22.04.2005

"Europa muss mehr Verantwortung übernehmen"

Eigentlich eine simple Angelegenheit

Im Dezember vergangenen Jahres lud die Heinrich-Böll-Stiftung fünf indigene Repräsentantinnen und Repräsentanten aus Lateinamerika nach Deutschland ein. Eingeladen waren María de Jesús Patricio, Angehörige der Gemeinschaft Tuxpán (Chiapas, Mexiko) und Mitglied des Congreso Nacional Indígena, Edda Moreno, Angehörige der Miskito und Soziologin der autonomen Universität URACCAN (Universidad de las Regiones Autónomas de la Costa Caribeña de Nicaragua), Abadio Green, Angehöriger der Tule/Kuna und Präsident der regionalen Dachorganisation OIA (Organización Indígena de Antioquia; Kolumbien), Sebastião Manchineri, Angehöriger der Ine (Brasilien) und Präsident der internationalen Dachorganisation COICA (Coordinación de las Organizaciones Indígenas de la Cuenca Amazónica) sowie Manuel Santander Solis, Angehöriger der Mapuche und Sprecher der Dachorganisation Consejo de Todas las Tierras (Chile). Sie diskutierten mit Mitgliedern des Bundestages, Regierungsvertretern und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) über Menschenrechte, nachhaltige Entwicklung, Klima und Umwelt sowie die Erwartungen von Ureinwohnern gegenüber der deutschen Politik.

bedrohte Völker: Welche Themen und Probleme sind Eurer Meinung nach die grundlegenden, die so gut wie alle indigenen Völker in Lateinamerika betreffen?

María de Jesús Patricio: Aus den Gesprächen mit anderen sowie unter uns wird deutlich, dass die Einforderung und Verteidigung unserer Territorien, die Stärkung unserer eigenen Institutionen und die Frage der Selbstbestimmung von besonderer Bedeutung sind.

bedrohte Völker: Was heißt Selbstbestimmung?

María de Jesús Patricio: Wenn wir als Indigene in Lateinamerika von Selbstbestimmung sprechen, dann meinen wir das Recht, selbst über die Nutzung unserer Ländereien, der dort vorkommenden Bodenschätze sowie unseren Beitrag zur nationalen Gesellschaft zu entscheiden. In der politischen Diskussion wird dafür meist der Begriff Autonomie verwandt. Selbstbestimmung im Sinne separatistischer Bewegungen und der Idee eines eigenen Staates ist in unserer Region eher die Ausnahme.

Abadio Green: Ich würde zu den grundlegenden Themen die Nachhaltigkeit in der Lebensführung, rechtstaatliche Verhältnisse und den Kampf gegen die soziale Verelendung hinzunehmen, wenngleich die soziale Frage nicht in allen Ländern in gleicher Weise mit indigenen Bewegungen in Verbindung gebracht wird.

bedrohte Völker: Nachhaltigkeit ist ein recht schillernder Begriff.

Abadio Green: Das habe ich im Verlauf unserer Gespräche bemerkt. Für uns ist es eigentliche eine zunächst simple Angelegenheit. Nachhaltigkeit bedeutet für uns, die Vielfalt unserer Schöpfung und insofern auch den Platz der indigenen Völker in den nationalen Gesellschaften aufrecht zu erhalten und auszubauen. Nachhaltigkeit hat viel mit dem Respekt vor der kulturellen Vielfalt menschlicher Lebensentwürfe zu tun. Die momentanen Veränderungen in unseren Ländern, und mir scheint auch in Deutschland, verlieren dagegen einige zentrale Prinzipien aus den Augen, die humanes Dasein ausmachen. Solche Prozesse sind nicht nachhaltig, sie bedeuten nicht mehr, sondern weniger Sicherheit für das überleben der Vielen.

bedrohte Völker: Habt ihr dazu einige Beispiele?

Edda Moreno: Ausgehend von unseren Erfahrungen an der Atlantikküste Nicaraguas macht sich bis hinein in unsere autonome Regionalregierung ein Denken breit, das von der westlichen Rationalität geprägt ist. Die Schönheit einer Landschaft etwa und der magische Verbund des Menschen mit seiner Umgebung kommen darin nicht vor. So fällt es leichter, Lizenzen zum Kahlschlag zu vergeben, und gleichzeitig gehen natürliche Bezugspunkte für unser gewohntes Leben verloren. Ohne Zweifel verändern sich unsere Beziehungen zu unserer natürlichen Umgebung auch so. Eine nachhaltige Lebensführung unter heutigen Bedingungen kann in indigenen Gemeinschaften nicht einfach auf traditioneller Grundlage fortgeführt werden. Viele von uns wollen das auch nicht, sondern z.B. Solarenergie nutzen. Aber wir wollen gerade unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit selbst entscheiden, was wir an unserer Lebensführung verändern und was nicht.

Abadio Green: Im Unterschied zu den Bemühungen hier in Deutschland, Nachhaltigkeit umfassend zu begreifen – wie war der Begriff dafür nochmal: Querschnittsaufgabe? – haben wir Institutionen und Strukturen bewahren können, die auf Jahrhunderte und Jahrtausende an praktischer Erfahrung blicken.

Manuel Santander Solis: Alle Regierungen, ob in Lateinamerika oder in Europa, respektieren unsere Landrechte im Zweifelsfall kaum bis gar nicht. Davon hängt aber unsere Existenz als Gemeinschaft mit eigenständiger Kultur ab. Wie soll eine Verfassung, wie soll der öffentlich immer wieder vorgetragene politische Anspruch auf eine multikulturelle Gesellschaft umgesetzt werden, wenn eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür tagtäglich umgangen und missachtet wird?

 

bedrohte Völker: Insofern auch die Forderung nach rechtstaatlichen Verfahren?

Sebastião Manchineri: Bislang ist es nur in Ausnahmefällen gelungen, Behörden oder Unternehmen vor Gericht zu bringen, selbst wenn sie für gravierende Umweltzerstörungen verantwortlich sind. Gemeint ist dabei zweierlei: Ein nationaler wie internationaler Rechtsstandard, der Grundrechte indigener Völker verpflichtend vorschreibt sowie ein Klagerecht, das auch Gemeinschaften den Weg zum Gericht eröffnet.

María de Jesús Patricio: In Mexiko wie in anderen Ländern stehen wir immer wieder vor dem Problem: Was machen wir, wenn der Staat seine eigenen Gesetze nicht befolgt? Was können wir tun, wenn Entwicklungs- und Investitionsprojekte aus Europa sich über unsere Rechte auf Konsultation und Partizipation hinwegsetzen? Hier müsste es nicht nur eine Klagemöglichkeit gegen die Regierung Mexikos, sondern auch ein Überprüfungsverfahren in Europa geben. Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten sollten sich nicht aus ihrer Verantwortung stehlen können.

bedrohte Völker: Wie könnte so ein Prüfsystem aussehen?

Sebastião Manchineri: Die betroffenen Völker und Gemeinschaften müssten vorab informiert werden und würden in einen möglichen Planungsprozess einbezogen. Wo das nicht funktioniert, sollten die Betroffenen eine Klagemöglichkeit mit Anspruch auf Entschädigung auch im internationalen Bereich erhalten.

bedrohte Völker: Wäre die ILO-Konvention 169 so ein Standard?

Sebastião Manchineri: Die ILO-Konvention 169 ist ein wichtiger Schritt und enthält Vorgaben, wie indigene Gemeinschaften zu konsultieren und wie umfassend der Konsens über ein Projekt zu suchen ist, von dem sie betroffen sind. Die Konvention hat allerdings den Nachteil, dass Indigene nicht selber klagen, sondern nur über Gewerkschaften oder Unternehmerverbände das Klageverfahren in Gang setzen können. Die Normen zu Landrechten, Gesundheit, Ausbildung und Religion haben allerdings innerhalb unserer Bewegungen und Organisationen viel dazu beigetragen, dass wir unsere Beschwerden und Klagen systematisieren lernten, um sie dann vor die nationalen Verfassungsgerichte oder die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte zu bringen.

Manuel Santander Solis: Das Permanente Forum indigener Völker bei den Vereinten Nationen wird hoffentlich eine ebenso bedeutende Rolle für das Systems internationaler Rechtstaatlichkeit spielen und mit seinen Empfehlungen an die Regierungen für Rückhalt sorgen.

bedrohte Völker: Wäre denn die Ratifizierung der ILO-Konvention 169 durch die Bundesrepublik Deutschland für Eure Anliegen von Belang, obwohl in Deutschland erst einmal keine direkten Nutznießer erkennbar sind?

María de Jesús Patricio: Von großer Bedeutung sogar, wie wir in den Gesprächen mehrfach unterstrichen haben. Das Abkommen von San Andrés bezog sich in wesentlichen Teilen auf die ILO-Konvention 169. Sie war für uns die Tür zum Dialog mit der Regierung und zur Anerkennung unserer Rechtsinstitutionen. Demgegenüber ist das verabschiedete Gesetz ein qualitativer Rückschritt. Sprechen das Abkommen von San Andrés und die ILO-Konvention von "Territorium", so heißt es im Gesetz nur noch "Ort". Ebenso wird aus der umfassenderen "Autonomie" die auf den staatlichen Landkreis (Munizip) beschränkte Selbstverwaltung.

Abadio Green: Wenn wir von Rechtstaatlichkeit und Rechtssicherheit für indigene Völker sprechen, dann ist die ILO-Konvention 169 für die Staatengemeinschaft einer der zentralen Standards, der unbedingt gestärkt werden muss. Je mehr politisch gewichtige Staaten die Konvention ratifizieren, desto gewichtiger die Konvention und desto mehr Chancen, dass die Normen auch tatsächlich umgesetzt werden. Es wäre ebenso ein Beitrag Europas, die historische Schuld an den Ureinwohnern Lateinamerikas abzutragen. Außerdem sehen wir uns mit den Verhandlungen über ein Abkommen zur kompletten Liberalisierung des Handels in Amerika, ALCA, konfrontiert. Wir brauchen unbedingt einen internationalen Standard von Gewicht über unsere grundlegenden Rechte.

bedrohte Völker: Worin seht ihr die besonderen Gefahren von ALCA für indigene Völker?

María de Jesús Patricio: Ausgehend von den Erfahrungen Mexikos mit dem Freihandelsabkommen NAFTA droht uns ein schleichender Völkermord. Das Saatgut für Mais wird genmanipuliert, unter wirtschaftlichem Druck oder per Abwurf aus Flugzeugen zwangsweise in unsere Gemeinschaften – etwa in Oaxaca – eingeführt und so der Eintritt der Transnationalen Konzerne vorbereitet. Wo Protest zu erwarten ist, stationiert die Regierung verstärkt Polizei und Armee. Die Verringerung oder Zerstörung der biologischen Vielfalt, die Ausbeutung der letzten natürlichen Ressourcen unserer Territorien, das Regiment der Transnationalen Konzerne sowie die Militarisierung unserer Regionen wie Chiapas, Puebla, Oaxaca oder Guerrero sind in kurzen Worten die Ergebnisse eines solchen Prozesses, der unsere Existenz als indigene Völker bedroht. So wurde 1999 eine Liste mit 85 traditionellen Heilpflanzen veröffentlicht. Die dort aufgeführten Pflanzen wurden als schädlich für die Gesundheit deklariert und für den medizinischen Zweck verboten. Pflanzen, mit denen unsere Medizinleute seit Menschengedenken arbeiten. Hier soll Konkurrenz und eine andere Art der Gesundheitsversorgung ausgeschaltet werden. Für uns ist es insgesamt eine schlichte Tragödie, und wir bezahlen mit unseren Schätzen – Erfahrung, Wissen, Ressourcen – die Schulden der Herrschenden. Zu all dem wurden wir nicht gefragt, von Verhandlungen gar nicht zu reden. Nur unser fortdauernder Widerstand verhindert, dass NAFTA und seine Konsequenzen aus dem öffentlichen Bewusstsein gestrichen werden.

Manuel Santander Solis: Lateinamerika würde vom Hinterhof zum Müllhaufen der USA degenerieren. Wir hätten es mit einer zweiten Kolonisierung, einer zweiten Conquista zu tun, die dieses Mal buchstäblich alles zur Beute werden ließe. In Chile werden jetzt schon Gesetze im Hinblick auf ALCA geändert.

 

Abadio Green: Nicht nur in Chile, in Kolumbien ebenso. Wenn ich mir die Gesetze zum Bergbau, zur Erdölförderung oder zur sonstigen Ressourcennutzung in Chile, Kolumbien, Ecuador, Peru oder Bolivien ansehe, dann stelle ich eine zunehmende Angleichung, oder besser: Anpassung an die Erfordernisse des freien Handels fest. Indigene Völker kommen darin allenfalls als Störenfriede vor, die den Fortschritt im nationalen Interesse blockieren. Für uns bedeutet das den Tod unserer Kulturen, den wir allerdings nicht widerstandslos hinnehmen. Die Regierung der USA betrachtet uns heute schon als eines ihrer Hauptprobleme.

María de Jesús Patricio: Im September 2003 trifft sich in Cancún die Runde der Handelsminister zum Welthandel. Der Freihandel soll als angeblich im Interesse der Entwicklungsländer stehend vorgeschlagen und festgezurrt werden. Es handelt sich aber eher um einen Angriff auf die Vielfalt der Kulturen.

bedrohte Völker: Welche Möglichkeiten des Widerstands gibt es?

María de Jesús Patricio: Wir rufen unsere Brüder und Schwestern dazu auf, eine Produktion im Widerstand aufzunehmen. D.h. wir greifen auf traditionelle Produktionsformen zurück, verkaufen kein Saatgut und Lebensmittel an Außenstehende, gehen keine Abmachungen über die Weitergabe unseres traditionellen Wissens ein und organisieren einen Tausch unserer Produkte aus verschiedenen Regionen. Wir sammeln darüber hinaus Informationen über Fälle, wie die erwähnten, und führen Seminare für die Gemeinschaften über die Folgen des Freihandels durch; sei es NAFTA oder ALCA. Zusammen mit solidarischen Gruppen in Nordamerika und Europa versuchen wir, auch dort über die Folgen aufzuklären.

Sebastião Manchineri: Im Kontext der COICA setzen wir uns neben der Aufklärung für eine Stärkung der regionalen und lokalen Selbstorganisation ein. Wir wollen ihre technische, wirtschaftliche und politische Schlagkraft erhöhen, um soziale und Menschenrechte zu verteidigen und langwierige Rechtsstreits vor allem zur Demarkierung der Territorien durchzustehen. Wir bemühen uns außerdem, indigene Juristen auszubilden und ein internationales Netz dazu aufzubauen.

Edda Moreno: Die Demarkierung unserer Territorien ist auch in Nicaragua ein ebenso vordringlicher Aspekt, wie die Einrichtung der Ombudsstelle für Ureinwohner; auch wenn der Beauftrage erst einmal nur beschränkte Kompetenzen besitzt. Im Rahmen unserer Universität URACCAN sind wir außerdem in der Lage, eingehender über Fragen der Wirtschaft, Gesundheit oder Bildung zu forschen und Kriterien zu formulieren, die unser überleben als eigenständige Kulturen sicherstellen sollen. Durch die unmittelbare Einbeziehung der lokalen Instanzen ermöglichen wir eine größere Partizipation in den politischen Entscheidungen.

Abadio Green: Es ist ja nicht so, dass wir uns den Problemen der Welt verschließen wollen. Wenn eine Eigenschaft meines Blutes jemandem anderen zu besserer Gesundheit verhelfen kann, bin ich gerne bereit, dies zu spenden. Es darf kein Geschäft und keine private Verfügung daraus werden. In gleicher Weise wehren wir uns, dass unser Wissen über Nahrungsqualität und Ernährungssicherheit in kommerzielle Güter zum Wohle weniger verwandelt wird.

bedrohte Völker: Was sind denn die Erwartungen an die Regierung in Deutschland oder die Europäische Union?

Manuel Santander Solis: Dass sie mehr Verantwortung für das von ihnen ausgehende Handeln übernehmen. Dazu gehört die Ratifizierung der ILO-Konvention 169, dazu gehört aber auch ein Prüfsystem für die Entwicklungszusammenarbeit, die indigene Gemeinschaften betreffen, sowie die unmittelbare Einbeziehung der lokalen Gemeinschaften in die Ausarbeitung von Projekten. Wir erwarten größere Transparenz und eine Folgenabschätzung der Maßnahmen auf die kulturelle Vielfalt in unseren Ländern. Die Europäische Union steht kurz davor, ein Handelsabkommen mit der chilenischen Regierung abzuschließen. Es enthält genau solche Bestandteile, wie wir sie bei ALCA befürchten: sie mindern unsere Rechte zugunsten der Investitionssicherheit europäischer Firmen. Es ist dringend an der Zeit, in Chile eine Konferenz unter Ureinwohnern abzuhalten, die die Erfahrungen aus Mexiko und Chile aufarbeitet.

Edda Moreno: Wir brauchen eine gleichwertige Partnerschaft in den Beziehungen zwischen indigenen Völkern sowie Deutschland und der Europäischen Union. Es ist sicher schon ein Fortschritt, wenn etwa die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit mit der COICA, mit indigenen Organisationen in Peru, in Bolivien oder mit uns in Nicaragua zusammenarbeitet. Es fehlt jedoch die Gleichwertigkeit der Konzepte, wenn es um die Frage geht, wie soll die Zukunft insbesondere auf unseren Territorien aussehen. Bis heute treffe ich überwiegend nur auf Hegel, also eine bestimmte Art der Effizienz und Rationalität, in den Köpfen.

Sebastião Manchineri: Erwartungen haben wir ebenso an die Nichtregierungsorganisationen. Zum einen treffen wir auch hier oft genug auf vorgefertigte Muster, welche Prozesse wie bei uns abzulaufen haben. Interkulturelle Beziehungen beginnen im Kleinen. Zum anderen benötigen wir dringend die Zusammenarbeit mit den NGOs für Kampagnen gegen ALCA, gegen Megaprojekte und zur Einsetzung von Tribunalen zu Umweltzerstörungen. Wir wissen, dass die Regierungen in Deutschland und Europa sich eher mit den Gruppen im Land als mit entfernt lebenden Ureinwohnern auseinandersetzen. Die NGOs sollten die Regierungen daher verstärkt in ihrer Politik ‚begleiten‘, um uns politische Freiräume zu sichern.