17.12.2005

Gestohlene Sprache

Amazonas

 

"Zivilisierte Mestizos": Wenn Assimilierung als Fortschritt angesehen wird. Ein Gespräch mit Luís Never Tuesta Cerrón.

Im peruanischen Amazonasgebiet begann die Asociación Interétnica de Desarrollo de la Selva Peruana (AIDESEP) 1988 ein Ausbildungsprogramm für zweisprachige Lehrer. AIDESEP ist ein Zusammenschluss aus sechs regionalen indigenen Organisationen, die wiederum 53 Föderationen und Organisationen der indigenen Völker Amazoniens vertreten. Die Organisation arbeitet in den Bereichen Erziehung, Gesundheit und Frauenrechte. Im peruanischen Amazonasgebiet leben ungefähr 300.000 Menschen. Ihre Sprachen gehören 16 verschiedenen Sprachfamilien an.

Hauptziel der Bildungsarbeit ist die Anerkennung des Andersseins als grundlegendes Element für den Aufbau einer Gesellschaft, die auf Respekt und kreativem Dialog basiert, sowie die Aufwertung der indigenen Kultur durch die Ausbildung und die Erziehung der jungen Generationen. Der Wert der indigenen Kultur wird um so wichtiger, wenn man bedenkt, dass sich jedes indigene Volk von jeher durch eine nachhaltige Nutzung des amazonischen Waldes und ohne dessen Zerstörung die Existenz sichert. Dadurch bleibt die Natur erhalten, sie konnte sich immer wieder erneuern. Von den Kindern wird verlangt, dass sie sich mit den Werten, den Kenntnissen und der Arbeitsweise vertraut machen, die ihr kulturelles Erbe darstellen, und diese mit dem Wissen anderer Kulturen verbinden.

Das Programm bietet sowohl eine Fortbildung für arbeitende Lehrer an als auch eine vollständige Ausbildung von fünf Jahren. Die Studenten arbeiten abwechselnd in der Schule und in ihren Herkunftsgemeinschaften. In der Schule eignen sie sich die theoretischen und methodologischen Instrumente für ihre spätere Funktion als interkulturelle, zweisprachige Pädagogen an und in den Dörfern vertiefen sie ihr Wissen über ihre Gesellschaft und ihre Kultur anhand von Forschungsarbeiten und dadurch, dass sie am dortigen Schulleben teilnehmen.

In Peru schreibt das Gesetz interkulturelle Erziehung für alle vor. Im eigenen Land ist das Programm von AIDESEP allerdings weniger bekannt als in interessierten Kreisen im Ausland.

Luís Never Tuesta Cerrón vom Volk der Aguarún koordiniert die Lehrerausbildung bei AIDESEP. Juliette Hoffmann und Julia Georgi trafen ihn im Rahmen der Jahreshauptversammlung des internationalen Klimabündnisses im Mai in Luxemburg. Mit Begeisterung berichtete er über das Programm der Ausbildung zweisprachiger Lehrer.

bedrohte Völker: "Interkulturelle Erziehung" ist ein sehr "moderner" Begriff...

Luís Never Tuesta Cerrón: Seit 1951 wird bei uns im Amazonasgebiet zweisprachiger Unterricht erteilt. Bis ungefähr 1974 machte das die religiöse Institution "Instituto lingüístico de Verano" aus den Vereinigten Staaten. Für sie bedeutete der zweisprachige Unterricht, dass die Kinder bis zum dritten Schuljahr in der Muttersprache Lesen und Schreiben lernten und vom vierten bis zum sechsten nur noch in Spanisch unterrichtet wurden, man begann mit der Muttersprache und ging dann zum Spanischen über. Das eigentliche Ziel des "Instituto lingüístico de Verano" war die Christianisierung der Indigenen, die dann als gute Christen in den Himmel kommen würden. Die Sprache war nur ein Mittel, um die Bibel unter den Indigenen zu verbreiten. Wir sollten "gute, zivilisierte Mestizos" werden; die Sprache diente nur dazu, die andere Kultur zu verbreiten.

bedrohte Völker: Wann hat man in Peru mit interkultureller Erziehung begonnen?

Anfang der siebziger Jahre begannen unserer Stammesführer, das Erziehungssystem zu kritisieren, da es die Jugendlichen nur darauf vorbereitete, in die Stadt zu ziehen anstatt in den Gemeinschaften zu bleiben. Zehn Jahre später beschlossen die Stammesführer, den Unterricht anders zu gestalten: nicht nur die Sprache, sondern auch die Kultur, unser Wissen über die Natur, den Wald, die Heilpflanzen müssen gelehrt werden. Sie sagten: Die Sprache ist wichtig, aber unsere Weltanschauung ist auch wichtig. So begann man mit der Ausbildung unserer eigenen Lehrer.

In der Primarschule wird mit dem interkulturellen Unterricht angefangen, danach geht es in der Sekundarschule und wenn möglich an der Hochschule weiter. Die erste Sprache ist bei uns die Stammessprache Aguarún, dann lernen die Kinder Spanisch. Bei einigen indigenen Völkern des Amazonasgebietes wird mit Spanisch angefangen, weil nur noch die Ältesten die Stammessprache beherrschen. Diese wird dann später gelehrt, z.B bei den Cocama, Huitoto, Ashánica.

Das Paradox: dort wo das "Instituto lingüístico de Verano" gearbeitet hat, konnten die Kinder wenigstens ihre Sprache. Unser Ziel ist, dass alle Kinder auch ihre Stammessprache beherrschen.

bedrohte Völker: Wie sprechen die Eltern mit den Kindern, wenn die Stammessprache in Vergessenheit geriet?

Luís Never Tuesta Cerrón: Spanisch. Wir haben festgestellt, dass die Jugendlichen, mit denen wir arbeiten – sie kommen von 15 verschiedenen Völkern – und die Spanisch sprechen, die Sprache zwar sprechen, jedoch mit Schwierigkeiten kämpfen, wenn sie etwas lesen und interpretieren oder ihre Ideen aufschreiben sollen. Das hat uns darin bestätigt, dass die Kinder zuerst die Stammessprache lernen müssen und nicht eine Sprache, die ihre Eltern nur mit Mühe sprechen.

bedrohte Völker: Wie vielen Kindern wird auf diese Art und Weise Unterricht erteilt, wieviele gehen zur Schule?

Luís Never Tuesta Cerrón: 90% der Kinder gehen im peruanischen Amazonasgebiet zur Schule. 30% dieser Kinder erteilen wir interkulturellen, zweisprachigen Unterricht. Die Lehrer bezahlen der Staat und AIDESEP.

bedrohte Völker: Könnte AIDESEP ohne Hilfe von außen weiter arbeiten?

Luís Never Tuesta Cerrón: Es wäre schwierig. Wir müssen professionell arbeiten, wir müssen mit Linguisten zusammen arbeiten. Wir tauschen unsere Erfahrungen auch mit anderen lateinamerikanischen Ländern aus. Ideal wäre, wenn alle Indigene eng zusammen arbeiten würden mit dem Ziel: Interkultureller Unterricht für alle.

bedrohte Völker: Kann man die Einführung der interkulturellen Erziehung als gelungen bezeichnen?

Luís Never Tuesta Cerrón: Für AIDESEP ist die interkulturelle, zweisprachige Erziehung eine Richtschnur. Wir müssen von uns und unserer Kultur ausgehen, wir müssen Vertrauen zu unserem Wissen schaffen, zu unseren Kenntnissen, zu unserer Art und Weise, die Welt zu sehen. Darum sagen wir "interkulturell und zweisprachig". Das heißt aber nicht, dass wir uns verschließen. Auch wir Indigenen lernen uns dadurch untereinander kennen. Als ich in meiner Gemeinschaft lebte, glaubte ich, wir wären die Einzigen, wir kannten die anderen indigenen Völker nicht. Als ich für das Ausbildungszentrum zu arbeiten begann, war ich sehr ernst, scherzen gehörte nicht zu meiner Art. Als wir einmal in einem Dorf der Hitotos unterrichteten, sagte mir ein Schüler: "Aber Professor, warum sind Sie so ernst? Sie sind nett, aber spaßen nie". Für die Hitotos muss man lustig und spaßig sein, darum war mein Auftreten befremdlich für sie. Für mich war diese Erfahrung ein Teil des interkulturellen Prozesses, der mir zeigte, dass wir uns auch unter Indigenen gegenseitig kennen lernen, zuhören und respektieren müssen. Und wir müssen auch die Nicht-Indigenen verstehen. Es darf aber nicht einseitig sein, sie müssen auch uns verstehen lernen.

bedrohte Völker: Die Sprache ist dabei von zentraler Bedeutung?

Luís Never Tuesta Cerrón: Wir müssen den Lernprozesses mit der Sprache beginnen, aber wir müssen sie auch entwickeln, damit sie während der Entwicklung nicht verlorengeht. Wir müssen aber auch die andere Sprache lernen, die Wissenschaft, denn es gibt in ihr auch Wertvolles. Ein junger Indigener, der mit diesem Konzept aufwächst, kann die positiven Seiten beider Kulturen sehen, wie zum Beispiel die guten Seiten der modernen Kommunikationsmittel, die den Indigenen nicht schaden. Wir müssen sie kennenlernen, um sie bewerten zu können. Wir haben das Ziel noch nicht erreicht. Es gibt uns seit 17 Jahren, und wir arbeiten mit Menschen, nicht mit Maschinen.

bedrohte Völker: Welchen Stand hat die Wissenschaft in der interkulturellen Erziehung?

Luís Never Tuesta Cerrón: Wir haben alle eine wissenschaffliche Ausbildung, wir sind von der Wissenschaft ausgegangen. Meine Ausbildung ist akademisch, nicht Aguarún, ich habe die Ausbildung eines "mestizo" wie die anderen Lehrer hier auch. Wir haben viel diskutiert und sind uns einig, dass wir den Indigenen mehr Mitsprache gewähren müssen.

Interview: Juliette Hoffmann und Julia Georgi