19.01.2006

Für die Entkriminalisierung des Kokablattes

Bolivien

"Im März des Jahres 1995 war Evo Morales auf Einladung der Gesellschaft für bedrohte Völker in Wien, um anlässlich der 38. Sitzung der Internationalen Suchtstoffkommission der Vereinten Nationen für eine Entkriminalisierung des Kokablattes zu werben. Wir zitieren hier Auszüge aus seiner Rede an das UN-Forum: "Herr Präsident, ich bin hier als Delegierter der Gesellschaft für bedrohte Völker und in Vertretung von Millionen Bauern, indigenen Völkern und Konsumenten des Kokablattes, die über Handel, Verwendung und Missbrauch der Droge und die sozio-kulturelle Entwicklung unserer Völker besorgt sind. Ich bin hier, um die Korrektur eines historischen Irrtums vorzuschlagen, der vor mehr als 40 Jahren in dieser Kommission und in der Weltgesundheitsorganisation begangen wurde.

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Erstens möchten wir versichern, dass wir gegen den Missbrauch von Drogen in den Ländern des Nordens und in unseren Ländern sind. Zweitens möchten wir betonen, dass die Kokabauern und –bäuerinnen erklärte Feinde des Drogenhandels sind. Bolivien hat seit 1987 die Anbaufläche für Koka freiwillig um 26.000 Hektar reduziert und damit auf viele Millionen Dollar verzichtet – das beweist, wie ernst ihm der Kampf gegen den Drogenhandel ist. Dennoch haben die Produzenten mit der sogenannten alternativen Entwicklung keine zufriedenstellende Antwort erhalten. Die Teilnahme an diesen Programmen erwies sich als wirtschaftliche Niederlage. Im sogenannten Drogenkrieg waren aber Quechua, Aymara und Guaraní die ersten unschuldigen Verhafteten und Toten.

Drittens sind wir von der Notwendigkeit überzeugt, den Missbrauch der Drogen und die Ausbreitung des Drogenhandels aufzuhalten. Wir sind jedoch gegen Polizei- und Militäreingriffe, da das Problem hauptsächlich ein wirtschaftliches, sozio-kulturelles und politisches ist.

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Viertens wollen wir die letzten zwanzig Jahre der nationalen und internationalen Drogenbekämpfung überprüfen, die keine Wirksamkeit gezeigt hat.

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Die Meinungsvielfalt in dieser komplexen Angelegenheit ist gesund. Noch gesünder wäre es jedoch, ließe man uns an dieser Debatte teilnehmen, die unser Leben und unser Schicksal betrifft. Denn die Länder des Nordens entscheiden über Maßnahmen, die für sie von Vorteil sind, während uns die Nachteile bleiben.

Wir sind nicht damit einverstanden, dass in dieser Diskussion das Kokablatt mit den Drogen in einen Topf geworfen wird... Koka ist kein Kokain, ein Kokaproduzent ist kein Drogenhändler und Koka-Konsumenten sind keine Drogenabhängigen.

Mehr als den Drogenkrieg brauchen wir eine Armutsbekämpfung im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung auf der Basis der Biodiversität unserer Territorien. Unser heiliges Kokablatt ist ein grundlegender Teil davon.

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Daher erachten wir es als ungerecht, dass das Kokablatt in der Liste der Suchtgifte aufscheint."

Die Blätter des Kokabusches haben bei den Andenvölkern eine Jahrtausende alte Tradition. Als Nahrungsmittelergänzung (sie enthalten unter anderem Proteine, Kohlenhydrate, Eisen, Kalzium, Phosphor, Vitamin A1, B2 und E), als Anregungsmittel (sie enthalten Kokain und Ecgonin) und in magisch-rituellen Verwendungszusammenhängen bei religiösen Zeremonien. Sie sind aber auch Grundstoff für die Herstellung von Kokain und stehen daher auf der Liste 1 der kontrollierten Substanzen der Suchtstoff-Einheitskonvention der Vereinten Nationen von 1961. Man benötigt 300-500 Kilogramm Kokablätter, um daraus in einem mehrstufigen chemischen Verfahren ein Kilogramm Kokain-Hydrochlorid zu isolieren. Die Wiener Konvention von 1988 erlaubt den Anbau und Konsum von Kokablättern überall dort, wo er historisch nachgewiesen ist, also in Peru und Bolivien. Die peruanische Gesetzgebung erlaubt ihn unter gewissen Umständen, die bolivianische in gewissen Gegenden. Ansonsten verpflichteten sich die Unterzeichnerstaaten der Konvention von 1961, Anbau und Konsum der Blätter binnen 25 Jahren auszumerzen.

Die Besuche von Repräsentanten der Kokabauern – in ihrer Mehrheit Quechua und Aymara – bei den Vereinten Nationen in Wien, die von der Gesellschaft für bedrohte Völker ermöglicht wurden, standen im Zusammenhang mit der sogenannten Koka-Diplomatie, die sich seit Beginn der 1990er Jahre darum bemühte, das Kokablatt von dieser Verbotsliste zu streichen. Dies würde den Repressionsdruck von den indigenen Bauern nehmen und eine legale Vermarktung von Produkten auf Kokabasis auf den Weltmärkten ermöglichen: Tee, Kaugummi, Zahnpasta, Heilmittel, Erfrischungsgetränke. Der damalige bolivianische Innenminister Carlos Saavedra Bruno hatte bereits zwei Jahre vor Morales bei der 36. Commission on Narcotic Drugs der Vereinten Nationen in Wien gefordert, das Kokablatt "aus seinem Hausarrest zu befreien".

Die deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) ließ im Jahr 1993 die Perspektiven einer solchen legalen Vermarktung untersuchen, wo sie gute Chancen für Tee sah, nicht jedoch bei den meisten anderen Produkten. Der begrenzte Markt in Bolivien und Peru, so die GTZ-Studie, erlaube auch keine attraktive Präsentation in ansprechenden Gläsern, Dosen oder Tuben. Eine regelrechte, globale Marktanalyse sei aufgrund der geltenden Rechtslage gar nicht möglich. Ein Papier der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vom März 1995 stellt schließlich fest: "Der Konsum von Kokablättern scheint keine negativen Auswirkungen zu haben, aber positive therapeutische, religiöse und soziale Funktionen für die andine Bevölkerung.

Trotzdem wurden "Koka-Diplomaten", wie Evo Morales, immer wieder als fünfte Kolonne des Drogenhandels verunglimpft – und die Initiative der Gesellschaft für bedrohte Völker war seinerzeit eine durchaus mutige. Als die bolivianische Regierung Kokaprodukte bei der Weltausstellung in Sevilla (1992) vorstellen wollte, wurde die Mustersendung von spanischen Zoll beschlagnahmt. Da halfen auch die Sympathien von Felípe Gonzales und Francois Mitterrand nicht. Die Diplomacia de la Coca ist schließlich in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre zusammengebrochen. Angesichts des fortgesetzten Fiaskos des Drogenkriegs in den Anden haben ihre Argumente jedoch nichts an Plausibilität verloren. Eine Regierung unter Evo Morales will sich erneut für eine Entkriminalisierung des Kokablattes stark machen: In Bolivien und auch bei den Vereinten Nationen. Es wäre klug, dabei – und Morales hat diese Absicht in ersten Äußerungen nach der Wahl angedeutet – zu einer vernünftigen Regulierung des Anbaus zu finden. Nicht nur, um die internationale Gemeinschaft nicht gegen sich aufzubringen, sondern auch, weil Kokaanbau und illegale Weiterverarbeitung zu Kokain teilweise mit gravierenden Umweltproblemen verbunden sind. Morales sagte, er wolle die Schaltzentralen des Drogengeschäfts bekämpfen, nicht die Bauern.

Robert Lessmann ist freier Journalist und Consultant. In den Jahren 1989/1990 hat er in Göttingen für die deutsche Sektion der GfbV gearbeitet. Sein Buch "Zum Beispiel Bolivien" (Lamuv-Verlag, Göttingen 2004) enthält neben aktuellen Analysen der Situation im Lande auch ein ausführliches Lebensportrait von Evo Morales. Weitere Informationen zu Koka und Kokain in: Robert Lessmann: "Zum Beispiel Kokain", Lamuv-Verlag, Göttingen, 2001.