kadyrows am 5. Oktober 2003 sollen auch dieses Mal wieder Taschen mit schon ausgefüllten Wahlzetteln in die Wahllokale gebracht worden sein. Unwillige Wähler wurden mit Bussen, organisiert vom Team Alchanows zu den Wahllokalen gefahren. Im Wahllokal 372 im Lenin-Bezirk in Grosny sahen Beobachter eine Stunde nach Wahlbeginn keine Wähler. Der Chef des Wahllokals verkündete jedoch, es hätten bereits 300 Wähler abgestimmt. (Frankfurter Rundschau, 31.8.2004)

Chronik

Die Statistiken der Organisation Memorial ergeben, dass auf einem Drittel des tschetschenischen Territoriums im Juli 2004 19 Personen getötet und 48 verschwunden sind. 16 Personen wurden nach Zahlung einer Kaution freigelassen und 16 weitere verschwanden spurlos. Zusätzlich wurden in Inguschetien zwei Personen getötet. Eine Statistik für August 2004 liegt noch nicht vor. Die folgenden Angaben stützen sich auf Berichte von Memorial und der Dachorganisation tschetschenischer Journalisten "SNO" (www.livechechnya.ru). Sie erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

In der Nacht zum 5. Juli wurden vier Einwohner des Dorfes Nowie Atagi in Tschetschenien von Unbekannten verschleppt. (Memorial, Chronik Juli)

In Sernowodsk wurde am 7.Juli von tschetschenischen OMON-Einheiten der Einwohner Turpalow verhaftet.

Am 8. Juli wurde im Gebiet Samaschki von örtlichen Sicherheitskräften der 21-jährige Abdul-Kerim Machaew erschossen.

Am 10. Juli wurde in Sernowodsk gegen 20:30 Uhr eine Säuberung durchgeführt.

Vier Personen wurden im Rahmen einer "Säuberung" am 10.Juli in Assinowskaja verschleppt: die drei Brüder Inalow und Kazbek Baudinowitsch Vitaew. Die Operation wurde von Mitarbeitern des Geheimdienstes FSB und der Spezialeinheit OMON gemeinsam durchgeführt.

Am 13. Juli erschlugen russische Geheimdienstmitarbeiter den 19-jährigen Jusup Bargaew. Seinen Leichnam nahmen die Täter mit.

In der Nacht zum 21. Juli wurde in dem Dorf Goiti Ruslan Zakriew von unbekannten Bewaffneten in Tarnanzügen verschleppt. Nach Information der Nachbarn kamen die Entführer mitten in der Nacht und verschafften sich gewaltsam Zugang zu der Wohnung von Zakriew.

Am 28. Juli endete eine Auseinandersetzung zwischen russischen Soldaten und tschetschenischen Kämpfern in einer Strafaktion gegen tschetschenische Zivilisten. Nach der Schießerei griffen die russischen Einheiten zwei Wohnhäuser in Argun an. Soldaten drangen in die Gebäude ein, zwangen die Bewohner, sich auf den Fußboden zu legen und bedrohten sie mit Waffen. Einige, auch ältere Bewohner wurden zusammengeschlagen. Khizmat Khizriew wurde in den Fuß geschossen, Ärzten von der nahe gelegenen Kinderklinik wurde verboten, ihm zur Hilfe zu kommen. Danach wurde er in eines der Fahrzeuge der Soldaten gezwungen und Stunden später an Stadtrand ausgesetzt. Nachdem die Soldaten keine Kämpfer in den Wohnhäusern finden konnten, beschossen sie die Gebäude und setzten sie in Brand, während noch Frauen und Kindern in ihnen waren. Feuerwehrleuten, die herbeieilten, wurde der Zugang zu den Wohnhäusern verwehrt. Am Abend waren die Häuser niedergebrannt. Zharman Usmanowa konnte ihre Kinder nur dadurch vor dem Flammentod retten, dass sie sie aus dem Fenster warf und selbst hinter her sprang, wobei sie sich ein Bein brach. Das Militär brannte auch das Haus des 92-jährigen Ramzan Bisultanow nieder, dessen Neffe es gelang, den alten, bettlägerigen Mann aus dem brennenden Haus zu retten. Am 2.8. verstarb der 92-Jährige. Am 30. Juli weigerte sich die Stadtverwaltung in Argun, den durch die Brände obdachlos Gewordenen, neue Wohnungen zuzuteilen. (Gesellschaft für Russisch-Tschetschenische Freundschaft, 2.8.2004)

Am 1. August wurde das Dorf Tschiri-Jurt von Unbekannten angegriffen. Drei Männer wurden verschleppt: Herr Kanujew, dessen Sohn und Ramzan Demelchanow. Die drei Verschleppten arbeiteten in der örtlichen Zementfabrik und eine Verbindung entweder zu den tschetschenischen Kämpfern oder zu den russischen Einheiten ist unklar. (4.8.2004, Prague Watchdog)

Am 2. August morgens wurde die 23-jährige Zaira Magomedowa aus dem Dorf Mikenskaja, Kreis Naursk, von maskierten Bewaffneten, die sagten, sie gehörten dem Sicherheitsdienst des Präsidenten an, aus ihrem Elternhaus verschleppt. Ihr Bruder, der versuchte, Zaira den Bewaffneten zu entreißen, wurde brutal zusammengeschlagen. Bis zum 31. August blieb die Suche nach der jungen Frau erfolglos.

In der Nacht vom 11. auf den 12. August wurde der Zivilist Dschayruddin Naschujew aus dem Dorf Paraboch verschleppt. Vier maskierte Bewaffnete fuhren in zwei Wägen ohne Nummernschilder nachts in das Dorf. Sie schlugen die Tür zum Wohnhaus von Naschujew ein, schleiften ihn selbst auf die Straße und zwangen ihn in eines der Autos, um dann mit unbekanntem Ziel abzufahren. (Caucasian Knot News, 12.8.2004)

Am 11. August starben vier junge Männer auf der Trasse "Kavkaz" in der Nähe von Assinowskaja in Tschetschenien. Unbekannte in Masken schossen mit Maschinenpistolen auf einen Wagen, in dem die vier Opfer saßen und fuhren danach davon. Wer die Insassen des Autos waren und warum sie ermordet worden sind, ist unbekannt. (SNO, 15.8.2004)

Zwei männliche Leichen wurden am 11. August in Serschen-Jurt an einer heiligen Stätte, die Umal-Scheich geweiht ist, von Dorfbewohnern entdeckt. Die Leichen konnten bislang noch nicht identifiziert werden, es wird jedoch angenommen, dass die Männer zwischen 20 und 25 Jahre alt waren. Ihre Leichname zeigten Spuren von Folter, bei beiden waren Arme und Beine gebrochen, die Arme waren mit Draht umfesselt. (11.8.2004, Chechen Times)

Am 11. August wurden zwei Männer aus ihren Wohnungen entführt. Vier maskierte Unbekannte brachen in die Wohnung von Jairudin Nazhujew in der Terskaja Straße des tschetschenischen Dorfes Paraboch ein. In Grosny wurde Ismail Dakhajew aus seiner Wohnung entführt. In beiden Fällen gab die Polizei an, keine Informationen über diese Verschleppungen zu haben. (yahoo newsletter, 12.8.2004)

Am 14. August wurde in Beti-Mochk, Region Noschaj-Jurt, ein Einwohner von lokalen Sicherheitskräften festgenommen. Dies berichten Nachbarn. Der Name und die genauen Umstände der Festnahme sowie der augenblickliche Aufenthaltsort des Verschleppten, sind unbekannt. (SNO, 15.8.2004)

Am 16. August wurde im Rahmen einer "Säuberung" durch lokale Einheiten in der Stadt Goragorsk, Region Nadterechnoe, ein 20-25 Jahre alter Mann festgenommen. Der Name ist noch unbekannt. (SNO, 17.8.2004)

In der Nacht zum 16. August wurde die Bergregion in unmittelbarer Nähe der Orte Za-Wedenno, Tevzeni und Chattuni aus der Luft beschossen. Der Angriff dauerte- wie schon vorausgegangene Angriffe- einige Stunden und wurde dann gegen Morgen abgebrochen. Die Bewohner der genannten Dörfer verbrachten die Nacht in ihren Kellern. (SNO, 17.8.2004)

Am 16. August führten russische Soldaten im Ort Baschi-Jurt eine "Säuberung" durch. Nach Augenzeugenberichten wurde dabei ein 25-30-Jähriger verhaftet. Die Gründe für seine Verhaftung sowie sein Name sind noch unbekannt. (SNO, 18.8.2004)

Am 17. August sperrten russische Einheiten die Durchfahrtstrasse Pervomajskaja weiträumig ab und kontrollierte alle Fahrzeuge und Fußgänger. Es liegen noch keine Informationen über Festnahmen vor. (SNO, 18.8.2004)

Am 17. August wurde in Grosny der 41-jährige Elbek Achaew während einer Razzia durch russische Soldaten im Stadtteil Oktjabrskoje verschleppt. Die Gründe für seine Verhaftung und sein derzeitiger Aufenthaltsort sind unbekannt. (SNO, 19.8.2004)

Am 18. August führten russische Soldaten in Serschen-Jurt eine "Säuberung" durch. Nach Augenzeugenberichten wurden dabei zwei junge Männer, Iles Soltamuradow und Ruslan Chupirchanow verhaftet. Ihr weiteres Schicksal ist unbekannt.

Am 20. August abends wurden von Unbekannten in der Gurina Straße in Grosny zwei tschetschenische Mitarbeiter der Sicherheitskräfte erschossen: Salaudi Chadschimuradow und Musa Israilow.

In der Nacht vom 21. auf den 22. August haben tschetschenische Bewaffnete ein Polizeipräsidium und mehrere Abstimmungslokale im Zentrum der Hauptstadt Grosny überfallen. Bei schweren Kämpfen kamen mehr als 50 Angehörige der Sicherheitskräfte um, über 30 wurden zum Teil schwer verletzt. Auch mehrere Zivilisten wurden erschossen.

Am 21. August wurden zwei junge Männer im Rahmen einer so genannten Spezialoperation in Roschni-Tschu verhaftet. Angeblich sollen sie im Besitz von Waffen gewesen sein.

Am 25. August führten tschetschenische Sicherheitskräfte eine so genannte Säuberung in Sernowodsk durch. Dabei wurde der 24-jährige Solsbek Gelagaev verschleppt. Der Grund für seine willkürliche Verhaftung ist unbekannt. Nach unbestätigten Angaben wird er in einer Einrichtung der Sicherheitsorgane der Region Sunscha festgehalten.

Bei einer "Säuberung" am 26. August in Gudermes wurde Ruslan Dschabrailow von russischen Soldaten erschlagen.

Bewohner der Bergregion berichten, dass in der Nacht auf den 27. August die Kreise Noschaj-Jurt und Vedenno mindestens 30 Minuten lang bombardiert wurden. Berichte über Opfer unter der Zivilbevölkerung liegen nicht vor.