25.08.2006

Kanada: Erdöl kann man nicht essen

Die Deh Cho First Nation in den Nord West Territorien und das Mackenzie Valley Gaspipeline Project

aus: bedrohte völker_pogrom 237, 3/2006
Das größte Industrialisierungsprojekt, das im Norden Kanadas jemals geplant wurde, erlebt derzeit seine Wiederauferstehung. Das nach derzeitigem Planungsstand sieben Milliarden kanadische Dollar umfassende Mackenzie Gaspipeline Projekt (MGP) soll drei Gasfelder im Norden der Nordwestterritorien (NWT) mit dem Norden der Provinz Alberta verbinden. Dort soll das Erdgas nicht etwa als relativ saubere Energie direkt verbraucht oder in die USA exportiert werden, sondern es soll weitgehend in einem für die Umwelt verheerenden Verfahren zur Gewinnung von Öl aus Teersand dienen. Davon berührt werden die Landrechte der Deh Cho First Nations, über deren Land 40% der Pipelinetrasse führen sollen, und die Lubicon Cree, in deren traditionellem Territorium ein Großteil der Teersandvorkommen liegt.

Pläne zum Bau einer Gaspipeline entstanden bereits in den 1970er Jahren, als in der Beaufortsee bei Inuvik Erdgas entdeckt wurde. Eine Regierungskommission unter Richter Berger empfahl damals nach einjähriger Anhörung in den NWT 1977 ein Moratorium für mindestens zehn Jahre. Erst 2000 wurden die Pipelinepläne dann tatsächlich wieder aufgenommen. Bis auf die Deh Cho First Nations unterzeichneten alle indigenen Anrainer des Projekts inzwischen so genannte "access and benefits agreements" mit dem Betreiberkonsortium, die im Gegenzug zum Gewähren des Wegerechts zum Beispiel Bildungs- und Sozialprogramme finanzieren und die First Nations als Anteilseigner am Gewinn der Gaspipeline beteiligen.

Sie alle sind Vertragsnationen, d.h. sie haben zumeist im 19. Jahrhundert Verträge abgeschlossen, so dass der Staat mit ihnen um die Abtretung der Nutzungsrechte am Land für das Projekt und seine Infrastruktur verhandeln muss. Die Deh Cho First Nations, die im Südwesten der NWT im Tal des Mackenzie, in ihrer Sprache Deh Cho oder großer Fluss, leben, wollen aber erst einen umfassenden Autonomievertrag aushandeln, bevor sie sich auf das Pipelineprojekt einlassen. Herb Norwegian, ihr Grand Chief, und Georges Erasmus, ihr Chefunterhändler, haben Jahrzehnte lange politische Erfahrung. Schon 1977 und 1978 vertraten sie die Dene Nation, deren Mitglied die Deh Cho sind, bei den beiden Pan-Indianischen-Delegationen, die auf Einladung der Gesellschaft für bedrohte Völker Tausende von Zuhörern in Deutschland erstmals über die an den Indigenen aus ganz Amerika begangenen Menschenrechtsverletzungen informierten.

Das MGP-Projekt besteht aus mehreren Teilen: der 1.350 Kilometer langen Mackenzie Valley Gas-Pipeline und einer kürzeren Flüssiggas-Pipeline von Inuvik an der Beaufortsee nach Norman Wells am Mittellauf des Mackenzie sowie ein Pipelinenetz, das die drei Gasfelder Taglu, Parsons Lake und Niglingtak mit der Hauptpipeline verbindet. Das noch geschlossene Urwaldgebiet (borealer Wald) entlang des Flusses wird von dem Projekt zerschnitten werden. Seltene Tiere wie das Wald-Karibu oder der Grizzlybär werden ihren Lebensraum verlieren. Unter Umweltschützern ist die Sorge um die Sicherheit der Pipelines groß, denn sie sollen unterirdisch verlaufen, und da durch die Klimaerwärmung der Permafrost-Boden nach und nach auftaut, wird er als Untergrund für die Röhren instabil. Zudem gibt es bereits jetzt Spekulationen, dass die Gasfelder zu klein sind, um das Projekt rentabel zu machen. Daher liegt die Vermutung nahe, dass es zu weiteren Explorationen und noch mehr Förderprojekten kommen wird und das jetzige Projekt nur der Anfang ist.

Die Deh Cho First Nations sind ein Zusammenschluss von fünf kleineren indigenen Gruppen und machen zusammen etwa 4.500 Menschen aus. Ihr Verhandlungspartner ist die "Producer Group" (Betreibergruppe) der vier Ölkonzerne Imperial Oil, Conoco Philips, Shell Canada und Exxon Mobile (Esso). Imperial Oil besitzt und betreibt das Taglu Gasfeld, ist außerdem Bauherr und Betreiber der Hauptpipeline; Conoco Philips besitzt 75% am Parsons Lake Gasfeld und wird die dort benötigten Fördereinrichtungen bauen und betreiben; Shell Canada besitzt das Niglingtak-Gasfeld und wird die dort notwendigen Fördereinrichtungen bauen und betreiben; Exxon Mobile (Esso) ist Besitzer der restlichen 25% des Gasfeldes Parsons Lake. Die Producer Group errichtet auch das Pipelinenetz, welches das Gas aus den Gasfeldern in die Hauptpipeline einspeist, das Gasverflüssigungswerk in Inuvik und die Pipeline für das Flüssiggas von dort nach Norman Wells. Die Befürworter auf indigener Seite sind in der Aboriginal Pipeline Group (APG) zusammengeschlossen. Die APG kann bis zu einem Drittel der Aktienanteile an der Mackenzie Valley Gaspipeline erwerben und dadurch mitverdienen, wenn das Gas erst einmal fließt.

Die Deh Cho First Nations sind die einzigen betroffenen Indigenen, die direkt entlang der Pipelinetrasse leben. Ihr Hauptort Fort Simpson, in dem etwa 2.500 Menschen leben, liegt nur ca. 16 km vom geplanten Trassenverlauf entfernt. Daher wollen sie eine weitgehende Autonomie gesichert wissen, bevor sie dem Megaprojekt zustimmen. Unter anderem wollen sie ein eigenes Wahlrecht für alle Einwohner Deh Chos, wobei Zugezogene einen Mindestaufenthalt von fünf Jahren nachweisen müssen. Sie streben die Steuerhoheit an und das Recht, selbst über sämtliche Entwicklungsmaßnahmen zu entscheiden. Sie wollen eigene Polizeikräfte und eine eigene Gerichtsbarkeit. Außerdem beanspruchen sie das Besitzrecht auf alle auch unter der Erdoberfläche lagernden Bodenschätze des ca. 210.000 Quadratkilometer großen Autonomiegebietes, auf das sie Anspruch erheben. Die Verhandlungen mit Ottawa um einen Autonomievertrag laufen noch. Dessen ungeachtet ließ der Staat Planungsarbeiten für das Projekt auf Deh Cho-Land zu. Dagegen wehrten sich die Deh Cho First Nations mit offiziellen Eingaben, klagten vor Gerichten in Yellowknife und Vancouver und lösten damit Nachforderungen anderer First Nations aus, die bereits mit den Betreiberunternehmen handelseinig geworden waren. Letztere drohten daraufhin im April 2005 mit dem Ausstieg aus dem Projekt.

Gerade die indianische Jugend, organisiert in der Arctic Indigenous Youth Alliance AIYA, ist sehr kritisch. Sie fürchtet um die eigene Zukunft und die ihrer Nachkommen, wenn das Mackenzie Valley Projekt erst einmal durch die zunehmende Siedlungsdichte, den Lärm und den Dreck ihre Zukunft als Jäger und Trapper unmöglich gemacht haben wird. Michael Francis aus Fort McPherson: "Ich möchte einmal mit meinen Kindern hinaus ins freie Land gehen und ihnen unsere Traditionen beibringen können, wie meine Großeltern das mit mir gemacht haben. Öl kann man nicht essen. Gas kann man nicht essen. Geld kann man nicht essen." Kein Geld der Welt, so AYLA, könne ihre und alle künftigen Generationen für den Verlust des Landes und der eigenen Kultur entschädigen. Das Gasprojekt werde die ohnehin schon bemerkbaren Auswirkungen von Klimawandel und Globalisierung weiter verschärfen.

Derzeit laufen zwei Verfahren der Deh Cho First Nation, eine Eingabe beim Minister für indianische Angelegenheiten (Department of Indian Affairs/DIA) Jim Prentice und eine Klage vor dem Umweltamt wegen eines Streits um Wegerecht. Das DIA hat gegen den Vertrag mit den Deh Cho First Nations verstoßen, indem es Genehmigungen für Rohstoffexploration ohne Zustimmung der betroffenen Gemeinden erteilt hat. Das Umweltprüfungsamt hatte entgegen seiner ursprünglichen Ansicht im Januar 2006 verkündet, dass Imperial Oil nicht verpflichtet sei, mit den Deh Cho First Nations-Gemeinden über das Wegerecht zu den Einrichtungen des Projekts, dessen negative soziokulturelle Folgen bzw. deren Minderung und Entschädigungsleistungen zu verhandeln. Dagegen reichten die Deh Cho First Nations vor dem Obersten Gericht der NWT in Yellowknife am 6. März 2006 Klage ein, die am 13. März auch zugelassen wurde. Schon im Herbst 2005 waren sie erfolgreich gewesen mit einer Klage gegen die Bundesregierung in Ottawa, weil diese die First Nations nicht ausreichend in die Umweltprüfung einbezogen hatte.

Dem Zeitplan folgend werden mindestens bis Ende 2006 überall in den NWT zwei Ausschüsse Anhörungen in den einzelnen Gemeinden der First Nations sowie in der Hauptstadt Yellowknife durchführen. Der National Energy Board (Nationale Energiebehörde) ist dabei für die ingenieurtechnischen und wirtschaftlichen Aspekte des Projektes zuständig und geht der Frage nach, ob überhaupt (technisch) und wenn ja, zu welchen Kosten das Projekt realisierbar wäre. Das Joint Review Panel (Gemeinsamer Prüfungsausschuss JRP) ist ein Sachverständigengremium mit sieben Mitgliedern, das im August 2004 vom damaligen Umweltminister Kanadas in Abstimmung mit den Betreiberfirmen und der Aboriginal Pipeline Group berufen wurde, um die Anhörungen zu den sozialen und den Umweltfolgen zu begutachten.

Nach Beendigung der Anhörungen, d.h. frühestens Anfang 2007, werden sich die beiden Ausschüsse zurückziehen und ihre Berichte nebst Empfehlungen formulieren, die als Entscheidungsgrundlage für die Regierung in Ottawa dienen. Sie muss beschließen, ob die Projektplanung fortgesetzt werden soll oder nicht. Sollte es bei diesem Zeitplan bleiben, so wird mit dieser Entscheidung im Laufe des Jahres 2007 und bei positivem Entscheid mit der Inbetriebnahme der Pipeline ab 2011 gerechnet.