08.04.2011

Kabardino-Balkariens ungewisse Zukunft

Russlands Republiken (Teil XI)

Aus bedrohte völker_pogrom 265, 2/2011

Kabardino-Balkarien war immer schon eine multinationale Republik. Die Balkaren sind ihre älteste ethnische Gemeinschaft. Laut einer Volkszählung von 2002 machen sie mit rund 105.000 Angehörigen in der Republik etwa 11,6 Prozent der Bevölkerung aus. Im 13. Jahrhundert siedelten auch Kabardiner in diesem Gebiet. Heute stellen sie mit rund 498.700 Personen etwa 55,3 Prozent der Bevölkerung. Im 15. Jahrhundert kamen Russen hinzu, sie bilden jetzt mit 226.600 Menschen und 25,5 Prozent Bevölkerungsanteil die zweitgrößte ethnische Gruppe. Außerdem leben im heutigen Kabardino-Balkarien Ossetier, Ukrainer, Türken und Angehörige vieler anderer Völker. Die Mehrheit der Bevölkerung ist muslimisch.

Dramatische Geschichte

Trotz räumlicher Nähe und enger Beziehungen zu Russland wurde Kabardinien erst 1774 und Balkarien 1827 in das Zarenreich eingegliedert. Im 20. Jahrhundert sollte das Schicksal der Balkaren eine besonders dramatische Wende nehmen:

Am 8. März 1944 wurden die mehr als 37.000 Balkaren kollektiv beschuldigt, die faschistischen Besetzer zu unterstützen. So versuchte die stalinistische Regierung, ihre Misserfolge im Kaukasus im Zweiten Weltkrieg zu vertuschen. Es folgten die Vertreibung der Balkaren nach Kasachstan und Kirgistan und die Auflösung der Autonomen Kabardino-Balkarischen Republik. Ihre ehemalige Heimat teilten Georgien und die neue Kabardinische Republik untereinander auf.

Die deportierten Balkaren verloren nicht nur ihr Hab und Gut. Sie durften auch ihre Kultur nicht mehr frei ausüben, ihre Sprache nicht mehr sprechen. Die Menschen wurden ihrer Bürgerrechte beraubt und sie konnten sich nur noch eingeschränkt bewegen. Jegliche Form nationaler Selbstbestimmung wurde ihnen verweigert.

Erst 1957 konnten die Balkaren in ihre Heimatgebiete zurückkehren, als in Russland die grausamen Repressalien gegen sie als Fehler eingestanden wurden. Doch ihre Heimat war nach der Vertreibung verwahrlost und verfallen. Hilfe konnten sie von "ihrer" Regierung dennoch nicht erwarten. Erst 1993 begann diese, erste praktische Schritte zur sozioökonomischen Unterstützung der Balkaren einzuleiten.

Gewalt im 21. Jahrhundert

2010 entwickelte sich Kabardino-Balkarien zu einem neuen Krisenherd im Nordkaukasus: Die Zahl der Gewaltanschläge hat sich seit 2009 mindestens verdoppelt. Ende Februar 2011 begann die russische Regierung eine anti-terroristische Operation in der Republikhauptstadt Naltschik sowie in mehreren Bezirken Kabardino-Balkariens. Auslöser hierfür waren die Morde an drei Touristen aus Moskau sowie ein Sprengstoffanschlag auf eine Seilbahn. Kurz darauf griffen Unbekannte auch die Verkehrspolizei und das Sanatorium des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB) in Naltschik an. Die ambitionierten Pläne der russischen Regierung, die Republik zu einem Skiort für Touristen aus aller Welt zu entwickeln, kamen dadurch ins Wanken.

Wie wenig Einfluss die örtlichen Behörden und die Moskauer Vertretung in der Region auf die rasend schnelle Zunahme der Gewalt in der Republik haben, zeigt sich in ihren unglaubwürdigen Behauptungen, die Sicherheitssituation in der Republik würde sich bald wieder verbessern. Ebenso dubios klingt es, wenn allein die hohe Arbeitslosigkeit, soziale Ungerechtigkeit, Korruption und das niedrige Ausbildungsniveau als Gründe für die Gewalteskalation angeführt werden. Ausgeblendet wird dabei das ständige Gefühl der Angst, das hier vorherrscht. Denn die im Nordkaukasus stationierten russischen Sicherheitskräfte sind nicht selten beim bloßen Terrorismus-Verdacht bereit, Beschuldigte zu entführen und zu foltern. Diese systematische "Kleinhaltung" der lokalen Bevölkerung bereitet den Nährboden für eine Radikalisierung der nordkaukasischen Gesellschaft und macht die Menschen – nicht nur in Kabardino-Balkarien – tatsächlich anfälliger für islamistischen Terrorismus.


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