11.12.2008

Festrede zum 40-jährigen Bestehen der Gesellschaft für bedrohte Völker von Prof. Ernst Tugendhat

40-Jahr-Feier

Göttingen
Die "Gesellschaft für bedrohte Völker" (GfbV) ist ein ungewöhnlicher Verein, und doch scheint ihre Zielsetzung so selbstverständlich und notwendig, dass von ihr schon gesagt worden ist: Wenn es sie nicht gäbe, müsste sie (sofort) erfunden werden. Heute freuen wir uns, dass sie in den 40 Jahren seit ihrer Gründung gewachsen ist und wichtige Erfolge gehabt hat. Man kann sich gleichwohl fragen: Woher kommt es, dass sie im Verhältnis zu ihrer so überzeugenden moralischen Zielsetzung vergleichsweise klein geblieben ist? Es erklärt sich nach meiner Meinung aus der Mühe, die es uns Menschen kostet, uns wirklich für andere Menschen zu öffnen und zu ihren Gunsten gegen Macht und Vorurteile unnachsichtig vorzugehen. Ich will also hier versuchen, die Arbeit der GfbV nicht aus der Perspektive ihrer Ziele zu beschreiben, sondern aus der besonderen moralischen Motivation, die ein Engagement weltweit gegen die Unterdrückung von Minderheiten erfordert.

Ich beginne mit der Frage, was überhaupt Moral besagt. Man kann sie, meine ich, auf einen einzigen Satz reduzieren, der sich in den verschiedensten Kulturen ausgesprochen findet, z.B. von Jesus ebenso wie von Konfuzius, die sog. "Goldene Regel": Ich soll mich zu anderen so verhalten wie ich möchte, dass sie sich zu mir verhalten. Was heißt dabei "die anderen"? Es kann nahe liegen zu meinen, das seien nur die anderen der eigenen Gruppe. Aber schon den alten Israeliten hat ihr Gott vorgehalten, dass sie in Ägypten Fremdlinge gewesen sind und dass sie sich daher auch zu einem Fremden so verhalten müssten, wie sie selbst behandelt werden wollten. Und jeder kann dieses Gedankenexperiment für sich wiederholen: Was würde ich an seiner Stelle wollen - an der Stelle des Fremden -, wie ich mich verhalten soll?

Man kann also die Goldene Regel nur so verstehen, dass sie gegenüber allen gilt. Jeder Mensch sollte als gleich geachtet, keiner darf gedemütigt werden. Dass alle Menschen ein Recht haben, als gleich geachtet zu werden, das ist für die GfbV die Grundlage ihres Engagements. Es ist, wie man heute sagt, ein Menschenrecht. Die Menschenrechte gibt es nicht von Natur, sondern sie ergeben sich spiegelbildlich aus der Goldenen Regel.

Und woher ergibt sich die Verbindlichkeit, die in der Goldenen Regel selbst liegt? Was heißt es, dass wir moralisch sein sollen, müssen? Wer gläubig ist, wird sagen: das ist das Gebot Gottes. Wer nicht an Gott glaubt, kann sich fragen: Was für ein Mensch wäre ich, wenn ich mich nicht zu dem Gebot verpflichtet fühlte, von dem ich will, dass die anderen es mir gegenüber befolgen? Wenn ich die anderen nicht achte, kann ich auch mich selbst nicht achten. Gegenüber den starken Beweggründen des Egoismus und der Macht mag diese Begründung: "dann könnte ich auch mich selbst nicht achten", schwach erscheinen, und deswegen ist es so leicht, sich über das moralische Gewissen hinwegzusetzen.

Aus diesem Grund ist das Engagement in allen humanitären Organisationen schwer; warum dieses in der GfbV besonders ist, will ich nachher zeigen. Alle humanitäre Betätigung besteht darin, dass man sich für die Nöte von anderen Menschen öffnet und nicht sagt: "Was geht es mich an?". Nur in einem solchen Sich-Öffnen und für andere Aktiv-Werden scheint das eigene Leben Sinn zu gewinnen, deswegen geht es mich an.

Man kann sich das erneut an der Goldenen Regel verdeutlichen. Die Goldene Regel lässt sich sowohl negativ wie positiv verstehen. Negativ besagt sie nur: Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg´ auch keinem anderen zu. Daraus ergibt sich ein erster, enger Begriff von Moral, der aber schon sehr wichtig ist. Wenn alle sich an diese negative Moral hielten, wenn niemand andere schädigen oder demütigen würde, hätte die GfbV nichts zu tun. Aber für die Tätigkeit der GfbV selbst, wie auch für alle andere humanitäre Betätigung, ist die Goldene Regel in ihrer positiven Formulierung maßgebend: verhalte dich zu den anderen, und d.h. jetzt zu denen, die in Not sind, wie du wollen würdest, dass man sich zu dir verhielte, wenn du in ihrer Lage wärest. "Die anderen", das sind, wie schon in der negativen Formulierung der Goldenen Regel, alle Menschen, nur dass es leicht ist, sich zu allen negativ moralisch zu verhalten (man braucht ja dann lediglich niemanden zu schädigen); versteht man hingegen die Goldene Regel positiv, dann öffnet man sich aktiv der Not der Menschen, aller Menschen. Aber das erscheint uferlos: Wie soll man allen Menschen helfen können? Also befindet sich jeder, der humanitär tätig ist, in einem Dilemma: Welcher Not soll er sich zuwenden? Und daran kann man sich klarmachen, wie frustrierend die humanitäre Tätigkeit erscheinen kann. Man soll nicht nur von sich absehen; auch wenn man das tut, erscheint die Aufgabe unbestimmt und überwältigend.

Über diese Schwierigkeit kann sich jedoch, wer anderen Menschen helfen will, hinwegsetzen. Indem er an einer Stelle hilft, tut er, was er kann. Man denke etwa an Mutter Teresa in Calcutta. Stellvertretend verhält sie sich an einer Stelle zur Not aller.

Aber für die GfbV ist das anders. Sie ist nicht eine Hilfsorganisation, sondern eine Menschenrechtsorganisation, und ich will zeigen, inwiefern das eine erneute zusätzliche Erschwerung für das Engagement bedeutet. Die Tätigkeit einer Menschenrechtsorganisation besteht nicht darin, zu helfen, sondern zu schützen. Man versucht dann, der Not nicht abzuhelfen, sondern sie zu verhindern, gegen ihre Ursachen anzugehen. Man könnte meinen, das eine gehe unmittelbar in das andere über, das Schützen in das Helfen, und so ist es auch, wenn es sich um natürliche Ursachen handelt (die Medizin z.B. hat eine zugleich schützende und helfende Funktion). Aber die Situation ist eine andere, wenn die Not, die die Menschen leiden, keine natürlichen Ursachen hat wie Krankheiten oder Naturkatastrophen, sondern menschengemacht ist. Wo es andere Menschen sind, die das Leid der Menschen absichtsvoll verursachen, wo es also an der moralischen Schlechtigkeit anderer Menschen liegt, dass die Menschen zu leiden haben, da kann ihnen nur geholfen werden, indem man gegen die Verursacher in ihrem schädigenden Handeln vorgeht. Der Name der GfbV ist ein wenig irreführend: eine Menschenrechtsorganisation handelt nicht in erster Linie "für", sondern "gegen": gegen die Täter. Sich für Menschenrechte einsetzen, heißt, sich gegen Unrecht einzusetzen. Und darin liegt eine zusätzliche Erschwerung, weil die Täter so tun, als ob sie im Recht wären, und, da sie die Macht haben, können sie, wie sie ihre Opfer kriminalisieren, auch die, die die Opfer gegen sie schützen wollen, kriminalisieren.

Um sich die außergewöhnliche Situation verständlich zu machen, vor die sich Menschenrechtstätigkeit gestellt sieht, muss man von der Frage ausgehen, wie denn überhaupt Menschen vor dem unmoralischen Handeln anderer Menschen zu schützen sind. Im Allgemeinen offensichtlich durch Polizei und Strafrecht. Niemand kann sich Eigenjustiz erlauben, der Staat hat das Gewaltmonopol, und das kann auch nicht gut anders sein. Aber was tun, wenn der Staat das Unrecht, das in seiner Jurisdiktion geschieht, nicht hindert, und was insbesondere dann, wenn er es selbst begeht? So ist klar, dass diejenigen, deren Rechte verletzt werden, von anderen Menschen gar nicht direkt geschützt werden können, der Versuch zu schützen kann sich nur gegen den Staat richten, und gegen den Staat kann man, wenn man von den extremen Lösungen der Gewalt von innen oder außen absieht, nur indirekt vorgehen, durch Aufklärung und Druck.

Das also ist die Einbruchstelle für Bürgerbewegungen, die sich für Menschenrechte einsetzen. Ihnen kommt wenigstens der Umstand zu Hilfe, dass heute die meisten Staaten internationalen Abkommen beigetreten sind, in denen sie sich zumindest verbal zur Abhilfe gegen die Übel wenden, die dort aufgelistet werden, und daraus folgt, dass man sie im Namen dieser international anerkannten Menschenrechte beim Wort nehmen und dass dieser Protest über die Souveränitätsgrenzen hinweg erfolgen kann.

Im Fall von Amnesty International ist das Unrecht, wogegen angekämpft wird, sogar ausschließlich ein solches, das von Staaten – von Regierungen – begangen wird, und zwar gerade in der Handhabung des Strafrechts, das sie von Rechts wegen zum Schutz ihrer Bürger ausüben sollten. Dasjenige Unrecht, das die GfbV zu ihrem Anliegen gemacht hat, die Entrechtung und Verfolgung von Minderheiten, ist zwar hauptsächlich ebenfalls von Regierungen zu verantworten, aber es durchdringt auch die Gesellschaft, wegen der unglückseligen Neigung aller menschlichen Gruppierungen, sich selbst für besser zu halten und andere abzuwerten. Die GfbV sieht sich also genötigt, sowohl Regierungen zu denunzieren als auch die Vorurteile von Gesellschaften aufzuzeigen, angefangen mit der eigenen, und so gehört zum moralischen Selbstverständnis der GfbV auch die Selbstaufklärung.

Und dann kommt noch etwas erneut Erschwerendes hinzu, was für alle Menschenrechtsorganisationen wesentlich ist: dass sie nicht punktuell sein dürfen, weil sie sonst als parteiisch erscheinen würden. Darin unterscheidet sich eine Menschenrechtsorganisation von einer Hilfsorganisation. Wer punktuell hilft, stellt damit die Hilfsbedürftigkeit anderer nicht in Frage. Wer hingegen Unrecht bloßstellt, macht sich unglaubhaft, wenn er nicht Unparteilichkeit anstrebt. Das ist es, was von der GfbV immer wieder so formuliert wird: "auf keinem Auge blind". Dieser Grundsatz ist unverzichtbar, auch wenn wir mehr als 2 Augen hätten; er führt freilich dazu, dass das Uferlose, das schon zum humanitären Engagement als solchem gehört, noch einmal vervielfacht wird.

Das alles zusammengenommen erklärt, warum das Engagement in der GfbV kein gewöhnliches ist. Wer hier mitmacht, muss gegen Mauern anrennen, Mauern von Vorurteilen und von Macht, und er wird sich den Kopf wundschlagen.

Was ist der Ausblick? Es gibt die Geschichte von einem Rabbi, der fragte, woran man erkenne, dass die Nacht zu Ende geht und der Tag anbricht. Ist es, fragte einer der Schüler, wenn man einen Hund von einem Kalb unterscheiden kann? Nein antwortete der Rabbi. Ist es, fragte ein anderer, wenn man einen Apfel- von einem Birnbaum unterscheiden kann? Nein, sagte der Rabbi. Aber wann ist es dann, fragten die Schüler? Es ist dann, antwortete der Rabbi, wenn du in das Gesicht irgendeines Menschen schaust und darin Deinen Bruder oder deine Schwester erkennst. Bis dahin ist die Nacht noch bei uns."

Diejenigen, die sich in der GfbV engagieren, tragen dazu bei, dass diese Perspektive offen bleibt.