15.10.2004

Isolationshaft statt Meinungsfreiheit

Als Teilnehmerin einer Menschenrechtsdelegation reiste die Autorin im März 2004 nach Diyarbakir, der inoffiziellen Hauptstadt der kurdischen Bevölkerung.

aus: bedrohte Völker_pogrom 226_4/2004
Von der internationalen Gemeinschaft und von den westlichen Medien werden die Reformbemühungen der Türkei gelobt. Im Juni 2004 wurde zur Belohnung der türkischen Regierung das acht Jahre andauernde Monitoring der Türkei durch den Europarat beendet. Selbst ein EU-Beitritt der Türkei scheint nicht mehr unmöglich. Wer allerdings Angehörige der kurdischen Minderheit fragt, was sie von den Reformen halten, hört meist dasselbe: Die Entwicklungen seien zwar ein Schritt in die richtige Richtung, doch geändert habe sich in ihrem Alltag bislang nicht viel. Vielmehr versuchten nationalistische türkische Kräfte immer noch mit allen möglichen Mitteln, die Reformen zu hintertreiben.

Weiterhin unmenschliche Haftbedingungen

In der Türkei gibt es immer noch ca. 3.500 politische Gefangene, die meisten von ihnen Angehörige der kurdischen Minderheit. Die Haftbedingungen sind nach wie vor sehr schwierig, wie uns lokale Organisationen mehrfach bestätigen. Mehr als die Hälfte der Häftlinge müssen ihre Freiheitsstrafe weit weg von ihrem Heimatort – oft Hunderte von Kilometern entfernt – absitzen. Für die Angehörigen, vielfach ohne große finanzielle Mittel, sei es deshalb oft schwierig oder unmöglich, die Gefangenen zu besuchen und den Kontakt mit ihnen aufrecht zu erhalten. Familienmitglieder, welche die Gefangenen besuchen, müssen zudem häufig langwierige und schikanöse Kontrollen über sich ergehen lassen.

Problematisch ist auch die mangelhafte gesundheitliche Betreuung der Gefangenen. Oft werden Gefangene spät oder gar nicht behandelt, geschultes Krankenhauspersonal fehlt. In Mus¸ ist nach Aussagen der Gefangenenorganisation TUHAD-DEF ein Gefängnisinsasse an einem Herzinfarkt gestorben, weil er keine Behandlung erhalten hatte.

Der türkische Menschenrechtsverein TIHV kritisiert vor allem die immer noch verbreitete Folter von Gefangenen durch Polizeikräfte oder durch das Gefängnispersonal. Nach Aussagen des TIHV haben die Fälle von Folter in Gefangenschaft zwar insgesamt abgenommen, weil die Untersuchungshaft stark verkürzt wurde, allerdings ist die Folter gerade in Untersuchungshaft immer noch sehr verbreitet. Besonders schwierig ist die Situation für gefangene Frauen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind. Immer noch ist es für Folteropfer fast unmöglich, eine Entschädigung und eine Bestrafung der Täter zu erlangen. Dies, obwohl die Regierung versprochen habe, härter gegen Folterer vorzugehen. Selbst wenn die Folter durch den TIHV oder durch externe Fachärzte festgestellt werde, werden diese Beweise vor Gericht nicht anerkannt. Als Beweismittel sind nur Berichte der Gerichtsmediziner zugelassen, die in der Regel die Interessen des türkischen Staates vertreten.

Besonders einschneidende Haftbedingungen ergeben sich im Zusammenhang mit der Isolationshaft. Bei Gefangenen, die sich in Isolationshaft befinden – nach Schätzungen von TUHAD-FED etwa 2.000 der 3.500 politischen Gefangenen in Gefängnissen der Typen D und F – werden die Besuche von Familien und Anwälten sehr stark eingeschränkt. Auch zu den Mitgefangenen gibt es keinen Kontakt. Die Gefangenen haben laut Gesetz das Recht, sich regelmäßig mit anderen Häftlingen zu unterhalten; dies wird ihnen jedoch verwehrt, so dass die Gefangenen tatsächlich fast keinen Kontakt zur Außenwelt haben. Erschwerend kommt hinzu, dass die Häftlinge in D- und F Typ-Gefängnissen teilweise – außer bei einem Gerichts- oder Arzttermin außerhalb des Gefängnisses – nie das Tageslicht sehen. In Diyarbakir gibt es beispielsweise keine Zellen mit Tageslicht. Auch der Briefverkehr mit Verwandten und Anwälten wird streng kontrolliert und teilweise ohne Angabe von Gründen zurückbehalten. Die Abschottung der Gefangenen ist also massiv. Aufgrund der psychisch und physisch sehr belastenden Haftbedingungen treten immer wieder Gefangene in Hungerstreik. Hungerstreikende Gefangene werden von den türkischen Behörden regelmäßig mit Terroristen gleichgesetzt; mehrere Hungerstreiks in Gefängnissen wurden in der Vergangenheit von den Sicherheitskräften blutig niedergeschlagen.

Nach März 2004 wurden nach Angaben von TUHAD-FED zahlreiche Gefangene in F Typ-Gefängnisse verlegt. Die Organisation befürchtet, dass in Zukunft alle politischen Gefangenen in F Typ-Gefängnisse verlegt werden könnten, von denen immer mehr gebaut werden.

Kulturelle Rechte der kurdischen Minderheit

 

Die Mühen der Türkei mit der kurdischen Sprache haben eine lange Tradition. Bis vor wenigen Jahren war es verboten, im Alltag Kurdisch zu sprechen. Heute besteht das Verbot in Bezug auf Äußerungen in der Öffentlichkeit, vor allem, wenn dies in einem politischen Kontext geschieht. Die erst kürzlich aus dem Gefängnis entlassene Abgeordnete Leyla Zana muss beispielsweise erneut mit einem Verfahren rechnen, weil sie in Diyarbakir eine Rede auf Kurdisch gehalten hat. Die Forderung nach Unterricht in der Muttersprache, welche von kurdischen Studierenden seit längerem erhoben wird, hat zur zahlreichen Verhaftungen und Ausschlüssen aus Universitäten geführt. Der Lehrergewerkschaft Egitim-Sen, die kürzlich verlangt hatte, dass muttersprachlicher Unterricht möglich sein müsse, wurde von einem Gericht beschieden, dass diese Forderung umgehend gestrichen werden müsse, andernfalls werde die Gewerkschaft, in welcher 200.000 Lehrpersonen organisiert sind, verboten.

Auf Druck der EU hat die Türkei hinsichtlich der Verbesserung der kulturellen Rechte von Minderheiten die Möglichkeit von Fernsehprogrammen in Minderheitensprachen sowie von auf privater Basis organisierten Sprachkursen in Minderheitensprachen gesetzlich verankert. In Diyarbakir besuchten wir das kurdische Institut „Kürd-Pen“, welches erst vor wenigen Monaten fertig gestellt wurde. In diesem Institut sollen Sprachkurse in Kurdisch durchgeführt werden. Die private Institution möchte auch Zeitschriften und Bücher in kurdischer Sprache herausgeben und Forschung über die kurdische Sprache betreiben. Seit einiger Zeit wartet Kürd-Pen auf grünes Licht von den Behörden. Die Räumlichkeiten und Kursmaterialien sind bereit, die Lehrpersonen warten nur darauf, mit dem Unterricht beginnen zu können. Das Bewilligungsverfahren ist allerdings sehr kompliziert und langwierig und geht über mehrere Stufen bis zum Hochschulrat, der letztinstanzlich entscheidet. Der Hochschulrat hat dem Institut vorläufig mitgeteilt, dass die Durchführung von Kurdischkursen nicht möglich sei. Der Entscheid wird mit Unterstützung eines Anwalts angefochten. Immer wieder gilt es, bürokratische Hürden zu nehmen. Beispielsweise stellt der Name der Institution „Kürd-Pen“ ein Problem dar, da im Namen auf das Kurdische verwiesen wird. Der ebenfalls involvierte Ministerrat verlangte vom Institut eine Namensänderung, denn Kurdisch gäbe es nicht – für die Bewilligung eines Kurdisch-Kurses. In der Stadt Batman wurde einem ähnlichen Sprachkurs-Projekt die Bewilligung verweigert, weil die Türen in den Schulzimmern zu wenig breit seien. In Wan wurde einer Privatschule die Bewilligung für Kurse in einem Gebäude verweigert, in dem zuvor bereits Türkisch-Kurse durchgeführt worden waren. Die Begründung war, dass Unterricht in diesem Gebäude aus feuerwehrtechnischen Gründen zu gefährlich sei.

Die Kurse in kurdischer Sprache richten sich bei der Institution Kürd-Pen vor allem an Kinder. Die meisten kurdischen Kinder sprechen heute eine Mischung aus türkischen, kurdischen und arabischen Sprachelementen. Ziel des Unterrichts ist es, dass die Kinder richtig Kurdisch lesen, schreiben und sprechen lernen. Für den Unterricht von Kindern gelten allerdings von Behördenseite weitere Einschränkungen. Das türkische Erziehungsministerium hat entschieden, dass Kinder erst nach vier abgeschlossenen Schuljahren an einem Sprachkurs in einer Minderheitensprache teilnehmen dürfen, d.h. nachdem sie bereits vier Jahre Schulunterricht in türkischer Sprache absolviert haben. Zudem darf ein Kind insgesamt nur an 180 Stunden Kurs teilnehmen. Es gibt auch keine Möglichkeit, einen Fortbildungskurs zu besuchen. Im Gegensatz dazu werden etwa Sprachen wie Französisch oder Englisch in der Schule über mehrere Semester unterrichtet.

Für die Mitarbeitenden von Kürd-Pen wäre es in erster Linie wichtig, dass auch die türkische Verfassung geändert und darin das Recht auf muttersprachlichen Unterricht verankert würde. Nach Ansicht von Kürd-Pen gibt es zu viele Gesetze, die sich gegenseitig widersprechen. Wer Unterricht in kurdischer Sprache verlangt, riskiere immer noch ein Gerichtsverfahren wegen Terrorismus oder Separatismus. Es besteht eine große Rechtsunsicherheit, die Behörden können somit willkürlich Institute schließen, Bewilligungen verweigern und Verfahren gegen die Institutionen oder ihre Mitarbeitenden anstrengen. Kürd-Pen will, um das Projekt nicht zu gefährden, mit dem Unterricht nicht beginnen, bevor nicht eine klare Rechtslage besteht. Unterstützung erhält Kürd-Pen von der Anwaltskammer in Diyarbakir und auch vom türkischen Menschenrechtsverein IHD. Die Mitarbeitenden von Kürd-Pen machen deutlich, dass sie auch auf Unterstützung des Westens warten.

Hilfe für die Gefangenen: TUHAD-Fed

Die Organisation TUHAD-FED in Diyarbakir setzt sich für politische Gefangene und ihre Familien ein. Weil direkte Kontakte mit den Gefangenen nicht möglich sind, läuft die Unterstützung meist indirekt über die Angehörigen, welche die Gefangenen besuchen und deren Anliegen an die Organisation weiterleiten. TUHAD-FED berät die Angehörigen der Gefangenen und unterstützt sie teilweise auch finanziell. Sie organisiert beispielsweise Autos oder Fahrkarten für Gefängnisbesuche, vernetzt wohlhabende und arme Familien, die sich gegenseitig unterstützen können und bereitet zusammen mit den Angehörigen Treffen mit der Staatsanwaltschaft und weiteren Behörden vor. Geplant sind Projekte für Kinder von Gefangenen sowie ein Rehabilitationszentrum für entlassene Häftlinge. Wie auch andere Menschenrechtsorganisationen wurden gegen die Organisation TUHAD-FED und Mitarbeitende zahlreiche Verfahren eröffnet und die Organisation mehrmals verboten.

In Freiheit: Soner Önder nach 13 Jahren Haft frei!

Am 22. Juni 2004 konnte Soner önder das Hochsicherheitsgefängnis von Tekirdag/Istanbul nach fast 13 Jahren als freier Mann verlassen. Vor den Toren des Militärgefängnis wurde der 30-jährige Assyrer von seiner Mutter und zahlreichen Familienangehörigen aus ganz Mitteleuropa empfangen. Soner wurde im Dezember 1991 als 17-jähriger festgenommen, als er vom Weihnachtsgottesdienst der syrisch-katholischen Kirche nach Hause heimkehrte. Die Polizei lastete ihm die Teilnahme an einem terroristischen Angriff der PKK an, bei dem 12 Menschen getötet wurden. Der einzige Grund für seine Verhaftung war, dass Diyarbakir als sein Geburtsort in seinem Personalausweis stand – damals eine Hochburg der PKK.

Viele Organisationen und Menschenrechtsgruppen haben sich seither für ihn eingesetzt – so auch die Gesellschaft für bedrohte Völker, die im Rahmen einer Aktion der damaligen Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth 40.000 Postkarten überreichten, auf denen Önders Freilassung gefordert wurde.

Janet Abraham