29.06.2005

Interview mit Pater Emmanuel Youkhana, dem Vorsitzenden der assyrisch-chaldäischen Hilfsorganisation CAPNI

Göttingen
1. Sie sind nach einem eineinhalb monatigen Aufenthalt im Nordirak zurückgekehrt. Wie sieht es dort aus, wie ist die allgemeine Situation?

Wir müssen die Situation dort sehr differenziert betrachten. In Kurdistan und den Assyro-Chaldäischen Regionen im Norden und Osten von Mosul ist die Sicherheitslage und daher auch die allgemeine Situation ganz gut. Auch von Kirkuk hatte ich einen guten Eindruck. Nur im so genannten "Sunnitischen Dreieck" treiben die Terroristen, die sich aus islamischen Fundamentalisten und ehemaligen Regimeanhängern zusammensetzen immer noch ihr Unwesen. Sicherheit ist jedoch die Grundlage überhaupt für einen einigermaßen normalen Alltag. Solange es keine Sicherheit gibt, kann eine Region oder ein Land nicht wiederaufgebaut werden. Diese Gedanken bewegten alle Iraker als sie am 30. Januar zur Wahl gingen und dadurch eine neue Entwicklungsphase für den Irak einläuteten.

2. Wie ist die besondere Situation der assyro-chaldäischen Gemeinschaft? Wie viele Assyro-Chaldäer leben im Irak / wie viele leben im Exil? Könnten Sie diese Christen im Irak etwas beschreiben?

Die Assyro-Chaldäer, etwa 700.000 bis 800.000 Menschen im Irak werden in den letzten Monaten Opfer einer intensiven Terrorkampagne, die sich gegen sie persönlich, ihre Kirchen, ihre gesamte Lebensweise richtet. Als Minderheit, die sich ein friedliches Leben wünscht, sahen sich viele Christen gezwungen, Sicherheit innerhalb und außerhalb des Landes zu suchen. Etwa 50.000 von ihnen flohen nach Syrien und Jordanien. 12.000 weitere suchten in den großen Städten Kurdistans und in der Niniveh Ebene Sicherheit. Leider ist diese neue Fluchtbewegung eine traurige Fortsetzung der Flucht unserer Assyro-Chaldäer aus ihren Heimatländern Irak, Türkei, Syrien und Iran, die seit dem Ersten Weltkrieg andauert. Die unterschiedlichen Regimes und Regierungen haben uns und auch anderen Minderheiten gegenüber eine Politik der Diskriminierung verfolgt. Wir müssen sehen, dass Assyro-Chaldäer einer doppelten Ungleichbehandlung ausgesetzt waren. Einerseits wurden sie als Christen, d.h. als Angehörige einer anderen Glaubensgemeinschaft als die Mehrheitsbevölkerung diskriminiert und zusätzlich als zu einer anderen Ethnie gehörende Gruppe. Die beschriebene fortgesetzte Abwanderung führte dazu, dass wir nun eine große Gruppe Assyro-Chaldäer (mehr als zwei Millionen Menschen) in der Diaspora haben. Von den Wahlen im Irak erhoffen sich alle, die Christen und andere Minderheiten im Land und diejenigen im Exil eine Verbesserung der Lage.

3. Wie ist die Situation der alteingesessenen christlichen Familien im Nordirak und wie ist die Lage der christlichen Flüchtlinge?

Die Situation der alteingesessenen christlichen Familien im Nordirak und der Niniveh-Ebene ist besonders im Vergleich zu anderen irakischen Regionen gut. Die Menschen fühlen sich sicher. Das Wissen um diese Stabilität hat 12.000 christliche Flüchtlinge angezogen. Sie kamen bei ihren Verwandten, Freunden, in den Kirchen aber auch in einfachen Zeltlagern unter. Doch das Leben der Flüchtlinge ist sehr schwierig. Sie brauchen moralische und materielle Hilfe. Eine große Zahl dieser Flüchtlinge hat ihre Wurzeln in der Region, in die sie nun geflohen ist. Die Menschen haben den Wunsch, dort ein neues Leben aufzubauen. Ganz praktisch gesagt bräuchte es ein Programm, welches hilft, ihre Dörfer und damit ihren Lebensmittelpunkt wiederaufzubauen. Die Kurdische Regionalregierung und besonders Herr Saris Aghajan, der stellvertretende Premierminister und der Finanzminister der KDP (Kurdische Demokratische Partei) in Erbil tun ihr Mögliches, um den Flüchtlingen materiell zu helfen. Trotzdem wäre es sehr wichtig, wenn es Rekonstruktionsprogramme für den Bau von Häusern, Schule, den Aufbau der Infrastruktur gäbe.

4. Wieviele Christen haben seit dem ersten Golfkrieg den Irak verlassen und wie viele seit dem jüngsten Einmarsch der US-Truppen?

Es ist sehr schwierig, hier konkrete Zahlen zu nennen, weil es keine Statistik gibt. Wir gehen jedoch davon aus, dass seit 1991 250.000 Christen den Irak verlassen haben. Dies schließt die 50.000 Flüchtlinge mit ein, die nun in Syrien oder Jordanien zuflucht gesucht haben.

5. Wie lässt sich die Verfolgung der Christen im mittleren und südlichen Irak beschreiben (Bomben auf Kirchen, Ermordungen, Verfolgungen etc.)?

Lassen Sie mich zuerst ein Faktum benennen: Die Situation im Moment, d.h. nach der Befreiung des Iraks ist besser als unsere Lage unter dem Regime von Saddam. Ja, ich gebe zu, die Situation im Moment ist nicht perfekt. Ich muss auch sagen, dass unsere assyro-chaldäische christliche Gemeinschaft unter verschiedenen Formen der Verfolgung leidet. Diese Formen und das Ausmaß der Verfolgung sind jedoch nicht vergleichbar mit der Lage unter Saddam. Unter Saddam waren wir Opfer einer staatlich sanktionierten Diskriminierungs- und Arabisierungspolitik, welche die Zerstörung unserer Identität, unserer Infrastruktur und Demographie zum Ziel hatte. Im Moment haben wir es mit einer terroristischen Kampagne zu tun, die von Islamisten oder den Anhängern des ehemaligen Regimes ausgeführt wird. Es gibt viele Gründe dafür, dass diese Terroristen für ihre verbrecherischen Aktionen im Irak gerade eine "perfekte" Umwelt vorfinden, wie zum Beispiel das Machtvakuum, die Abwesenheit von Gesetz und Ordnung. Im Moment haben wir es im Irak mit der Ausnahme von Kurdistan und der Niniveh-Ebene mit folgenden Problemen zu tun:

  • Geschäfte von Christen, insbesondere Läden, in denen Alkohol verkauft wird, Friseurgeschäfte etc. werden angegriffen.
  • Christen, die in irgendeiner Art und Weise mit den Amerikanern, mit ausländischen Organisationen oder Firmen zusammenarbeiten, werden ermordet.
  • Christen werden Opfer von Entführungen. Um freigelassen zu werden, müssen enorme Geldsummen bezahlt werden. (Nicht nur Christen werden entführt, sie aber überdurchschnittlich oft. Dies hat unter anderem damit zu tun, dass die Christen friedlich sind und an den Tätern keine Rache üben werden.)
  • Besonders traurig sind auch die zahlreichen Angriffe auf Kirchen. Dabei werden nicht nur die Gebäude zerstört, die Botschaft hinter den Angriffen ist wichtig und beängstigend.
  • Christen, insbesondere Frauen, sollen durch Drohungen und Warnungen dazu gezwungen werden, islamischen Vorschriften Folge zu leisten.
  • Wir können auch von einem psychologischen Druck auf die Christen sprechen. Imams in den Moscheen nennen Christen "Kuffar" und fordern Muslime auf, sich nicht mit Christen einzulassen. Ein Imam in Mosul hat sogar gesagt, die Muslime sollten nichts mehr von Christen kaufen. Diese müssten ohnehin bald das Land verlassen und dann könnte ihr Eigentum ohne Gegenleitung genommen werden.

6. Eine assyrische Exilorganisation unterscheidet zwischen patriotischen Assyrern, Chaldäern, die eine eigene Nation sein wollen und zwischen Gruppen, die sich kurdische oder arabische Christen nennen. Was sind die Gemeinsamkeiten zwischen den unterschiedlichen christlichen Gruppen im Irak?

Chaldäer und Assyrer haben all das gemeinsam, was sie zu einem Volk macht. Sie sprechen eine gemeinsame Sprache, haben dieselbe kulturelle Identität, das selbe kulturelle Erbe und die gleichen Traditionen, die selbe Geschichte, die selben Dörfer und demographischen Regionen. Was kann ich noch als Gemeinsamkeit benennen? Dieses EINE Volk ist trotzdem zersplittert. Einige Gründe dafür liegen in der Kirchengeschichte aber auch in der Tatsache, dass sie lange verfolgt und vertrieben wurden. Trotzdem will ich nochmals betonen, dass wir ein Volk sind. Ich betrachte mich genauso als Chaldäer wie als Assyrer. Die unterschiedlichen Namen Assyrer/Chaldäer/Syrer sollten unsere Einheit nicht gefährden. Was die kurdischen Christen anbelangt, so habe ich von dieser Gruppe noch nie gehört, es sei denn, es sind kurdische Muslime, die zum Christentum übergetreten sind. Mir ist aber darüber nichts bekannt.

7. Wie wird den christlichen Flüchtlingen im Nordirak geholfen? Wie gehen die kurdischen Behörden, in denen ja auch Christen arbeiten, mit den Problemen um. So ist der stellvertretende Bürgermeister der derzeitigen kurdischen Hauptstadt Erbil ein Christ, wie kann er helfen?

Wie ich bereits erwähnt habe, werden die Flüchtlinge von Verwandten und Freunden aufgenommen oder müssen in Zelten leben. Andere versuchen, Räume zu mieten. Ich habe eine Familie besucht. Dort lebten sechs Personen in einem kleinen Raum. Auch die Gemeindesäle der Kirchen nehmen Flüchtlinge auf. Die kurdische Verwaltung tut was sie kann, um den Flüchtlingen zu helfen. So haben sie zum Beispiel Arabisch-Klassen eingerichtet, damit die Kinder der Flüchtlinge dem Schulstoff folgen können, der ansonsten nur auf Kurdisch oder Assyrisch vermittelt wird. Sie bekommen auch eine finanzielle Unterstützung, die zwar klein ist und nicht ausreicht aber doch die Lage der Flüchtlinge erleichtert. Personen, die in der kurdischen Verwaltung arbeiten wollen aber auch in Schulen oder Krankenhäusern, bekommen die gleichen Chancen wie alle. In vielen Fällen werden sie sogar bevorzugt behandelt.

8. Gibt es noch geschlossene Siedlungsgebiete der Christen?

In Kurdistan leben in den Dörfern entweder 100% Kurden, 100% Assyro-Chaldäer oder 100% Yezidi. Von dieser Regel gibt es wenige Ausnahmen, so zum Beispiel das Dorf Derishky. Nur in den Städten in Kurdistan leben Menschen aus den unterschiedlichen Gruppen zusammen. Früher war auch das nicht so. In der Niniveh-Ebene haben wir Städte, in denen Tausende Christen leben, z. B. die Städte Alqush, Telsqupa und andere. Dort gibt es eine ganzheitlich christliche Bevölkerung. Andere wichtige Orte in der Niniveh-Ebene waren Ziel der Arabisierungspolitik unter Saddam. Dazu zählen Baghdeda (Hamdaniya), Bartilla und Telkaif. Wir hoffen, dass die Folgen der Arabisierung aufgehoben werden, einfach weil diese Politik unfair und ungerecht war.

9. Wie ist die Nachbarschaft zu den Yeziden?

Wir sind beides nicht-muslimische Minderheiten, deshalb sind wir durch Solidarität und Zuneigung verbunden. Diese gemeinsame Geschichte geht weit zurück. Sowohl Yezidi als auch Assyro-Chaldäer sind die ältesten und ursprünglichen Bewohner des Iraks. Unsere Wurzeln gehen zurück in die Mesopotamische Zeit, zu den Assyrern und Babyloniern.

10. Im Irak lebt die alte, vorchristliche Gemeinschaft der Mandäer, die sich auf Johannes den Täufer zurückführen. Sie benutzen das Aramäische als Liturgiesprache und auch sie werden im Irak verfolgt. Gibt es Verbindungen zwischen den Christen und den Mandäern?

Ja, neben der Aramäischen Sprache (wo es natürlich einige kleine Unterschiede gibt), die die Liturgiesprache der Mandäer ist (im Alltag sprechen sie Arabisch) fühlen sich die Mandäer den Christen näher als anderen Gruppen im Irak. Dies liegt auch an den gemeinsamen religiösen Wurzeln. Es gibt zum Beispiel gemischte Ehen zwischen Mandäern und Christen. Trotzdem sind die Verbindungen nicht so sehr eng, da die Mandäer besonders im Süden des Iraks leben und die Christen im Norden. Enge Beziehungen zwischen Mandäern und Christen existieren besonders in den großen Städten wie Bagdad oder Basrah.

11. Helfen die Assyro-Chaldäer im Exil ihren Landsleuten im Irak?

Ja, selbstverständlich. Es gibt Unterstützung von Mensch zu Mensch, durch Familienverbindungen aber auch durch Organisationen. Die Unterstützung konzentriert sich besonders auf Hilfslieferungen aber auch auf Öffentlichkeitsarbeit für die Christen im Irak.

 

12. Die GfbV hat wegen der Situation der Assyro-Chaldäer an alle 750 Abgeordnete des Europäischen Parlamentes, an die 25 Regierungen, an die politischen Fraktionen in den EU-Ländern und an die der nordatlantischen und neutralen Staaten geschrieben und sie um Unterstützung der Flüchtlinge, vor allem jener, die im Irak bleiben wollen, gebeten. Was fordern Sie von diesen Regierungen, was erwarten Sie von der europäischen Öffentlichkeit und auch von den deutschsprachigen Medien?

Ich denke, die Wahlergebnisse im Irak werden das tatsächliche Bild des Irak und der Menschen im Irak widerspiegeln. Ihr Wille, einen neuen Irak aufzubauen, basierend auf demokratischen und den Menschenrechten verpflichteten Werten, wird deutlich werden. Dies ist nach Jahrzehnten der Diktatur und des Totalitarismus kein leichtes Unterfangen. Den Europäischen Demokratien auf der offiziellen und gesellschaftlichen Ebene kommt beim Prozess der Stabilisierung des Iraks eine wichtige Rolle zu. Ein friedlicher Irak hat eine große Ausstrahlung auf eine insgesamt positive Entwicklung im Mittleren Osten. Es ist unfair, dass Europäische Regierungen die Menschen im Irak "bestrafen" und zu Opfern machen, weil sie nicht mit der Politik der USA und Großbritanniens einverstanden sind. Die Iraker haben ihre Übergangsregierung gewählt und der politische Prozess nimmt seinen Verlauf. Wir brauchen die politische und materielle Unterstützung Europas. Als irakische Christen erwarten wir von den europäischen Staaten Unterstützung, damit wir im Irak bleiben können. Dies kann durch moralische, politische und materielle Hilfe für die Christen bewerkstelligt werden. Auf der politischen Ebene kann Know-How gebraucht werden. Die christlichen Gemeinden brauchen Wiederaufbauhilfe für die Dörfer, Häuser, Schulen, Fabriken etc. Organisationen aus dem Kulturbereich sollten die kulturelle Identität der Christen z.B. durch die Ermöglichung von Syrisch-Unterricht stärken. Ähnliche Erwartungen haben wir an die deutsche Öffentlichkeit und die deutschen Medien. Sie müssen die Problematik der irakischen Christen in Deutschland bekannt machen.

13. Was kann das zukünftigte GfbV-Büro im Irak für die verfolgten Christen tun?

Wir sind zuversichtlich, dass die GfbV eine wichtige Rolle bei der Unterstützung der irakischen Assyro-Chaldäer und anderer Minderheiten spielen wird. Die GfbV kann unsere Probleme in Europa und bei europäischen Institutionen bekannt machen und so darauf hinwirken, dass sich in Europa ein Konsens bildet, uns zu unterstützen. Besonders wichtig erscheint uns, dass die politischen Rechte der Assyro-Chaldäer in der zukünftigen Verfassung verankert werden. Um diese Rechte ausüben zu können brauchen wir auch materielle Unterstützung. Unser Wunsch ist der Aufbau eines Verwaltungsgebietes für Assyro-Chaldäer und Yezidi in der Niniveh-Ebene. Um diesen Wunsch realisieren zu können brauchen wir die Unterstützung der GfbV. Ein

GfbV-Büro im Nordirak kann der Region wichtige Impulse geben.

14. Sie sind ein Repräsentant der Organisation CAPNI. Wie kann die Organisation im Moment helfen?

CAPNI versucht durch ihre Vernetzung mit deutschen und europäischen Organisationen den Christen im Irak auf verschiedenen Ebenen zu helfen. Für Flüchtlinge und Rückkehrer müssen Häuser aufgebaut werden. Zerstörte Kirchen und Schulen müssen renoviert werden. Wir unterhalten auch Projekte, um Trinkwasser und die sanitäre bzw. medizinische Versorgung sicherzustellen. Im Moment ist jedoch die Priorität, den Vertrieben und Flüchtlingen erste, lebenswichtige Hilfe zu leisten. Sie bekommen von uns Decken, Heizöfen, Küchengerätschafen, Nahrungsmittel und Medizin.

Emanuel Youkhana

Wiesbaden, 2. Februar 2005