22.04.2005

EU / Eblul.Sterbendes Kulturerbe

In der erweiterten EU sind kollektive Rechte für Sinti und Roma notwendig, um die Diskriminierung zu beenden.

Das Europäische Büro für Sprachminderheiten (EBLUL) hat seit seiner Gründung 1982 immer wieder auf die wichtige Verbindung zwischen Sprache und Kultur und auf die Rolle der Sprache bei der Gestaltung und Erhaltung der Identität einer Volksgruppe aufmerksam gemacht. Auch wenn die Sprache nicht den einzigen Indikator der ethnischen Zugehörigkeit eines Menschen darstellt, so zeugen doch der Zustand einer Sprache, ihre Kommunikationsreichweite sowie ihre Stellung im öffentlichen und privaten Leben von der Lebensqualität der jeweiligen ethnischen Gemeinschaft in einer Gesellschaft.

Die sprachpolitische Umsetzung dieser einfachen Erkenntnis ist allerdings aufgrund der unterschiedlichen Rahmenbedingen und Ausgangssituationen der verschiedenen Regional- und Minderheitensprachen in Europa nicht einfach. Vor besondere Herausforderungen sieht sich das EBLUL gestellt, wenn es um Minderheitensprachen geht, die keine Schriftsprache sind. Dies ist beispielsweise bei Romanes der Fall, das eine Sprechsprache ohne standardisierte Schriftform ist. Schriftsprachen sind in der Regel "stärker", denn durch die verschriftlichte Form kann der Gebrauch einer Sprache situationsunabhängig gemacht werden. Sprechsprachen wiederum sind auf Begegnungssituationen eingegrenzt. Fachspezifisches Wissen beispielsweise kann nicht ohne weiteres mündlich überliefert werden. Folglich sind Sprachgemeinschaften von Sprechsprachen, wie etwa die Roma, auf Zweitsprachen angewiesen, wodurch das Romanes massivem Druck ausgesetzt wird.

Obwohl das Romanes zwischen 1000 und 1500 Jahre alt ist, werden seine Überlebenschancen gerade in modernen Gesellschaften als gering eingestuft. Daher gibt es zahlreiche Versuche der Verschriftlichung: in der Tschechischen Republik hat man sich beispielsweise dazu entschlossen, eine aus der Slowakei stammende Mundart in Schriftform zu bringen; die spanische Zeitschrift "Nevipens Romani" hingegen verwendet ein künstlich geschaffenes Romanes, ohne eine bestimmte regionale oder lokale Variante zu verschriftlichen. Doch eine Standardisierung ist allein schon deshalb schwierig, weil die Unterschiede zwischen den einzelnen Roma-Sprachgemeinschaften sich über die Jahrhunderte so weit vertieft haben, dass sich geographisch voneinander weit entfernte Roma-Gruppen heute nicht mehr gegenseitig verstehen können. Die Sprache der Roma ist also nicht ein Verbindungsfaktor, der die Roma in einer mehr oder weniger einheitlichen Sprachgemeinschaft vereint.

Neben den genannten sprachlichen Faktoren gibt es in Bezug auf das Romanes auch entscheidende Aspekte außersprachlicher Natur, die den Fortbestand dieser Sprache gefährden: Das Verhältnis zwischen Roma und der übrigen Bevölkerung wird häufig als konfliktuell empfunden und die Integrationsversuche der Roma in die Gesellschaft ignorieren konsequent sowohl die Förderung als auch den Erhalt ihrer ethnischen Identität. Zumeist ist sogar das Gegenteil der Fall: im Zentrum steht die Lösung grundlegender ökonomischer und gesundheitlicher Fragen im Zusammenhang mit den Wohnverhältnissen der Roma, wobei unkritisch die sprachliche Assimilation als Teil der erfolgreichen Integration aufgefasst wird. Sogar die Roma selbst verstehen die Integration in vielen Fällen als ein Sich-Entfernen und Entfremden von ihrer ursprünglichen Gemeinschaft: "Jene, die einen besseren sozialen Status erreicht haben, versuchen auf schnellstem Wege, jene typischen Merkmale und Eigenschaften, aufgrund derer man einen Angehörigen des Roma-Volkes erkennen kann, loszuwerden. Es kommt zu der paradoxen Situation, dass sich durch die Verbesserung der Ausbildung und damit der sozialen Schicht jene assimilieren und aus der Roma-Gemeinschaft austreten, die am meisten zu einer sprachlichen Kontinuität beitragen könnten", schreibt Sprachexpertin Albina Neçak Lük.

Folglich kam auch der UNDP Bericht über die Situation der Roma in Mittel- und Osteuropa (http://roma.undp.sk/) zum Schluss, dass ein verhältnismäßig geringer Prozentsatz der Roma zu Hause Romani sprechen.

In den neuen EU-Mitgliedstaaten Mittel- und Osteuropas leben Schätzungen zufolge zwischen 1.186.000 und 1.689.000 Roma. Große Bevölkerungsteile der Roma sind sprachlich bereits assimiliert. So sprechen beispielsweise in Ungarn nur etwa 15% der Roma-Bevölkerung Romanes oder Boyash, eine archaische Variante des Rumänischen. Trotz oder gerade wegen dieser nicht nur sprachlichen Tendenzen wird das EBLUL in den kommenden Jahren sich verstärkt auf die Romanes-Sprachgemeinschaften im erweiterten Europa konzentrieren müssen.

Neue EU-Bürger mit alter Diskriminierung

In den beigetretenen Ländern ist die Situation der Sinti und Roma denkbar schlecht. Dass die alten EU-Staaten nicht viel besser sind, ist ein schwacher Trost.

Slowenien: Mindestens 3.000 der 10.000 Roma in Slowenien wird bis heute die slowenische Staatsbürgerschaft mit der Begründung verweigert, sie seien früher aus anderen Teilen Jugoslawiens zugewandert. Die Betroffenen haben ständig Schwierigkeiten mit Behörden, wenn es um ihre Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis geht. Sechs Roma-Vereine, die im Verband der Roma-Vereinigung Sloweniens (Zveza Romskih Drustev Slovenije) zusammengeschlossen sind, leisten zunehmend wirksame Lobbyarbeit für ihre Gemeinschaften.

Lettland: Nach verschiedenen Angaben beträgt die Zahl der Roma in Lettland zwischen 15.000 und 30.000. Obwohl lettische Regierungsstellen die rassische Diskriminierung der Roma in Lettland leugnen, geben statistische Daten Anlass zur Sorge. Unter 5.985 Roma über 15 Jahren hatten nach dem letzten Zensus nur 24,3 Prozent die vierte Klasse abgeschlossen, während nur 2,1 Prozent der lettischen Bevölkerung an dieser Stufe gescheitert waren, Während 12,54 Prozent der lettischen Staatsbürger eine höhere Schuldbildung abgeschlossen hatten, traf das nur für 26 Einzelpersonen zu. Die Kommission des Europarates gegen Rassismus und Intoleranz hat die erschreckende Bildungsbilanz der Roma als zentralen Faktor ihrer Verarmung bezeichnet und die lettische Regierung um verstärkte Integration in das Schulsystem gebeten.

Litauen: Auch im Fall der litauischen Roma (etwa 3000 Personen) sagt der zweite Report zu Litauen der Kommission des Europarates gegen Rassismus und Intoleranz, dass auch sie Vorurteilen, Benachteiligungen und Diskriminierungen in vielen Lebensbereichen ausgesetzt sind sowohl im Bereich der Ausbildung, Beschäftigung, des Wohnungswesens, der Gesundheit und der Beschäftigung in staatlichen Diensten. Unter Roma grassieren Erkrankungen der Atemwege, des Magen-Darm-Traktes und akute Tuberkulose.

Zypern: Etwa 2.000 Zyprioten sind Roma und lebten fast ausschließlich seit 1974 im türkisch okkupierten Norden der Insel. Wirtschaftlich und sozial verelendet versuchten sie in den vergangenen Jahren im griechisch-zypriotisch kontrollierten Südteil Aufnahme zu finden. Sie stießen dort auf eine begrenzte Aufnahmebereitschaft der Behörden, aber auch auf Ablehnung und Agitation von Teilen der griechischsprachigen Medien und der Öffentlichkeit. Im Unterschied zu den drei kleineren zyprischen Volksgruppen der Armenier, Maroniten und Lateiner genießen die zyprischen Roma bisher keine offizielle Anerkennung als ethnische Gemeinschaft.

Rumänien: Bis zum Sturz Ceausescus war den 1,5 bis 3 Millionen rumänischen Roma die Anerkennung als nationale Minderheit vorenthalten worden. Nach 1989 durften Roma erstmals in der Geschichte Rumäniens eigene kulturelle Einrichtungen gründen, Zeitungen in Romanes herausgeben und sich politisch organisieren. Ihre Menschenrechtslage verschlechterte sich jedoch zusehends: In den Jahren 1990 bis 1994 kam es zu etwa 30 pogromartigen Ausschreitungen gegen Roma. Die Polizei schützte die Betroffenen entweder gar nicht oder nicht wirksam genug; die dafür Verantwortlichen wurden nicht verurteilt. Zahlreiche Roma-Familien entschieden sich vor allem in den Jahren 1991 und 1992 für die Flucht. Dazu kommt die katastrophale sozioökonomische Lage: Viele Roma leben unterhalb des Existenzminimums. Die damals aus Rumänien nach Deutschland geflohenen Roma mussten nach abgelehntem Asylantrag wieder zurückkehren.

Markus Warasin ist Generalsekretär des EU-Minderheitenbüros EBLUL in Brüssel.