17.10.2006

Indigene Gemeinschaften von Genozid bedroht

Internationale Fact-Finding-Mission in Kolumbien:

Angesichts der Krise, der sich indigene Gemeinschaften in Kolumbien seit Jahren gegenüber sehen, beriefen mehrere regionale Räte sowie die nationale Dachorganisation ONIC (Organización Nacional Indígena de Colombia) eine unabhängige internationale Mission, um die Lage der Menschenrechte und der humanitären Situation indigener Völker in Kolumbien zu überprüfen (Misión Internacional de Verificación sobre la Situación Humanitaria y Derechos Humanos de los Pueblos Indígenas de Colombia). Die Mission setzte sich zusammen aus Mitgliedern von Menschenrechtsorganisationen und zivilgesellschaftlichen Gruppen aus Europa, Lateinamerika, USA und Kanada mit Beobachtern der Vereinten Nationen, der Schweizer und der deutschen Botschaft, der Europäischen Kommission und der Organisation Amerikanischer Staaten.

Die indigenen Organisationen nahmen mit der Berufung einer Mission eine Anregung des UN-Sonderberichterstatters für indigene Völker, Rodolfo Stavenhagen, aus dem Jahr 2004 auf. Dieser hatte damals ebenfalls die Lage der Menschenrechte indigener Völker im Land untersucht und mehrere Empfehlungen zur Verbesserung ihrer Lage abgegeben. So stand jetzt nicht zuletzt die Überprüfung an, inwieweit die kolumbianische Regierung diesen damaligen Empfehlungen gefolgt ist. Insgesamt sollte die Mission einen Bericht für die internationale Öffentlichkeit anfertigen, um gegenüber der kolumbianischen Regierung die Umsetzung und Einhaltung der Vereinbarungen mit indigenen Völkern anzumahnen.

Die Mission war zwischen dem 19. und 29. September 2006 in fünf Regionen Kolumbiens unterwegs: in der Sierra Nevada de Santa Marta (Karibikküste), im Alto Sinú im Department Córdoba (Nordwesten), in den Departments Arauca (Osten), Guaviare (Südosten) und Cauca (Süden). Zum einen wurden Interviews mit Angehörigen indigener Gemeinschaften und Organisationen geführt und Zeugnisse von Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts entgegen genommen. Zum anderen führte die Mission Gespräche auf lokaler und regionaler Ebene mit Vertretern von Behörden, Militärs und staatlichen Sicherheitsdiensten, auf nationaler Ebene Repräsentanten verschiedener Institutionen der Vereinten Nationen, mit Mitgliedern des diplomatischen Corps (G-24-Länder), der Zentralregierung und der Sicherheitsbehörden. Außerdem nahm die Mission die Gelegenheit zur Teilnahme an zwei Konferenzen wahr, die sich ebenfalls mit Menschenrechten indigener Völker beschäftigten; das nationale Forum indigener Frauen sowie das nationale Forum für das Leben indigener Völker.

Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts

In einer auf den 28. September datierten und am darauffolgenden Tag veröffentlichten Erklärung stellt die Mission fest, dass Angehörige indigener Völker und ihrer Organisationen weiterhin Opfer von Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts sind. Dies umfasst politisch motivierte Morde, Verschwindenlassen, massenhafte und willkürliche Verhaftungen, Folter und andere unmenschliche Behandlungen, ungerechtfertigte Durchsuchungen, Denunzierungen, grundlose Gerichtsverfahren und Anklagen, permanente Straßensperren und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit. Außerdem werde das Recht auf einen fairen Prozess nicht ausreichend beachtet und auch die Autonomie- und Landrechte würden nur mangelhaft respektiert. Einige Maßnahmen der Regierung zur Aufstandsbekämpfung wirken sich ebenfalls zu Lasten der indigenen Bevölkerung aus; etwa das Netz informeller Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden, die Bewaffnung von Kleinbauern, Spezialeinheiten des Militärs für das Gebirge, mobile Einsatzkommandos, Spezialeinheiten zu Demonstrationen und sonstige Sondereinheiten der staatlichen Sicherheit.

Die Mission musste feststellen, dass bewaffnete Gruppen – staatliche Sicherheitsorgane, Guerilla und paramilitärische oder demobilisierte paramilitärische Verbände das humanitäre Völkerrecht ebenfalls schwer verletzen. Die Mission konnte sich zum Teil an Ort und Stelle ein Bild davon machen, wie staatliche Sicherheitskräfte inmitten indigener Gemeinden Polizei- und Militärposten, Barrikaden und Vorposten errichtet hatten, wissend, dass diese bevorzugte Angriffsziele der Guerilla darstellen. Die Repräsentanten der Selbstverwaltung in den autonomen Landkreisen wurden in der Regel nicht um Erlaubnis gefragt. Straßensperren des Militärs schränkten die freie Bewegung der lokalen Bevölkerung, den Transport von Lebensmitteln, Medizin und anderen Gütern des täglichen Lebens ein. Bewaffnete Gruppen sowohl der Guerilla als auch der Paramilitärs zwingen indigene Jugendliche in ihre Reihen. Alle bewaffneten Akteure sind an Morden beteiligt und okkupieren nicht zuletzt solche Flächen, die indigene Gemeinden speziell als Zuflucht vor Kämpfen ausgesucht haben. In den bewaffneten Auseinandersetzungen verstoßen die Parteien in aller Regel gegen die Genfer Konvention zur Kriegsführung, die eine besondere Rücksichtnahme gegenüber der Zivilbevölkerung vorschreibt.

Zum momentanen Prozess der Demobilisierung paramilitärischer Gruppen merkt die Mission an, dass dieser Vorgang das Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Entschädigung auf Seiten der Opfer verletzt. Die Regierung des Präsidenten Uribe hatte mit den paramilitärischen Gruppen ein Abkommen ausgehandelt, in dem diese ein Ende ihrer militärischen Operationen zusagten, während der Staat weitgehend auf Strafverfolgung verzichtete. Die Mission hörte Zeugen an, die erklärten, dass in einigen Gebieten die Demobilisierung nur auf dem Papier stattfindet. Die Paramilitärs würden weiterhin Verbrechen begehen und die Bevölkerung einschüchtern. Darüber hinaus hätten sich demobilisierte Gruppen in normale Kriminelle verwandelt, würden spionieren, denunzieren und die Gemeinschaften sowie ihre Repräsentanten unter Druck setzen.

Die Mission setzte sich auch mit Megaprojekten und ihren Folgen für indigene Gemeinschaften auseinander. Solche Projekte umfassen den Ausbau der Infrastruktur zu Land, auf dem Fluss und zur See, die Ausbeutung von Mineralien und Kohle, Wasserkraftwerke, die Ausbeutung der biologischen Vielfalt und Monokulturen etwa für die Gewinnung von Palmöl oder Kautschuk. Dortige Megaprojekte beeinträchtigen die Umwelt in schwerwiegender Weise oder zerstören sie gar und unterbrechen den gewohnten Produktionszyklus für Nahrungsmittel. Zerstört wird auch der Bezug zur Natur als Kultur- und spiritueller Raum. Besonders bemängelt wurde, dass die einem Projekt vorhergehenden Verfahren der Konsultation mit den betroffenen Gemeinschaften nicht eingehalten werden; ein klarer Verstoß gegen die Normen der von Kolumbien ratifizierten ILO-Konvention 169 sowie zusätzlicher nationaler Regelungen zur Anhörung.

Außerdem droht eine nachhaltige Verletzung der kollektiven Rechte indigener Gemeinschaften an Land, Wald, Wasser und natürlichen Rohstoffen. Die Regierung Uribe hat mehrere Gesetzesprojekte in das Parlament eingebracht, das selbst Nutzungsrechte an Wald und Wasser zugunsten kommerzieller Verwendung einschränken will. Die Hochebenen des ökologisch hochwertigen Páramo sollen hingegen von einer Nutzung radikal ausgenommen werden; als ob sich der Páramo unabhängig von den dort lebenden indigenen Gemeinschaften gebildet hätte. Schließlich stellen die geplanten Richtlinien des Staates für die zukünftige ländliche Entwicklung natürliche Ressourcen unter den Vorbehalt des ‚nationalen Interesses‘; d.h. die lokale Bevölkerung muss im Zweifelsfall eine Nutzung durch Dritte gewähren. Würden die Zugänge zu diesen Bereichen entsprechend den Gesetzesvorhaben eingeschränkt, droht jedoch eine soziale und wirtschaftliche Marginalisierung bis hin zum Verschwinden kompletter Gemeinschaften. Immerhin tragen all die genannten Ressourcen bislang ganz wesentlich zum wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben der Gemeinschaften bei. Schließlich listet der Bericht der Mission Versäumnisse und Vernachlässigungen in den Bereichen Ausbildung und Gesundheit seitens der staatlichen Politik auf.

Der Bericht der Mission widmet einen längeren Abschnitt der Lage der indigenen Frauen und äußert ihre Besorgnis vor allem über sexuellen Missbrauch, Vergewaltigung und Betrug an indigenen Frauen und Mädchen durch Angehörige der Sicherheitskräfte. Wenn diese Minderjährige schwängerten, würden die zuständigen staatlichen Einrichtungen keine Verantwortung übernehmen.

Die Mission nahm außerdem Zeugnisse und Informationen über Besprühungen indigener Territorien mit Chemikalien aus der Luft entgegen, die allerdings nicht nur die Koka-Pflanzen zum Welken bringen, sondern auch andere Nutzpflanzen, Tiere und Menschen in Mitleidenschaft ziehen. Auch hier führt der Staat Maßnahmen durch, die indigene Gemeinden direkt betreffen, ohne die vorgeschriebenen Konsultationsverfahren einzuhalten. Die Besprühungen bedrohen die Nahrungssicherheit und die Gesundheit der lokalen Bevölkerung. Entschädigungen für fehl geleitete Besprühungen sind nur schwer durchzusetzen.

Der Bericht informiert darüber hinaus über die Kampagne "Befreiung der Mutter Erde". Dabei streben indigene Gemeinden die Ausweitung ihrer Territorien an, weil ihre ursprünglichen Gebiete für die wachsende Zahl ihrer Mitglieder nicht ausreichen. Gleichzeitig hat die Konzentration des Landbesitzes sowie umgekehrt die Zahl der Toten unter Landbesetzern in den letzten Jahren enorm zugenommen. Kommt hinzu, dass die Regierung Abmachungen über die Rückgabe von Land wiederholt nicht eingehalten hat.

Schließlich drückt die Mission ihr Bedauern aus, dass sie mit einigen einschlägigen Stellen des Staates kein Gespräch führen konnte; so mit der für Menschenrechte zuständigen Kanzlei des Vizepräsidenten, mit der Abteilung für ethnische Fragen beim Innenministerium und dem Ministerium für Bergbau und Energie. Die Mission zieht den Schluss, dass der politische Wille dafür gefehlt hat.

Aus ihren Beobachtungen und Analysen zog die Mission die Schlussfolgerung, dass sich die Lage der indigenen Völker Kolumbiens seit der Visite Rodolfo Stavenhagens 2004 nicht nur nicht verbessert, sondern verschlechtert hat, und die Regierung dessen Empfehlungen nur ungenügend umsetzt.

In manchen Fällen droht indigenen Gemeinschaften in Kolumbien nicht mehr "nur" allein eine humanitäre Krise, sondern die Auslöschung. Die Systematik der Menschenrechtsverletzungen und der Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht haben zu Teilen ein Ausmaß angenommen, das die Grenzen zum Genozid überschritten zu sein scheinen. Selbst die von der interamerikanischen Menschenrechtskommission und dem interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte angeordneten Maßnahmen drohen zu verpuffen. Die Regierung Kolumbiens und die internationale Gemeinschaft werden aufgerufen, dringend etwas gegen diese Gefahr zu unternehmen.

Die Empfehlungen der Mission richten sich zum einen an den UN-Sonderberichterstatter Rodolfo Stavenhagen, in nächster Zeit eine Folgevisite durchzuführen und von den staatlichen Organen eine effektive Antwort auf die angesprochenen Probleme einzufordern. An die Europäische Union und die Staaten der Gruppe der 24 richtet sich der Appell, entsprechend den Vereinbarungen von London und Cartagena die Lage der Menschenrechte indigener Völker in Kolumbien verstärkt und detaillierter zu beobachten.

An die Regierung Kolumbiens werden mehrere Forderungen gestellt. Die Vereinbarungen mit indigenen Gemeinschaften über die Vergabe von Landtiteln und zivilen Konfliktlösungen sollen nicht verwässert werden. Desgleichen sollen sich die staatlichen Sicherheitskräfte aus den Wohnsiedlungen der Gemeinden zurückziehen. Die Regierung solle die indigenen Territorien als Orte des Friedens respektieren sowie eine integrale Politik entwickeln, um die vom Verschwinden bedrohten Gemeinschaften zu schützen. Die bewaffneten Akteure fordert die Mission auf, die Rechte der indigenen Völker auf Territorium, Autonomie und Leben sowie das humanitäre Völkerrecht zu respektieren.

Soziale, nationale und internationale Organisationen werden aufgerufen, zu einem Moratorium für Megaprojekte beizutragen, soweit sie indigene Territorien betreffen. Das Moratorium solle solange gelten, bis sichergestellt werden kann, dass die Verfahren zur Konsultation effektiv und buchstabengetreu durchgeführt werden. Die ‚Lebenspläne‘ indigener Gemeinschaften, Selbstverwaltung und Schutzmaßnahmen der Gemeinden sollen Unterstützung erfahren. Die Mission spricht schließlich auch ihre Solidarität mit den afroamerikanischen Gemeinschaften und Kleinbauern aus, die zum Teil unter sehr ähnlichen Umständen leben müssen.

Teilnehmende der Internationalen Mission:

Michel Neveu (Bürgermeister und Ratsmitglied der Region Loire-Atlantique), Beverly Jacobs (Präsidentin der Vereinigung indigener Frauen in Kanada), Efraín Calapucha (Mitglied der indigenen Dachorganisation CONAIE in Ecuador), Franklin Toala (ebenfalls CONAIE, Ecuador), Charlie Roberts (Comité para los Derechos Humanos de Colombia a Washington, USA), Oswald Iten (Journalist der Neuen Züricher Zeitung, NZZ), David Bruer (Interpares Kanada), Natalia Cardona (Comité Andino de Servicios, USA), Andrew Fandino (Koordinator des Projekts zur Verteidigung der U`wa von Amazon Watch, USA), Anne Vereecken (Comité Daniel Gillard, Belgien), James Patton (Comitè Andino de Servicios, USA), Giuseppe de Marzo (Asociaciòn A Sud, Italien), Maria Eugenia Cardenas (Derechos y Democracia, Kanada), Jessica Eby (Wola, USA), Richard Solly (Colombia Solidarity Campaign, Großbritannien), Michel Thuaul (Asociación Campesina, Frankreich), Vemund Olsen (Human Rights Everywhere, Norwegen), Carmen Maria Lang (Ayuda Popular Noruega América Latina), Philippe Matray (belgischer Unterstützer), Nieves Laborda (Präsidentin der Acción Solidaria Aragonesa, Spanien), José Antonio Gutiérrez (Latin American Solidarity Centre, Irland), Dunja Van Kleef (Fucai, Niederlande), Dag Kavlie (Universität Bergen, Norwegen).

Begleitet wurde die Mission von Mitgliedern kolumbianischer Einrichtungen: PCS. SUIPPCOL, COLECTIVO DE ABOGADOS JOSE ALVEAR RESTREPO, CENSAT, HUMANIDAD VIGENTE, CECOIN, DIAL sowie Beobachtern der UNO (Institutionen PNUD, OACNUDH, ACNUR und OCHA), der Botschaft der Schweiz und Deutschlands, einer Delegation der Europäischen Kommission und der Organisation Amerikanischer Staaten (MAPP).

Quellen: >/H3>

ONIC, Boletín 135, 28.09.2006

Minga Informativa de Movimientos Sociales, movimientos.org