03.11.2009

"Es hilft alles nichts, wir brauchen mehr Kinder, sonst wird die Lage desaströs"

Die demographischen Daten sind alarmierend. Deutschland belegt jetzt, im Jahre 2009, den letzten Platz der 27 europäischen Staaten in Sachen Nachwuchs. Bundeskanzlerin, Bundesinnenminister, die politischen Parteien und nicht zuletzt die Ministerpräsidenten der Länder klagen über immer weniger Kinder und sie alle erwägen Gegenmaßnahmen: Mehr Kindergärten, mehr Lehrer, mehr Erzieher… "Es hilft alles nichts, wir brauchen mehr Kinder, sonst wird die Lage desaströs", so Bundesinnenminister Schäuble im Sommer 2009, der gemeinsam mit Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann bislang härteste Verfechter gnadenloser Abschiebungen von Flüchtlingen.

Doch warum werden dann Woche für Woche Kinder und Jugendliche, die hier geboren oder hier aufgewachsen sind und deren Eltern als Flüchtlinge zu uns gekommen waren, in ferne Regionen abgeschoben?

Jeder, der sich für Flüchtlinge engagiert, jeder, der die Asyl-Entscheidungen von deutschen Gerichten verfolgt, weiß, dass nur ein sehr kleiner Teil der Flüchtlinge als solche anerkannt werden. Obwohl diese Menschen, wenn sie aus Genozid-, Vertreibungs-, und Bürgerkriegssituationen kommen, in der Regel wirklich Verfolgte sind – Menschen, die Unterdrückung und Verfolgung nicht mehr ertragen konnten. Unter ihnen sind Angehörige vieler ethnischer und religiöser Minderheiten: Roma und Aschkali aus dem Kosovo, Kurden Bahá’í, Yeziden, christliche Assyrer, Chaldäer und Armenier, Aleviten oder Mandäer aus dem Nahen Osten, Tschetschenen aus der Russischen Föderation oder Afghanen, die den Taliban oder zuvor der sowjetischen Armee entkommen sind.

Jeder, der als Repräsentant oder Mitarbeiter von Menschenrechts- und Bürgerrechtsorganisationen, von kirchlichen Hilfswerken oder Flüchtlingsräten mit diesen Flüchtlingen zu tun hat, weiß auch, dass unsere Politiker von Zeit zu Zeit "Schurkenstaaten" zu politischen Partnern machen und dass sie fortdauernde Verfolgungen und die fortwirkende Zerrüttung ganzer Regionen wegleugnen, um im Zusammenwirken mit Diktaturen Flüchtlinge abschieben zu können. Ausgerechnet mit Syrien, jener nahöstlichen Diktatur, die seit Jahren politische Gegner ermorden, foltern oder für immer verschwinden lässt, hatte Bundesinnenminister Schäuble in 2008 ein Abkommen über die Abschiebung politischer Flüchtlinge unterzeichnet. Ausgerechnet mit der machtlosen Regierung des Kosovo, die weiter unter internationaler Aufsicht steht, wurde die Rückkehr der Roma vereinbart, von denen 90 Prozent in den 1980er Jahren durch serbische Nationalisten und seit 1999 durch albanische Extremisten aus dem Lande gejagt wurden.

Doch Abschiebungen nehmen den Charakter von Deportationen an, wenn vor Ort weiter Minderheiten verfolgt oder unterdrückt werden. Handelt es sich um Menschen, um Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die in Deutschland geboren, aufgewachsen oder seit vielen Jahren hier ansässig geworden sind, geschieht ihnen noch größeres Unrecht. Denn sie sind Teil unserer Gesellschaft, unseres Landes geworden, sprechen unsere Sprache, identifizieren sich in den meisten Fällen mit unserer Kultur. Viele von ihnen sind gut ausgebildet. Diese Abschiebungen werden für sie zu Deportationen ins "Nichts", in Staaten, in den sie meist als Minderheitenangehörige nicht willkommen sind.

Im "Land ohne Kinder" haben tausende Lehrer, Sozialarbeiter, Kindergärtnerinnen, Geistliche, christliche Gemeinden, Flüchtlingsräte, Rechtsanwälte und sogar Abgeordnete, Menschenrechtler und andere Bürger unendlich viel – materiell und ideell – für die Integration dieser mehr als 100.000 Langzeitgeduldeten geleistet. Ökonomisch ausgedrückt bedeuten diese Abschiebungen auch das Verschleudern von menschlichem und materiellem Kapital. Gemessen in Euro sind das zweifellos Summen in dreistelliger Millionenhöhe.

Das macht keinen Sinn, denn unser Land hat immer weniger Kinder. Schulen müssen schließen, überall im Land. Ganze Dörfer sind ohne Kinder. In den ersten Städten klagt man bereits darüber, dass man nur noch alte Leute als Bürger hat. In der Europäischen Union ist Deutschland zum Schlusslicht geworden. In keinem anderen EU-Land ist die Geburtenrate so niedrig wie bei uns. Das Statistische Bundesamt veröffentlichte kürzlich Zahlen, nach denen die Geburtenquote auch 2009 gegenüber dem Vorjahr weiter gesunken ist.

Diese Abschiebungen von Kindern und ihren Eltern, die so lange unter uns lebten, sind in jeder Weise irrational. Nur ein Beispiel von vielen zum Abschluss: Wir holen 2.500 irakisch-christliche Flüchtlinge aus Syrien nach Deutschland und deportieren gleichzeitig lange bei uns ansässige, gut integrierte, christliche syrische Flüchtlinge in ihre frühere Heimat.

Dieser Wahnsinn, diese irrationale Politik, dieses extrem unmenschliche Verhalten unserer Innenminister, unserer Bundesregierung müssen wir endlich und möglichst schnell beenden,

im Interesse dieser jetzt doppelt traumatisierten Flüchtlinge!

Wir sollten auch einen Blick in unsere jüngste Geschichte zurückwerfen. Wir erinnern ständig an die Vernichtung der deutschen und europäischen Juden. Aber wir vergessen, dass auch hunderttausende Sinti und Roma Opfer des Holocaust wurden. Das verpflichtet uns. Wir haben über 120.000 jüdische Aussiedler in Deutschland aufgenommen. Es sollte selbstverständlich sein, dass wir den 30.000 in Deutschland lebenden Roma aus dem Kosovo, von denen die Hälfte abgeschoben werden soll, auch deshalb eine Heimat bieten. Schließlich ist Deutschland ohnehin ein Land der Flüchtlinge und Vertriebenen. Es hat nach dem Zweiten Weltkrieg 14 Millionen von ihnen aus den deutschen Ostgebieten aufgenommen. Dazu etwa vier Millionen Flüchtlinge aus der SBZ/DDR, die in die damalige Bundesrepublik flüchteten und dann in den späteren Jahren noch Millionen Aussiedler aus Osteuropa, unter ihnen die Russlanddeutschen, die bis heute vielfach über Diskriminierung klagen. Viele der Älteren unter uns waren unter diesen Flüchtlingen, Vertriebenen und Aussiedlern oder haben Angehörige, die zu den mehr als zwei Millionen Opfern von Flucht und Vertreibung gehörten.

Deshalb ist die Weigerung, diese hunderttausend langjährig geduldeten Flüchtlinge aufzunehmen, ein Traditionsbruch und ein kaltherziges Spiel mit Menschenleben. Mit unserer Kampagne appellieren wir an die verantwortlichen Politiker, diesen Familien und ihren Kindern, ein dauerhaftes Bleiberecht zu gewähren und für eine schnelle Einbürgerung zu sorgen. Deutschland braucht diese Menschen.