18.04.2005

Gesellschaft für bedrohte Völker: 2005 droht der endgültige Exodus der assyro-chaldäischen Christen aus dem Irak - Weihnachtsappell an 30 westliche Regierungen

Wenn nicht bald Hilfe kommt, wird sich nach Erkenntnissen der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) das 1400-jährige Zusammenleben zwischen Muslimen und Christen im Mittel- und Südirak im kommenden Jahr gewaltsam beendet werden. Jetzt droht die vollständige Flucht und Vertreibung der noch etwa 650 000 Angehörige zählenden christlichen Gemeinschaft der Assyro-Chaldäer aus dem Irak, nachdem bereits etwa 50 000 im zurückliegenden Jahr 2004 nach Syrien, Jordanien oder nach Irakisch-Kurdistan geflüchtet sind, erklärte der GfbV-Generalsekretär Tilman Zülch am Donnerstag. Ebenso gefährdet sind die noch rund 50.000 Mandäer, eine vorchristliche, auf Johannes den Täufer zurückgehende Konfession. Seit Anfang 2004 dokumentiert die internationale Menschenrechtsorganisation die kontinuierlich zunehmenden Angriffe gegen die christlichen Minderheiten, Bombenanschläge gegen Kirchen und kirchliche Institutionen, Morde, Entführungen und Vergewaltigungen, für die islamische Extremisten, arabische Nationalisten und Baathisten verantwortlich sind.

 

Inzwischen wurden mehr als 25 Kirchen gezielt angegriffen und zerstört. Ende 2003 wurden die ersten Sprengsätze in zwei christlichen Schulen in Bagdad und Mosul gefunden, am 24. Dezember 2003 folgte die erste Explosion in einer Kirche ebenfalls in Mosul. Unter den inzwischen ganz oder teilweise zerstörten Kirchen und Klöster befanden sich syrisch-katholische, syrisch-orthodoxe, chaldäische, assyro-anglikanische, altapostolisch-nestorianische Kirchen der Assyro-Chaldäer, armenisch-katholische und armenisch-orthodoxe der kleinen armenischen Minderheit sowie eine adventistische Missionskirche. Die meisten der Angriffe fanden jeweils nach dem islamischen Freitag und vor dem christlichen Sonntag statt.

 

Die Liste der seit Sommer 2003 ermordeten irakischen Christen hat die Zahl 300 überschritten. Wir greifen einige dieser schrecklichen Morde heraus: Mohannad Malawi wird am 11.07.2003 erschossen, weil er sich weigerte, seine Schwester für eine Vergewaltigung auszuliefern. Die Brüder Berdan werden in ihrem Juweliergeschäft am 11.08.2003 getötet. Die mandäischen Brüder Yahya werden am 11.08.2003 mit 14 bzw. neun Schüssen ermordet. Nadan Yonadam wird liquidiert, weil er der US-Armee als Übersetzer diente. Safa Khoshi wird am 07.10.2003 mit einer Granate beseitigt. Fünf Tage später müssen Danny und Wilhelm Cesar am 12.10.2003 in Falluja sterben, weil sie für die US-Armee arbeiteten. Den Richter Yousif Sadeq erreicht sein Schicksal in seinem Haus in Mosul am 04.11.2003. Am 08.11.2003 trifft es den Vertreter der Assyrischen Demokratischen Bewegung Sargon Nano. Am 01.01.2004 werden zwei Armenierinnen und zwei Assyrerinnen, Wäscherinnen der US-Militär Basis Habbaniyah ermordet, am 21.01.2004 fünf christliche Mädchen in der Nähe von Falluja. Der fünfjährige Aziz Azzo und seine 14-jährige Schwester Ranne werden im März 2004 vor ihrer Kirche erschossen. Am 17.03.2004 überlebt eine fünfköpfige assyrische Familie einen Bombenanschlag nicht. Am 26.03.2004 trifft es den Leutnant Esha David in seinem Haus in Kirkuk. Am 7. Juni 2004 erschießen arabische Nationalisten aus einem vorbeifahrenden Auto heraus vier Assyrer und zwei Armenier in Bagdad. Am 23.06.2004 müssen die Schwestern Janet und Shatha Odisho ihre Arbeit für die Firma Bechtel mit ihrem Leben bezahlen. Am 17.07.2004 fällt Adeeb Aqrawi in seinem Pizzaladen einem Attentäter zum Opfer. Am 31. August 2004 folgt ein Anschlag auf drei junge assyrische Frauen, Mitarbeiterinnen des Krankenhauses in Mosul. Im September 2004 werden in Mosul zwei assyrische Christen geköpft und das Video auf den Märkten der Stadt angeboten. Auch die Ermordung des 30-jährigen Bassam Sabi ebenfalls in Mosul wird auf CD aufgenommen und in der Stadt verbreitet. Noch am 27. September 2004 erfolgt die Erschießung von neun Kellnern in einem christlichen Club. Auch ihre Namen sind der GfbV bekannt. Am 14.10.2004 wird ein kleines Mädchen tot in Bagdad aufgefunden, dessen Eltern das geforderte Lösegeld nicht bezahlen konnten, und am 30.10.2004 stirbt Ma´an Yousouf in seinem Elektrogeschäft in Mosul. Am 09. Dezember werden zwei entführte christliche Geschäftsleute ermordet.

 

Erschreckend häufig werden Menschen im Irak entführt, um Geld zu erpressen. Opfer von Entführungen werden vor allem Christen. Betroffen sind Kinder, Frauen und Männer gleichermaßen. Christliche Institutionen geben an, dass 90 % der entführten Personen Christen sind. Am 16.11.2004 schätzte der Leiter einer christlichen irakischen Gemeinschaft, dass von 200 Christen, deren Entführung bekannt wurde, 60 ermordet wurden. Christen und Mandäer, schreibt eine Kennerin der Menschenrechtslage im Irak, verhalten sich still und wollen nur, dass ihre Angehörigen schnell zurückkommen. Die Täter wissen, dass sie keine Schwierigkeiten machen. Das ermutigt zu immer neuen Entführungen.

 

Auch mit ständigen Drohungen gegen die Christen wird versucht, ihre Vertreibung zu beschleunigen und sich auch ihres Eigentums zu bemächtigen. So hat die Mehrheit der Assyro-Chaldäer die Stadt Basra bereits verlassen. In christlichen Wohnvierteln erscheinen Hetz-Graffitis auf Häuserwänden. Christen in Drohbriefen zum Zwangsübertritt auf. Frauen müssen sich verschleiern, werden bedrängt, beleidigt und angegriffen, christliche Studentinnen von Campus der Universität verwiesen, wenn sie kein Kopftuch tragen. Christen werden an ihrer Berufsausübung gehindert, Büros christlicher Parteien angegriffen. Christen werden als angeblich Verbündete der amerikanischen Besatzungsmacht betrachtet. Ihnen werden Verbindungen zu Verwandten in Übersee vorgeworfen. Dazu kommt der Vorwurf, einer nicht-arabischen Nation anzugehören. Anschläge hindern Kinder daran, zur Schule zu gehen, und Gläubige, ihre Kirchen und Gemeinden zu besuchen.

 

Es ist in Europa weithin unbekannt, dass im Irak und den angrenzenden Ländern eine Million assyro-chaldäische Christen eine eigene ethnische Gemeinschaft bilden, die bis heute das Aramäische, die Muttersprache Christi, in moderner Form sprechen. Die Assyro-Chaldäer und die Mandäer sind die eigentlichen Ureinwohner des Irak. Nur im irakischen Kurdistan genießt das Neu-Aramäische heute offiziellen Status und ist dort in den 15 Grund- und Oberschulen der Assyro-Chaldäer für 4002 Schüler und 201 Lehrer Unterrichtssprache. Mindestens 1,5 Mio. Angehörige dieses Volkes leben in der Diaspora in West-Europa, Nord-Amerika, Australien und Neuseeland. In Deutschland zählen sie heute etwa 80 000 Menschen. Die aramäischsprachigen Christen in der westlichen Welt sind meist Überlebende des türkischen Genozids, dem 1915 -1918 rund eine Million Armenier, auch etwa 500 000 aramäischsprachige Christen zum Opfer gefallen sind. Während der Herrschaft Saddam Husseins teilten die Assyro-Chaldäer im Nord-Irak das Schicksal der Kurden, wurden Opfer von Giftgasangriffen, Massakern und Zwangsumsiedlung, erlebten die Zerstörung ihrer Dörfer und flüchteten im Januar 1991 gemeinsam mit den Kurden in die schneebedeckten Bergregionen der Türkei und des Iran. Damals brachte ein Team der GfbV zu einem nicht versorgten Lager mit 50 000 Kurden und Assyro-Chaldäern in 2000 Meter Höhe Lebensmittel und Medikamente.

 

Die GfbV bedauert das Desinteresse von großen Teilen der internationalen Öffentlichkeit an dem Schicksal der Christen und Mandäer des Irak und appelliert an die Bundesregierung, die Regierungs- und Oppositionsparteien, an die Friedens- und Dritte Welt-Bewegung, sich für die Assyro-Chaldäer einzusetzen.

 

Mit Schreiben an alle Abgeordneten des Europaparlamentes, die 25 Regierungen der EU-Staaten, die Regierungen Kanadas, der USA, der Schweiz, Norwegens und Japans sowie an alle in den Parlamenten dieser 30 Staaten vertretenden Fraktionen mit der Bitte gewandt, einen Fonds zur Unterstützung der christlichen Flüchtlinge im Nordirak einzurichten.

 

Insbesondere tritt die GfbV dafür ein, die Bemühungen des nordirakischen Teilstaates Kurdistan für die Integration der assyro-chaldäischen Flüchtlinge zu unterstützen. Dort erhalten Flüchtlingsfamilien Sozialhilfe von der Demokratischen Partei Kurdistans und Grundstücke sowie Mittel für den Hausbau von der Patriotischen Union Kurdistan.