01.06.2005

Innere Sicherheit in Afghanistan

Seit deutsche Soldaten in Afghanistan Dienst tun und die Übernahme des Kommandos über die International Security Assistance Force (ISAF) durch die Bundeswehr und die Armee der Niederlande im Februar 2003 näher rückt, wird das öffentliche Interesse an diesem von Krisen geschüttelten Land immer größer. Inzwischen sind leider auch die ersten deutschen Todesopfer zu beklagen, nachdem am 21. Dezember 2002 ein Sikorsky-Hubschrauber mit sieben Mann Besatzung vermutlich wegen technischer Probleme abstürzte. Alle sieben Männer der Besatzung kamen ums Leben. Auch die Nachrichten über Attentate gegen Angehörige der ISAF mehren sich.

Dabei waren nach den UN-Gesprächen über Afghanistan Konferenz auf dem Petersberg bei Bonn im Dezember 2001, an der die maßgeblichen politischen Kreise Afghanistans beteiligt waren, zum ersten Mal nach 23 Jahren die Hoffnungen groß, dass dem Land einen Zukunft auf der Basis von Demokratie und Menschenrechten und unter Einbeziehung der afghanischen Traditionen bevorstehe. Das am 5. Dezember 2001 als Abschluss der Gespräche verabschiedete "Übereinkommen über vorläufige Regelungen in Afghanistan bis zur Wiederherstellung dauerhafter staatlicher Institutionen", mit dem die ISAF geschaffen wurde, ließen dies auch realistisch erscheinen. Die Nachfolgekonferenz am 2. Dezember 2002 an gleicher Stelle verkündete auch tatsächlich große Erfolge. Dennoch besteht die Gefahr, dass das Land wieder in einem Chaos versinkt vergleichbar der Situation, die vor 1996 der Herrschaft der Taliban den Weg bereitet hat.

Die Warlords

Lokale Milizenführer, so genannte Warlords, nutzen ethnische Konfliktpotentiale, um ihre persönliche Machtbasis zu erweitern. Sie füllen die Gefängnisse und sorgen für neue Flüchtlingsströme innerhalb Afghanistans. Wegelagerei, Plünderungen, Rauschgifthandel, die Pflege von Allianzen mit Verbündeten jenseits der Grenzen und massive Unterstützung durch die Anti-Terror-Allianz haben ihnen neues Geld und alte Waffen verschafft. Diese Warlords sind bestrebt, das Land in ein Gleichgewicht der Mächte im Kleinen aufzuteilen. In Bezug auf ihren Einfluss in Kabul arbeiten sie zusammen, ansonsten kämpfen sie gegeneinander und gegen jeden, der ihre lokale Machtbasis infrage stellt. Die bekanntesten unter ihnen sind der Tadschike Daoud Khan, der Usbeke Abdul Rashid Dostum, der Tadschike Ustad Atta Mohammad im Norden, der Tadschike Ismail Khan und der Paschtune Amanullah Khan im Westen, Dadshah Khan Zadran und Kakini Taniwal im Südosten, Gul Agha Sherzai in Kandahar, und der Hazara Karim Khalili in Zentralafghanistan. Diese "großen" Warlords stehen für ein System sich bis in die letzte Kleinstadt verzweigender Loyalitäten von Militärkommandanturen, das in der Zeit des Widerstands gegen die Sowjetunion seinen Sinn hatte, nun aber geografische Fragmentierung und das Versinken des Landes in soziales Chaos bedeutet. Die Regierung in Kabul ist gegen dieses System machtlos, um so mehr seit Warlords in Gestalt des Verteidigungsministers Mohammad Qasim Fahim und seines Stellvertreters Abdul Rashid Dostum durch die Loya Jirga, die Großen Ratsversammlung im Juni 2002, an der Regierung beteiligt wurden.

Die Mujahiddin-Truppen, die seit 1973, Jahre vor der Übernahme der Macht durch die moskautreue PDPA (People's Democratic Party of Afghanistan / Demokratische Volkspartei Afghanistans), in Pakistan aufgebaut wurden, erwarben sich während der sowjetischen Besatzung zwischen April 1978 und Februar 1989 ihren Ruf als Freiheitskämpfer. Doch ihre Führer mit dem Tadschike Burhanuddin Rabbani und dem Pashtunen Gulbuddin Hekmatyar an der Spitze hatten nicht nur die Befreiung Afghanistans zum Ziel, sondern wollten zugleich eine angemessene Machtbasis für ihre jeweils eigenen ethnisch-religiös geprägten Parteien erkämpfen. Das sie einigende Element gegen die Kabuler "Atheisten" war ein Islam fundamentalistischer Prägung.

1992 brach die PDPA endgültig zusammen und die Konflikte, die sich nun in interfraktionellen Kämpfen der ehemaligen Mujahiddin-Gruppen austobten, verschärften sich. Waffenarsenale aus 13 Kriegsjahren und die Unterstützung fremder Mächte lieferten das Material. Vor allem Indien, Iran, Pakistan, Tadschikistan, Usbekistan, Libyen, Saudi-Arabien und der Sudan verbanden ihre Partikularinteressen mit afghanischer Politik.

Kabul wurde zum Miniaturschauplatz dieses neuen Krieges. Von April 1992 bis September 1996 verwandelten die Mujahiddin-Gruppen ihre Hauptstadt, die vorher vom Krieg nahezu verschont geblieben war, in einen Trümmerhaufen. Hezb-e-Islami-Führer Hekmatyar, im Dezember 1992 zum Premierminister des Islamischen Staates Afghanistan gewählt, verweigerte mit dem Verweis auf den permanenten Raketenbeschuss die Teilnahme an den Kabinettssitzungen. Es waren die Raketen seiner eigenen Milizionäre. Die selbstverschuldete Ohnmacht der Zentralregierung hatte eine Fraktionierung des ganzen Landes in die Einflussgebiete der einzelnen Warlords zur Folge, wie sie auch jetzt, wenn auch unter andern Voraussetzungen, wieder droht .

Das Leid der Bevölkerung unter diesem Bürgerkrieg war groß. Eine Familie, die 1993 von Kabul nach Pakistan flüchtete, berichtete einem Researcher von Amnesty International über eine Steinigung, die sie in Sarobi nahe Jalalabad mit ansehen mussten: "'Wir sahen viele Menschen am Fluss stehen. Man erzählte uns, dass eine Frau am Fluss gesteinigt würde. Wir gingen hin und ich sah, wie sie gesteinigt wurde. Man erzählte uns, dass sie mit einem Hezb-e-Islami-Kommandanten, der nach der Heirat verschwunden war und acht Jahre lang nichts von sich hören ließ, verheiratet war. Der Vater der Frau hatte ihr erlaubt, einen anderen Mann zu heiraten. Jetzt war der Kommandant zurückgekehrt und hatte von der neuen Heirat erfahren. Er hatte seinen Leuten befohlen, die Frau aufzusuchen und zu steinigen."

Dem Wüten der Soldateska fielen zwischen 1992 und 1995 allein in Kabul 25 000 Menschen zum Opfer, die nicht an den Kämpfen beteiligt waren. Doch das Interesse der Weltöffentlichkeit wendete sich Afghanistan erst Ende September 1996 wieder zu, als die Taliban die afghanische Hauptstadt Kabul unter ihre Kontrolle brachten. In den bereits zuvor im Süden und Westen von ihnen eroberten Gebieten hatten sie ein Regime errichtet, unter dem sich eine fundamentalistische, von einer regierungsnahen pakistanischen Bruderschaft geborgte, Auslegung des Islam mit lokalen Stammestraditionen (Pashtun-Vali) verband. Ein Firmenkonsortium unter US-amerikanischer Leitung lobte die Talibanherrschaft dennoch weiterhin in der Öffentlichkeit. Der von den Taliban herzustellende "Friede" sollte den Bau einer Ölpipeline von Zentralasien zum Indischen Ozen ermöglichen. Und Pakistan verstärkte hinter den Kulissen die direkte Unterstützung der international mehr und mehr isolierten Taliban mit Waffen, Logistik und Soldaten.

Im November 2001 beendete die internationale "Allianz gegen den Terror" unter Führung der US-Streitkräfte zusammen mit der afghanischen Nordallianz die Herrschaft der Taliban über 95 Prozent Afghanistans erfasst hatte. Nur noch die Taliban-Hochburg Kandahar und Rückzugsgebiete in abgelegenen von Paschtunen dominierten Gebirgsregionen konnten sich halten. In der Hoffnung auf schnelle Erfolge beim Aufspüren von al-Qaeda- und Taliban-Kämpfern verbündete sich die Anti-Terror-Koalition jedoch mit derselben Klasse lokaler Militärkommandanten, die schon einmal Afghanistan und seine Menschen zerstört hatten. Bei den Wahlen für die Loya Jirga, konnten auch internationale Beobachter nicht verhindern, dass die Warlords ihren Einfluss brutal verstärkten. Die US-amerikanische Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat mehrere Berichte vorgelegt, in denen die Rolle der Warlords dokumentiert wird.

Ismail Khan hatte schon nach 1992 ein quasi unabhängiges Fürstentum in der Umgebung Herats im Nordwesten Afghanistans geschaffen. Mit Hilfe US-amerikanischer Unterstützung scheint ihm dies nun wieder zu gelingen. Am 13. Dezember 2001 hatten seine Milizen Herat von den Taliban zurückerobert. Am 21. Dezember fand dort eine Demonstration von Unterstütztem des damals im italienischen Exil lebenden ehemaligen Königs Zahir Shah, für die Petersberger Konferenz und für Demokratie in Afghanistan statt. Dabei folterten Ismail Khan und sein Sohn höchstpersönlich den 70-jährigen Abu Bakar Barez, der 10 Tage im Gefängnis verbringen musste. Nur mit der Auflage, über seinen Fall zu schweigen, kam er dann frei.

In der Provinz Zabul im paschtunischen Süden Afghanistans herrscht unangefochten Gouverneur Tokhi, ein mit Hezb-e-Islami (Hekmatyar) verbündeter Warlord, der die antiamerikanische Einstellung Hekmatyars teilt. Bei den Wahlen zur Loya Jirga präsentierte er seine eigenen Kandidaten. Der unabhängige H., der sich ebenfalls um eine Kandidatur bewarb, wurde massiv eingeschüchtert. Seine Bewerbungsunterlagen wurden von einem Vertreter Tokhis abgefangen, der sich weigerte, sie an die Wahlkommission weiterzureichen. Tokhi bedrohte Kandidaten, die nicht von ihm selbst vorgeschlagen waren. Auch H. erhielt einen Drohbrief. Außerdem besuchte ihn ein Vertreter Tokhis, der ihm empfahl, nicht zu einer Wahlveranstaltung zu gehen, da dies gefährlich für ihn sei. Also setzte sich H. nach Kandahar ab, um sich in Abwesenheit von Freunden wählen zu lassen. Sechs unabhängige Kandidaten und drei zur tadschikischen Minderheit gehörende Personen, die für eine Teilnahme an der Wahl geworben hatten, wurden inhaftiert. Die Wahl wurde später wegen dieser und anderer Unregelmäßigkeiten für ungültig erklärt.

Die International Security Assistance Force / ISAF

Mitte Februar 2003 werden die Bundeswehr und die Armee der Niederlande das Oberkommando der ISAF (International Security Assistance Force) übernehmen. In Bonn am 5. Dezember 2001 gefordert und durch Resolution 1386 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen am 20. Dezember 2001 ins Leben gerufen, hat die ISAF die Aufgabe, während eines Zeitraumes von sechs Monaten "die Afghanische Interimsbehörde bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit in Kabul und Umgebung zu unterstützen, damit die Afghanische Interimsbehörde wie auch das Personal der Vereinten Nationen in einem sicheren Umfeld tätig sein können". In der Bonner Erklärung wird in Anhang I (3) (Internationale Sicherheitstruppe) die Möglichkeit eröffnet, die Sicherheitstruppe "könnte gegebenenfalls nach und nach auch in anderen Städten und Gebieten eingesetzt werden." Am 27. November 2002 wies der deutsche Außenminister Joschka Fischer bei einem Besuch in Kabul den ausdrücklichen Wunsch des afghanischen Präsidenten Hamid Karzai, das Einsatzgebiet der ISAF entsprechend auszuweiten, unter Verweis auf die ISAF-Resolution zurück. Die Herrschaft der Warlords, die sich vorm allem auf die Gebiete außerhalb Kabuls negativ auswirkt, kann bei der Beschränkung des ISAF-Einsatzgebietes auf Kabul und Umgebung nicht beendet werden Da die ISAF auch für den Schutz der Mitarbeiter der UNAMA (United Assistance Mission in Afghanistan) verantwortlich ist, ist die internationale Beobachtung von Menschenrechtsverletzungen kaum zu bewerkstelligen. UNAMA-Mitarbeiter bleiben auch zukünftig auf das Wohlwollen lokaler Kommandeure und Warlords angewiesen, wenn sie die Menschenrechtslage außerhalb der Hauptstadt überwachen wollen. Und wie soll die von der Ärztin Sima Samar geleitete Afghanische Menschenrechtskommission ihre Arbeit aufnehmen, wenn nicht unter dem Schutz der ISAF - bei einem Verhältnis von allein 30 000 Milizionären gegenüber jetzt 1 600 Soldaten der nationalen Armee.

Afghanische Sicherheits- und Streitkräfte

Die afghanischen Sicherheits- und Streitkräfte sind dem Innenministerium unterstellt. Sie setzen sich zum größten Teil aus Personen zusammen, die während vieler Jahre ihren Beitrag zur "Warlordisierung" Afghanistans geleistet haben, zuerst als Mujahiddin gegen die sowjetische Besatzung, dann als Milizen eines Warlords oder einer der Parteien, die in Kabul um die macht kämpften, zuletzt in einer der Fraktionen der Nordallianz gegen die Taliban. Sie waren mitverantwortlich für die Verbrechen an der Zivilbevölkerung. Für den Schutz einer Zivilgesellschaft sind sie nicht ausgebildet.

Als am 11. November 2002 in Kabul 250 Studenten friedlich gegen die schlechten Studien- und Lebensbedingungen protestierten, eröffneten nach Angaben von Human Rights Watch afghanische Sicherheitskräfte das Feuer, verletzten 20 Studenten und töteten drei. Am nächsten Tag wurden bei neuerlichen, nun gewaltsamen, Protesten gegen das Vorgehen der Polizei wieder einige Teilnehmer verwundet. Sicherheitskräfte gingen anschließend sogar ins Krankenhaus und schlugen die Verletzten, die über diese Art der "Aufstandsbekämpfung" schweigen sollten. Die ISAF griff bei beiden Demonstrationen nicht ein.

Die ISAF kann nur eine Übergangslösung für das drängende Problem der inneren Sicherheit in einem im Aufbau befindlichen Staatswesen sein. Gerade deshalb ist auchPunkt 10 der Resolution 1286 (2001) von besonderer Wichtigkeit, "der Afghanischen Interimsbehörde bei der Aufstellung und Ausbildung neuer afghanischer Sicherheits- und Streitkräfte behilflich zu sein".

Afghanistan hat folgende wichtigen Menschenrechtskonventionen ratifiziert, d.h. in die eigene Gesetzgebung überführt:

     

  • Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte

  • Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

  • Übereinkommen über die Rechte des Kindes

  • Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung

  • Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe

  • Bisher nur unterzeichnet wurde das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau