09.08.2007

Indien 60 Jahre unabhängig

Menschenrechtsreport Nr. 49: Für Adivasi kein Grund zum Feiern

1. Zusammenfassung

Die rapide voranschreitende wirtschaftliche Entwicklung Indiens hat sich zu einer großen Bedrohung für viele der mehr als 80 Mio. Ureinwohner des Landes entwickelt, die offiziell als "Tribals" bezeichnet werden, selbst aber den Namen Adivasi bevorzugen. Aufgrund des stetig wachsenden Bedarfs an Land, Energie und Bodenschätzen entstehen immer mehr Bergbau-, Industrie- und Infrastrukturprojekte in den entlegenen aber ressourcenreichen Siedlungsgebieten der Adivasi (siehe Abschnitt 4. zum Uranabbau). Vor allem in ihren Hauptsiedlungsgebieten in der Mitte und im Nordosten Indiens sind bereits Millionen Indigene zum Opfer von Umsiedlungen und Vertreibungen geworden (vgl. die Tabelle weiter unten). Weitere werden folgen. Denn Staat und Wirtschaft betrachten die Adivasi vorwiegend als ein Hindernis für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes.

Dementsprechend sind sie auch bei der Wahl ihrer Mittel wenig zimperlich. Lügen, Drohungen, falsche und gebrochene Versprechen – speziell hinsichtlich der Entschädigungsleistungen – sind an der Tagesordnung (vgl. Abschnitt 6). Auch der Einsatz von Gewalt ist bei hartnäckigerem Widerstand nicht ungewöhnlich. Derartige Fälle ereignen sich immer häufiger, da inzwischen viele Adivasi erkannt haben, dass sie bei der Abtretung ihres Landes kaum eine angemessene Entschädigung zu erwarten haben. Über die indischen Grenzen hinaus bekannt geworden ist insbesondere der auch von der Schriftstellerin Arundathi Roy unterstützte Protest gegen den Staudammbau am Flusssystem der Narmada (siehe Abschnitt 5.). Der zunehmende Widerstand zeigt, dass den Adivasi sehr bewusst ist, dass es bei diesem Kampf nicht nur um den Erhalt ihrer traditionellen Lebensgrundlagen geht. Auf dem Spiel steht das Überleben ihrer gesamten Kultur, die sich auf einer spirituellen Bindung zu dem Land, auf dem sie seit Generationen leben, gründet. Als Alternative bleibt ihnen oft nur eine Existenz als Tagelöhner in der Anonymität der schnell wachsenden Städte.{bild1}

In Anbetracht dieser Tatsache ist es wenig erstaunlich, dass die Schärfe und Zahl der Proteste seit der Jahrtausendwende erheblich zugenommen hat. In den letzten Jahren gab es bei Auseinandersetzungen mit der Polizei vor allem in Kalinganagar, Muthanga und im Koel-Karo-Gebiet zahlreiche Tote und Verletzte (siehe Abschnitt 6.). Die zunehmende Eskalation des Konflikts zeigt deutlich die gewaltige Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der indischen Verfassung, die im Hinblick auf Minderheitenrechte als sehr fortschrittlich gilt. Ähnlich verhält es sich mit der in zahlreichen Gesetzen vorgesehenen Förderung der Adivasi, die von vielen Bundesstaaten nur zögerlich oder überhaupt nicht in Angriff genommen wird. In der Folge sind bis jetzt so gut wie alle staatlich initiierten Quotenregelungen, Förderprogramme und Hilfsleistungen weitgehend wirkungslos geblieben. Nach wie vor liegen die Adivasi in punkto Bildung, Gesundheit und Ernährungssicherheit weit hinter dem Landesdurchschnitt zurück. Nicht selten verschwinden auch die für sie bereitgestellten Mittel in dunklen Kanälen.

Nichts desto trotz scheint in Indien auch dank des zunehmenden Widerstands – insbesondere seit dem Regierungswechsel im Jahr 2004 – langsam ein Umdenkprozess in Gang zu kommen. Das zeigt sich vor allem in dem neuen, Anfang 2007 in Kraft getretenen Forstgesetz: In diesem wird zum ersten Mal ausdrücklich die Bedeutung der Adivasi für Schutz und Bewahrung der Wälder anerkannt und ihnen das Recht, dort zu leben, zugestanden.

Gleichzeitig allerdings nimmt der Druck, der von der wirtschaftlichen Expansion ausgeht, weiter zu. Beinahe täglich werden gigantische Industrieprojekte verkündet und neue Sonderwirtschaftszonen ausgewiesen. Der Kampf der Adivasi um den Erhalt ihrer Kultur wird so immer mehr zu einem Wettlauf gegen die Zeit. Daher müssen dem durchaus bedeutsamen gesetzlichen Schritt in die richtige Richtung – vor allem bei der Umsetzung in der täglichen Praxis – schnell weitere folgen. Je eher – desto besser. Ansonsten werden die Adivasi zu den großen Verlierern des indischen Wirtschaftsbooms gehören.

2. Forderungen der GfbV

Die Adivasi sind Jahrhunderte lang ausgegrenzt, vertrieben und diskriminiert worden. Bereits die Verfassung des unabhängigen Indien hat dies anerkannt und ihnen besondere Minderheitenrechte zugestanden. 60 Jahre später haben sich die Lebensbedingungen der Adivasi kaum verbessert. Im Zuge der rapiden wirtschaftlichen Entwicklung Indiens sind ihre Kultur und ihre naturverbundene Lebensweise sogar gefährdeter denn je. Die Gesellschaft für bedroht Völker (GfbV) fordert deshalb:

Anerkennung traditioneller Landrechte und Schutz vor gewaltsamer Vertreibung

Die Landrechte der Adivasi beruhen auf ihrer spirituellen Verbindung zu dem Land, das sie oft seit Jahrhun derten bewohnen. Da sie nur selten über Besitzurkunden verfügen, werden ihre Rechte oft von der staatlichen Forstverwaltung und im Rahmen von Infrastruktur- und Industrieprojekten ignoriert.Von überragender Bedeutung ist daher die eindeutige und uneingeschränkte rechtliche Anerkennung der Landrechte der Adivasi sowie ihre praktische Durchsetzung. Nur auf ihrer Grundlage sind eine selbstbestimmte Entwicklung der Adivasigemeinschaften und ihre Integration in das demokratische Indien überhaupt möglich.

Beteiligungsrechte

In Gegenwart wie Vergangenheit sind große Industrie- und Infrastrukturprojekte in Indien oft über die Köpfe der in vielen Fällen betroffenen Adivasi hinweg geplant worden. Die Stärkung und sorgfältige Beachtung ihrer Beteiligungs- und Anhörungsrechte sind jedoch nbedingt notwendig. Nur im intensiven und ernsthaften Dialog mit den Betroffenen ist es möglich, unnötige Beeinträchtigungen zu vermeiden oder zu minimieren und eine zufriedenstellende Form der Entschädigung finden.

Institutionelle Vertretung und Selbstbestimmung stärken

Das Ministry of Tribal Affairs (seit 1999) und die National Commission for Scheduled Tribes (seit 2004), die sich um die Belange der Adivasi kümmern sollen, sind bis jetzt weitgehend ineffektiv. Die Politik des Ministeriums wird von den Adivasi oft als paternalistisch empfunden. Die auf dem Papier mit umfassendem Auftrag und weitgehenden Rechten ausgestattete Kommission befindet sich im Aufbau. Als am effektivsten erwiesen hat sich bislang die nicht in allen Bundesstaaten umgesetzte und oft hinausgezögerte Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung der Adivasi durch den PESA-Act von 1996. Erforderlich ist daher eine Ausrichtung der Politik des Ministeriums an den wirklichen Interessen der Adivasi, die Bereitstellung finanzieller, personeller und organisatorischer Mittel, um die Arbeitsfähigkeit der Kommission zu gewährleisten sowie die zügige und umfassende Umsetzung des PESA-Acts in allen Bundesstaaten.

Faire Entschädigung und Wiedergutmachung begangenen Unrechts

Seit Staatsgründung sind Millionen Adivasi von ihrem Land vertrieben worden, ohne dass sie dafür eine angemessene Entschädigung erhalten hätten. Die GfbV fordert eine Wiedergutmachung des in diesem Zusammenhang begangenen Unrechts – wenn möglich in Form der Rückgabe des enteigneten Landes an die Betroffenen oder ihre Nachkommen oder eine angemessene Entschädigung vorzugsweise in qualitativ vergleichbarem Land, ohne dass dabei der Zusammenhalt der Dorfgemeinschaften zerstört wird.

Für aktuelle Fälle muss der bestehende Vorrang der Entschädigung in Land auch in der Praxis streng beachtet werden. Eine Entschädigung in Geld darf nur die Ausnahme darstellen und muss dem tatsächlichen Wert des Landes entsprechen. Weiterhin ist zu beachten, dass Entschädigungsfälle geregelt sein müssen, bevor Projekte verwirklicht und auf diese Art Fakten geschaffen werden.

Verbesserung von Gesundheitsversorgung, Bildung und Ernährungssicherheit

Die Situation der Adivasi in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Ernährung ist deutlich schlechter als im Landesdurchschnitt. Bereits existierende Programme haben in diesen Bereichen die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt. Die gesamte Förderung sollte daher unter Mitwirkung der Adivasi von Grund auf reformiert werden. Da die drei Bereiche nicht isoliert voneinander betrachtet werden können, muss die Reform unbedingt einen integrierten und ganzheitlichen Ansatz verfolgen.

Schutz vor Diskriminierung und Gewalt

Jedes Jahr werden zahlreiche Adivasi Opfer von rassistisch motivierter Gewalt. Obwohl spezielle Straftatbestände für diese Fälle existieren, werden sie von Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichten weit weniger intensiv verfolgt als die Fälle, in denen Nicht-Adivasi betroffen sind.

Klare rechtliche Regelungen und derne Umsetzung

Es existieren viele Gesetze, die ihrem Zweck nach die Situation der Adivasi verbessern sollten. Leider sind sie oft in sich widersprüchlich oder mangelhaft abgestimmt mit konkurrierenden Gesetzen. Im Ergebnis führt dies zu einem übergroßen Ermessensspielraum der Verwaltung, der oft zuungunsten der Adivasi ausgeübt wird. Abgesehen davon werden auch eindeutige Regelungen oft nicht in die Praxis umgesetzt.

Infolge dessen ist es von größter Bedeutung, dass gesetzliche Regelungen klar und in einer Weise formuliert werden, dass sie weder sich selbst noch anderen Gesetzen widersprechen. Darüber hinaus muss dafür Sorge getragen werden, dass gesetzliche Regeln auch tatsächlich umgesetzt und angewendet werden.

Besondere Berücksichtung der Belange der Adivasibei

Projekten der Entwicklungshilfe In Anbetracht der bislang unzureichenden Berücksichtigung der Belange der Adivasi vor Ort erwächst ausländischen Kooperationspartnern im Rahmen von Projekten der Entwicklungshilfe eine besondere Verantwortung. Sie sollten von Beginn an klar stellen, dass eine Beeinträchtigung der Interessen der Adivasi durch Projekte vermieden oder so weit wie möglich minimiert wird. Sollte es dennoch zu erheblichen Beeinträchtigungen kommen, muss ein fairer Umgang mit den Betroffenen oberste Priorität genießen.

Schutz der kulturellen Identität

Das übergeordnete Ziel aller Maßnahmen muss es sein, den Adivasi die Bewahrung ihrer Kultur zu ermöglichen.

 


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