27.04.2005

Inbegriff der kulturellen Vielfalt: 250 Sprachen

Wer sind die Adivasi?

Die Anzahl der in Indien lebenden Angehörigen indigener Völker wird auf rund 80 Millionen geschätzt. Bei der Volkszählung 1991 kamen die indischen Behörden auf 67,7 Millionen Ureinwohner.

Die vielfach in Stammesgesellschaften (tribes) lebende Urbevölkerung Indiens hat sich als Sammelbezeichnung für die über 460 Völker und Gemeinschaften den Eigennamen Adivasi gegeben; zusammengesetzt aus den Hindi-Wörtern adi = ursprünglich und vasi = Bewohner. Die Selbstbezeichnung umfasst die Geschichte, Kultur, Identität und nicht zuletzt den spezifischen Zugang zu den historisch besiedelten Territorien. Die indische Verfassung gebraucht darüber hinaus den Begriff der Scheduled Tribes (in Hindi: anusuchit janjati), der amtlich registrierten und damit verfassungsrechtlich besonders geschützten Stammesgesellschaften.

Der Begriff Adivasi ist eine Neuschöpfung, um wenigstens gedanklich aus dem Geruch der rückständigen "Berg-" oder "Waldvölker" wegzukommen – ähnlich der Neufassung des Begriffs "Ureinwohner" durch "Indigene Völker". Dabei meint indigen den Anspruch auf Rechte, die aus der Zeit vor der Eroberung, Kolonisierung oder der Ausgrenzung durch den modernen Staat stammen. Völker benennt die Forderung nach einer eigenständigen, selbstbestimmten Regelung aller Angelegenheiten, die mit den Menschen und Ressourcen zu tun haben, die sich auf den historisch besiedelten Territorien der jeweiligen Gemeinschaft befinden.

Die heutigen Adivasi sind Nachfahren jener ersten Bewohner Indiens – Hirtennomaden, Fischer, Wanderfeldbauern, Jäger und Sammler –, die im Zeitraum 2.500 bis 1.500 vor unserer Zeitrechnung durch kriegerische Hirtenvölker erobert und verdrängt wurden. Diese Hirtenvölker nannten sich Arya, die Edlen. Mit den Arya kam das Kastensystem als gesellschaftliche Ordnung. Ein Teil der damaligen Ureinwohner wurde unterworfen und als "Unberührbare" oder Kastenlose (Dalits, Scheduled Castes) auf der untersten Stufe integriert. Die anderen Adivasi-Gemeinschaften zogen sich in unwegsame Berg- und Waldregionen zurück.

Die Adivasi haben heute einen Anteil von etwa 7,5 Prozent an der Gesamtbevölkerung Indiens. Dalits und Adivasi zusammengenommen machen knapp ein Viertel der ungefähr 1,1 Milliarden-Bevölkerung Indiens aus. Die Adivasi verteilen sich auf fast alle Bundesstaaten einschließlich der pazifischen Inseln Andamanen und Nikobaren. Dennoch konzentrieren sich Adivasi – entsprechend ihrer Flucht vor der internen Kolonialisierung in topografisch vorteilhafte Gebiete – in den Bundesstaaten Jharkhand, West-Bengalen, Orissa, Madhya Pradesh, Chattisgarh, Maharashtra und Andhra Pradesh (der so genannte Tribal Belt mit über 50 Prozent Anteil) sowie in Gujarat und Rajasthan. Die Anzahl der in Städten lebenden Adivasi wird auf über 10 Millionen geschätzt. Sie besiedeln ungefähr ein Fünftel der Fläche Indiens.

Der Begriff Adivasi legt den Gedanken an eine einheitliche Kultur nahe. Davon kann jedoch allein aufgrund der Vielfalt von geschätzten 250 eigenständigen Sprachen keine Rede sein. Die unterschiedlichen Bevölkerungsgrößen lassen erahnen, wie verschieden die politische und soziale Organisation ausfallen muss. So zählen die Onges auf den Andamanen wenige Hundert, die Birhors in Jharkhand zwischen ein- und zweitausend. Demgegenüber werden die Gonds auf 5 Millionen, die Santals auf 4 Millionen, die Bhils auf 3,5 Millionen oder die Khonds auf 1,2 Millionen Angehörige geschätzt. In den südlichen Bundesstaaten Karnataka, Kerala und Tamilnadu lebt noch eine Vielzahl an kleineren Jäger- und Sammlergemeinschaften. Die Bodos und Nagas im Nordosten Indiens verstehen sich als Angehörige von "Nationalitäten". Die Nagas unterstreichen über diesen Begriff auch ihren Anspruch auf staatliche Eigenständigkeit.

Alle verbindet die Abwehr gegen die Entwurzelung und kulturelle Hegemonie der Hindu-Gesellschaft wie gegen die schleichende Entrechtung und insbesondere die Verweigerung der historischen Rechte an Land, Wald und anderen Ressourcen auf ihrem jeweiligen Territorium.