22.04.2005

Erzählerin des Schreckens

Die tschetschenische Menschenrechtlerin Lipkan Basajewa hilft vergewaltigten Frauen

Der Fall Nummer 57949/00 in den Akten des Europäischen Gerichtshofs ist der Fall der Tschetschenin Lipkan Basajewa gegen Russland. Russland wird in der Anklageschrift vorgeworfen, gegen drei Artikel der Europäischen Konvention der Menschenrechte verstoßen zu haben. Gegen jene, die das Recht auf Leben, die Unverletzbarkeit des persönlichen Besitzes und Rechtshilfe vor Gericht garantieren. Fünf weitere Klagen aus Tschetschenien hat der Europäische Gerichtshof zur Verhandlung zugelassen. In den anderen Fällen geht es um Missachtung des Rechts auf Leben und Unversehrtheit. Zusammen genommen ergibt sich aus den Anklagen das Bild eines Täters, der willkürlich, ohne Empathie und ohne Mitleid vernichtet.

An einem grauen, verregneten Wintertag kommt Lipkan Basajewa nach Hamburg, um dort vor der kleinen tschetschenischen Gemeinde über die Situation in Tschetschenien und über ihre Arbeit als Menschenrechtlerin zu sprechen. Sie will von der Vereinigung der Frauen des Nordkaukasus erzählen, deren Vorsitzende sie ist. Sie wird von Memorial erzählen. Geschichten wie: Wenn wir schnell genug bei der Polizei oder beim Militär sind, sobald einer der unseren verhaftet wird, können wir den Tod manchmal verhindern. Sie wird berichten, wie sie im vergangenen Herbst in Inguschetien eine Einrichtung für vergewaltigte Frauen gegründet hat, ein Projekt, das den Namen eines tschetschenischen Mädchens führt, das im Mai 2000 von einem russischen Oberst vergewaltigt und ermordet wurde: Elsa Kungajewa.

Zwei Kriege und das Alter sind nicht spurlos an Lipkan Basajewa vorübergegangen. Ein Netz von Linien läuft über ihr Gesicht, die Augen sind melancholisch, weise und ein wenig hochmütig zugleich. Die Hansestadt ist die letzte Station einer dreiwöchigen Deutschlandreise, auf der sie viel geredet, um Geld, Unterstützung und Sympathie für ihr Frauenzentrum, für ihr Land geworben hat. Sie hat Leid und Tod geschildert, hat die Tränen ihres Volkes zu Sprache geformt, hat das Unrecht, die Unmenschlichkeit beschworen. In präzisen Worten hat sie die Vernichtung einer Gesellschaft beschrieben: die Männer verschleppt, ermordet, die Frauen vergewaltigt, verwitwet, die Kinder verwaist. Keiner weiß, wie viele tot sind. Keiner weiß, wie viele noch am Leben sind. Man brauche eine Volkszählung, hat Lipkan gesagt. Eine Einschätzung der Verluste wäre doch wohl genug Beschreibung der humanitären Katastrophe, um die EU, die OSZE, die UN, den Europarat zur Reaktion zu zwingen. "Immer können sie doch nicht schweigen." Nur an der Zahl der überlebenden lässt sich ermessen, glaubt Lipkan, welche Hoffnung die Tschetschenen für eine Zukunft nach dem Krieg haben dürfen. Untergang oder Fortbestand?

Lipkan hat mit Abgeordneten, Menschenrechtlern, Friedensaktivisten und Vertretern moslemischer Gemeinden gesprochen. Ihre Stimme ist klar und ohne Anklage geblieben. Für Mitleid ist sie nicht gekommen, das wäre zu wenig. Sie will Gerechtigkeit für Tschetschenien. Sie will den Westen einbinden, will, dass Europa Verantwortung zeigt. Sie reiht Namen, Fakten, Zahlen und Daten zu einer Kette. Diese wie einen Strick um Russlands Hals zu legen, das erwartet sie von Europa. Sie erzählt, damit niemand eines Tages sagen kann, er habe es nicht gewusst. Dass die Zahl derer, die ihr zuhören, kleiner wird, weiß Lipkan. In der westlichen Wirklichkeit, in der sich die Erfahrungen eines sicheren Lebens ebenso spiegeln wie die Propaganda des Anti-Terror-Kampfes, haben die grauenvollen Erzählungen aus Tschetschenien nur noch wenig Gewicht. Politisch hat das Land keine Bedeutung, das tschetschenische Volk aus einigen hunderttausend Menschen ist nur eine Schachfigur im Machtpoker der Großmächte. Der russische Außenminister Ivanow hat die Gesellschaft für bedrohte Völker, die Lipkan sehr unterstützt haben, zu Unterstützern von Terroristen erklärt. Niemand hat dagegen protestiert. In der westlichen Welt, in warmen Räumen, an sauberen Tischen vorgetragen, ist der Schrecken Tschetscheniens wie um Lichtjahre entfernt.

Bevor 1999 der zweite Tschetschenienkrieg begann, war Lipkan Basajewa Dozentin für russische Literatur und Linguistik an der Universität von Grosny. Zusammen mit Tausenden von anderen Zivilisten floh sie im Oktober 1999 nach Inguschetien. Trotz der Vereinbarung, für die Flüchtenden einen Korridor zu öffnen, wurde der Treck aus der Luft beschossen. Das Auto der Basajewas und all ihre Habe wurde dabei zerstört. Im Gegensatz zu vielen anderen blieben Lipkan und ihre Familie aber am Leben.

In einem Gemeindezentrum am Rande von Hamburg warten gut dreißig Männer auf Lipkan. Obwohl es doch um Frauenprojekte geht, ist nur eine Frau gekommen. Man müsse das Schweigen brechen, sagt Lipkan, die Schande von den Frauen nehmen. Oberst Budanow, der Schänder und Mörder von Elsa Kungajewa, wurde wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen. Dass die Vergewaltiger zur Rechenschaft gezogen würden, erwarte sie nicht. In erster Linie ginge es um die medizinische und psychologische Behandlung. Darüber hinaus erhielten die Frauen rechtlichen Beistand, falls sie doch Anklage erhöben, man unterstütze sie bei der Suche nach Angehörigen, helfe ihnen, sich und ihre Kinder zu ernähren. "Wir haben Nähmaschinen gekauft", erzählt Lipkan. "Nun nähen die Frauen und haben endlich Geld." Dann redet sie über Grosny, über die Verlagerung ihrer humanitären Arbeit zurück in die tschetschenische Hauptstadt, um neue gesellschaftliche Strukturen zu schaffen. "Es zeigt, dass wir Hoffnung haben. Wir arbeiten jetzt mitten in Tschetschenien."

Plötzlich wird es still, und man meint, die zerfaserte Kulisse einer Ruinenstadt schöbe sich in den Raum. "Mitten in"-Sehnsucht ist das. Und Angst. Für die Männer, die an diesem Tag gekommen sind, ist Grosny Wunde in ihrer Seele. Nicht Wort. Nicht Wirklichkeit. Nicht einmal Bild. Von einer Stadt, in der jeden Tag geschossen wird, darf man keine Bilder vor Augen haben. Niemand von den Männern im Saal weiß, welches der Gebäude noch steht. Von Freunden, Verwandten, Lieben, darf man keine Erinnerung haben. Niemand weiß, wer noch lebt. In einer Zeit, in der in Tschetschenien täglich Menschen verschwinden und dann als unkenntliche Tote wieder auftauchen – mit ausgestochenen Augen, abgeschnittenen Gliedmaßen, von Handgranaten in Stücke gefetzt – ist die Erinnerung ein erstarrter Zustand und falsche Nostalgie.

Nun aber steigen aus Lipkans Sätzen die verdrängten Bilder auf: die der Frauen, Kinder, Eltern, Geschwister, die sie zurückließen, weil man Tschetschenien nur mit einem gefälschten Visum verlassen, den Preis dafür nur für einen aus der Familie zahlen kann. Zwischen Lipkans Sätzen wohnt die Gewalt, lauern Hunger und Armut. Die zu dünne Kleidung der Kinder, die Einsamkeit der Frauen, der Winter Tschetscheniens, die Kälte der Flüchtlingslager, all das verdichtet sich zu einer Wirklichkeit. "Wir danken Dir, Lipkan", sagen die Männer schließlich. "Und wir danken den Menschen hier in Deutschland, die uns aufgenommen haben. Wir möchten wissen, was wir tun können, damit man aufhört, Tschetschenen für Terroristen zu halten." Da schweigt Lipkan, die Beredte.

Eine Unterschrift für einen gerechten Frieden

20.000 Europäer für ein friedliches und unabhängiges Tschetschenien

Nach zwei Kriegen überzieht der ehemalige KGB-Agent Putin ganz nach stalinistischer Tradition das bereits zerstörte Land mit Terror, im Namen des Kampfes gegen den Terror. Tschetschenische Menschenrechtler dokumentierten gemeinsam mit der GfbV ausführlich die Menschenrechtsverletzungen der russischen Verbände, aber auch der tschetschenischen Widerstandskämpfer.

Als Menschenrechtsorganisation unterstützen wir die Friedensinitiative des ehemaligen tschetschenischen Außenministers Ilya Achmadov. Er fordert die sofortige Einstellung der Kriegshandlungen in Tschetschenien, das unter UNO-Kontrolle gestellt werden sollte. Der Friedensplan wird u. a. von der Radikalen Partei, dem italienischen Intellektuellen Adriano Sofri, den Bürgermeistern von Rom und Florenz und von der Langer-Stiftung in Bozen und Bologna unterstützt. Den Appell der tschetschenischen Friedensinitiative unterschrieben haben inzwischen 20.000 Persönlichkeiten – unter ihnen Marek Edelman, der ehemalige Kommandant des jüdischen Ghettoaufstandes von Warschau, Jelena Bonner, russische Menschenrechtlerin und Witwe des sowjetischen Dissidenten Andrej Sacharow, der grüne Europaparlamentarier Reinhold Messner und der ehemalige CSU-Europaparlamentarier Otto von Habsburg. Die Europäische Union hat Tschetschenien im Stich gelassen. Die gewählte, aber vertriebene tschetschenische Regierung bittet um Unterschriften für ihren Friedensplan. Die GfbV unterstützt diese Friedensinitiative und ruft die Leser dazu auf, ihre Unterschrift zu leisten für einen gerechten Frieden in Tschetschenien. (wm)