07.04.2010

Katastrophale Situation der Zivilbevölkerung in Somalia: Etwa 42 Prozent brauchen dringend humanitäre Hilfe!

WRITTEN STATEMENT Somalia

Mehr als eine halbe Million Somalis sind nach Übersee geflohen. Weitere 1,5 Millionen Menschen wurden innerhalb Somalias vertrieben, die meisten von ihnen in der unbeständigen südzentralen Region. Etwa 42 Prozent der Bevölkerung, geschätzte 3,2 Millionen Menschen, brauchen dringend humanitäre Hilfe, eins von fünf Kindern ist akut unterernährt und weniger als 100.000 der intern vertriebenen Kinder des Landes besuchen die Grundschule. Viele Frauen und Mädchen leiden unter sexueller Ausbeutung, Missbrauch und geschlechtsspezifischer Gewalt.

 

Die Notlage der intern Vertriebenen

2009 sind mindestens 800.000 Menschen vor der Gewalt in Somalia geflohen; 120.000 von ihnen suchten Zuflucht in Nachbarstaaten. Im Januar 2010 eskalierte die Gewalt weiter, vor allem rund um die Hauptstadt Mogadischu. Etwa 82.000 Zivilisten wurden aus ihren Häusern vertrieben und rund 258 Zivilisten durch schwere Kämpfe getötet. Laut der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF, Médecins Sans Frontières) wurden im Januar 2010 als Folge des heftigen Beschusses der Wohngebiete in Mogadischu 89 Menschen (darunter 42 Frauen und Kinder) ins Krankenhaus eingeliefert. Der wahllose Beschuss mit schwerer Artillerie von Märkten und Wohngebieten der Hauptstadt stellt ein Kriegsverbrechen dar. Glaubwürdige Zeugen berichteten, dass sich sogar AMISOM, die Mission der Afrikanischen Union in Somalia, an dem Beschuss ziviler Gebiete Mogadischus beteiligt habe.

 

Katastrophale humanitäre Situation

Somalia steht der schlimmsten humanitären Krise seit 18 Jahren gegenüber. Die humanitäre Situation verschärft sich zunehmend aufgrund steigender Unsicherheit, der Verschlechterung der Lebensbedingungen, Kämpfen zwischen den Stämmen, der Vertreibung der Bevölkerung, Krankheiten und Nahrungsmittelunsicherheit. Konflikte und zunehmende Angriffe auf humanitäre Organisationen führten zu der Aussetzung von Lebensmittelhilfen sowie begrenztem humanitären Zugang zu von den Konflikten betroffenen Menschen. Im März 2009 empfing Al Shabaab offiziell internationale Hilfsorganisation in von ihr kontrollierten Regionen, doch im Juli 2009 kündigten die Milizen den Aufbau eines Büros an, das die Aktivitäten der NGOs und der Auslandsvertretungen überwachen solle. Zusätzlich haben sie die Arbeit der drei UN-Organisationen UN-Entwicklungsprogramm (UNDP), UN-Abteilung Sicherheit (UNDSS) und das Politische UN-Amt für Somalia (UNPOS) verboten. Im November 2009 erstellten militante Al Shabaab-Gruppen im Zentralstaat eine Liste mit elf Regeln, die NGOs erfüllen müssen. Die Liste beinhaltete nicht nur ein Verbot von Alkohol und Filmen, sondern auch eine Anmeldegebühr von 20.000 US-Dollar, die zwei Mal pro Jahr gezahlt werden muss.

Im Februar 2010 stürmten somalische Rebellen der Al Shabaab und Hezb Al-Islam die Büros der internationalen Hilfsorganisationen in der unruhigen westlichen Stadt Beledweyn. Dutzende schwerbewaffnete Militante drangen in die Büros des Safe the Children Funds und der UN Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein und erbeuteten Waffen von den Sicherheitskräften sowie Computer. Kurzfristig nahmen sie auch Mitarbeiter gefangen, ließen diese aber später wieder frei. Am 17. Dezember 2009 stürmten schwerbewaffnete Al Shabaab-Kämpfer drei Lager der UN-Minenbekämpfungsstelle (UNMAS) in Baidoa. Sie stahlen Computer und Ausrüstung. Die Milizen plünderten routinemäßig humanitäre Büros in den von ihnen kontrollierten Regionen und beschuldigten ausländische Hilfsorganisationen der Spionage sowie der Unterstützung der föderalen Übergangsregierung.

Am 5. Januar 2010 kündigte das UN-Welternährungsprogramm (WFP) an, sechs Büros in Südsomalia aufgrund der eskalierenden Unsicherheit, wegen Angriffen auf Hilfsarbeiter, Entführung humanitärer Mitarbeiter und inakzeptabler Forderungen bewaffneter Gruppen zu schließen. 2009 kamen in Somalia zehn Hilfsmitarbeiter durch Angriffe oder Entführungen ums Leben. Der jüngste Todesfall ereignete sich am 16. Januar 2010, als man den Körper eines entführten Mitarbeiters einer lokalen NGO in Mogadischu entdeckte. Seit 2009 wurden mehr als ein Dutzend Mitarbeiter humanitärer NGOs entführt. Infolge dieser Gewalt waren einige Hilfsorganisationen gezwungen, Programme auszusetzen und Mitarbeiter abzuberufen. Die Einschränkungen der Freiheit humanitärer Organisationen, Soforthilfe zu leisten, tragen zu den weit verbreiteten Problemen der Unterernährung und des Hungertods bei.

 

Missbrauchsfälle von Kindersoldaten

Die Notlage der Binnenflüchtlinge, die humanitäre Krise und die zunehmende Armut erleichtern die Rekrutierung von Kindersoldaten durch Milizen sowie die reguläre Armee. Vor allem in Flüchtlingslagern in Kenia und dem Jemen, aber auch in Süditalien und Europa, meldeten junge Somalis eine steigende Anzahl an Missbrauchsfällen gegenüber Kindersoldaten durch alle Konfliktparteien. UNICEF schätzt, dass es in Somalia tausende Kindersoldaten gibt. Aus diesem Grund war es eine ermutigende Initiative, dass der Präsident der somalischen Übergangsregierung, Sheikh Sharif Sheikh Ahmed, am 20. November 2009 den Sicherheitskräften die Rekrutierung von Kindersoldaten verbat. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob diese Anordnung von den staatlich kontrollierten Sicherheitskräften auch umgesetzt wird

 

Menschenrechte und die Scharia

Die strikte Anwendung der muslimischen Scharia in Gebieten, die von Al Shabaab und anderen islamischen Gruppen kontrolliert werden, hat viele Bedenken über die Achtung grundlegender Menschenrechte aufgeworfen. Am 6. November 2009 wurde ein Mann wegen Ehebruchs zu Tode gesteinigt. Der 33jährige Abas Hussein Abdirahman wurde in dem Dorf Merka vor einer Menge von etwa 300 Menschen getötet. Seine schwangere Freundin wurde vorübergehend verschont, bis sie entbindet. Dies war der dritte Tod durch Steinigung wegen Ehebruchs im Jahr 2009. Nur wenige Tage später, am 17. November, wurde eine 20jährige geschiedene Frau, die des Ehebruchs beschuldigt worden war, vor 200 Menschen zu Tode gesteinigt. Ihrem Freund, einem unverheirateten 29 Jahre altem Mann, gab man 100 Peitschenhiebe. Laut Al Shabaabs Auslegung der Scharia muss jeder, der einmal verheiratet war und des Ehebruchs für schuldig befunden wurde, mit dem Tod durch Steinigung bestraft werden.

Im Oktober 2009 wurden hunderte Menschen gezwungen, der Hinrichtung zweier Menschen für Spionage durch islamische Militante zuzuschauen. Die Militanten befahlen Schulen in dem Dorf Merka zu schließen und patrouillierten das Dorf mit Lautsprechern, wobei sie alle aufforderten, der Hinrichtung beizuwohnen. Die meisten Zuschauer waren Kinder und Frauen.

Am 15. Januar 2009 richtete eine islamische Miliz den somalischen Politiker Abdirahman Ahmed in dem Dorf Kismayo hin. Er war der Abtrünnigkeit und Spionage der äthiopischen Armee während ihres bewaffneten Einsatzes in Somalia beschuldigt worden. Vier jungen Männern, die durch ein inoffizielles Al Shabaab-Gericht ohne ordentliches Gerichtsverfahren wegen Raubes verurteilt worden waren, wurden im Juli 2009 vor einer Menge Einheimischer in Mogadischu die rechten Hände und linken Beine amputiert. Bestrafungen dieser Art sind durch internationales humanitäres Recht verboten.

Die Anwendung der Scharia und die Menschenrechtssituation variieren sehr stark, selbst in Regionen, die von Al Shabaab kontrolliert werden. In einigen Gebieten fordern islamische Befehlshaber Schulen dazu auf, keine "un-islamischen" Textbücher, die von den UN verteilt worden waren, mehr zu verwenden. In anderen Regionen kündigten Befehlshaber an, dass alle männlichen Einwohner sich Bärte wachsen lassen, Schnurrbärte abrasieren und ihre Hosen bis über die Knöchel kürzen müssen. In einigen Dörfern gab es Anweisungen, dass alle Unternehmen während der Gebetszeiten schließen müssen. In Mogadischu peitschten islamische Militante Frauen öffentlich für das Tragen von Büstenhaltern aus.

Viele Somalis verfolgen die Zerstörung nicht-anerkannter religiöser Stätten von Sufi-Muslimen in der Region Kismayo mit großer Sorge. Einige Moscheen und Gräber von angesehenen religiösen Führern wurden von Al Shabaab-Kämpfern, die einer strengeren Wahhabi-Auslegung des Islams folgen, vorsätzlich entweiht.

 

Straflosigkeit

Hinsichtlich aller Vergehen, die von äthiopischen Soldaten während ihres militärischen Eingriffs in Somalia (Dezember 2006 bis Januar 2009) begangen wurden, überwiegt Straflosigkeit. Darüber hinaus wurde nie ein Mitarbeiter der staatlichen Sicherheitskräfte für die Einschüchterung, Folterung und Ermordung von Menschenrechtsverteidigern, Mitarbeitern von NGOs und Journalisten zur Rechenschaft gezogen.

 

Einschüchterung von Journalisten

Der Verband somalischer Journalisten (NUSOJ) betonte seine tiefe Sorge wegen der Gewalt gegenüber und Einschüchterung von Journalisten durch aufständische Milizen und staatliche Sicherheitskräfte. NUSOJ beschrieb die letzten Jahre als ein Symbol für Dunkelheit, Tod, Vertreibung, Inhaftierung und Gewalt gegen Journalisten. Insgesamt neun Journalisten wurden getötet, was Somalia zu einem der gefährlichsten Orte für Journalisten in Afrika macht. Zwölf Journalisten wurden bei Angriffen verwundet und 15 weitere wurden bei systematischen, gut koordinierten Übergriffen auf freie Medienkanäle in Somalia inhaftiert. Rund 100 weitere Journalisten erhielten Todesdrohungen.

Die Gesellschaft für bedrohte Völker ruft den UN-Menschenrechtsrat dazu auf, alle Konfliktparteien in Somalia dazu anzutreiben:

>li>freien und ungehinderten Zugang für nationale und internationale humanitäre Organisationen zu allen Zivilisten sicher zu stellen.

>li>humanitäre Schutzzonen, die Zivilisten Zuflucht vor bewaffnetem Kampf bieten, einzurichten.

>li>die Einhaltung des humanitären Völkerrechts sicherzustellen, besonders im Hinblick auf den Schutz der Zivilbevölkerung.

>li>grundlegende Menschenrechte zu garantieren und vor allem Einschüchterung, Folter und Mord von Menschenrechtsverteidigern und Journalisten zu beenden.

>li>sofort den wahllosen Beschuss von Wohngebieten in Konfliktzonen zu beenden.

>li>den Missbrauch von Kindersoldaten zu stoppen.

>li>Straflosigkeit zu beenden.