29.06.2005

Einschnitte in die Pressefreiheit, Rassismus, ethnische Verfolgung in der Russischen Föderation und Ausweitung des Krieges auf die tschetschenischen Nachbarrepubliken

Nach Tschetschenien:

Göttingen
Die Auswirkungen des seit 11 Jahren schwelenden Krieges in Tschetschenien auf die Russische Föderation sind zahlreich: der Anstieg der Kriminalität, die Bescheidung der Presse- und Meinungsfreiheit, die Zunahme des Rassismus, Antisemitismus und der Fremdenfeindlichkeit aber auch die Ausweitung ethnischer Verfolgung auf andere Volksgruppen. Beklagt werden muss zudem die massive Verschlechterung der Sicherheitslage in den Tschetschenischen Nachbarrepubliken und die nach wie vor anhaltende Gewalt in Tschetschenien selbst.

1. In der Russischen Föderation gibt es immer größere Einschränkungen in die Demokratie und besorgniserregende Entwicklungen in Bezug auf Presse- und Meinungsfreiheit.

Am 28.4.2005 forderte Dmitri Frolow, Beauftragter des russischen Geheimdienstes FSB eine bessere Kontrolle des FSB über Kommunikationssysteme und das Internet. Internetprovider sollten kontrolliert und Seiten überwacht werden. Frolow warnte davor, dass im Internet Gebrauchsanweisungen für den Bau von Bomben zu finden seien und dass über das Internet Protest gegen die Machthaber organisiert werden könne. Nach dem Verbot von Websites, dem Ausschalten nahezu aller kritischen Medien in Russland, ist dieser Vorstoß des FSB als neue Drohgebärde gegen das wichtige Medium und Kommunikationsmittel Internet zu werten. Als Meßlatte für die Freiheit der Medien kann die Zahl der Todesopfer unter Journalisten herangezogen werden. 2004 wurden nach Angaben des Glasnostzentrums (Glasnost Defense Foundation) allein 13 Journalisten in Russland ermordet. Der Trend in den letzten zehn Jahren ist besorgniserregend: 90 Journalisten sollen bei der Ausübung ihrs Berufs getötet worden sein. Das "Komitee zum Schutz für Journalisten" (Committee to Protect Journalists) betitelte den russischen Präsidenten Putin 2004 als "Feind der Presse". Dies bedeutet, dass die russische Regierung und Justiz Morde an Journalisten nicht verfolgt, zu einer Atmosphäre der Willkür beiträgt und die Presse am Gängelband hält. Mittlerweile gibt es keine unabhängigen Fernsehanstalten in der Russischen Föderation mehr, nur noch vereinzelte Zeitungen in Moskau getrauen sich, regierungskritisch zu berichten.

2. Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus sind in der Föderation mittlerweile an der Tagesordnung.

Die amerikanische Professorin, Anna Brodsky, hat in einer Untersuchung, die in der März 2005 Ausgabe der anerkannten russischen Zeitschrift "Neue Literaturrundschau" (Novoye literaturnoye obozreniye) erschien, belegt, dass russische Schriftsteller Bilder und Motive, die in antisemitischen Schriften der Nationalsozialisten auftauchen, heute verwenden, um Tschetschenen zu dämonisieren und ihrer menschlichen Züge zu berauben. Nach Brodsky finden "die Charakteristika, die die Nazis den Juden zugeschrieben haben” heute ihren Weg in die Werke einer zunehmenden Zahl russischer Schriftsteller, die die Tschetschenen als eine Inkarnation des absolut Bösen darstellen, genauso wie die Nationalsozialisten dies mit den Juden vor mehr als einem halben Jahrhundert taten.

"Die am häufigsten auftretende antisemitische Stereotype ist der Mythos der wirtschaftlichen Dominanz einer unermesslich reichen nationalen Minderheit”, schreibt die US-Professorin. Die verstörendste Parallele zwischen den antisemitischen Schriften der Vergangenheit und den anti-tschetschenischen Texten in Russland heute ist die Idee einer Blutschuld, die Vorstellung dass Juden und Tschetschenen Ritualmorde von Außenseitern als Teil ihrer nationalen Traditionen verüben. Einerseits zeigen diese Parallelen, wieweit gegangen wird, um Tschetschenen zu dämonisieren und zu entmenschlichen, zwei Schritte, die wie die amerikanische Professorin analysiert, unternommen werden, um das Ausrotten einer Gruppe einzuleiten. Auf der anderen Seite zeigen die Untersuchungsergebnisse, wie leicht sich der Hass auf eine Gruppe auf eine beliebige andere übertragen lässt.

Die rassistisch motivierte Gewalt hat sich in der Russischen Föderation massiv verstärkt. Allein 2004 zählte die Polizei der Föderation mindestens 8.500 fremdenfeindliche Gewalttaten, darunter verdoppelte sich die Zahl der Morde von 2003 bis 2004 auf 44. Betroffen sind neben Juden, sexuellen Minderheiten und Ausländern im Allgemeinen Personen aus dem Kaukasus. In seinem Bericht über die Menschenrechtslage in Russland schreibt der Menschenrechtskommissar des Europarates Alvaro Gil Robles im April 2005, die erste Welle des Rassismus habe gezielt Tschetschenen, die in verschiedenen Regionen der Föderation lebten, getroffen. Viele von ihnen seien aus ihren ehemaligen Wohngebieten vertrieben worden. Fernsehsendungen und Presseartikel würden die Gesamtheit der Tschetschenen mit Terroristen gleichsetzen, auch wären verdächtige Formulierungen wie "Person kaukasischer Nationalität" in Anlehnung an "Person jüdischer Nationalität" wieder salonfähig. Anti-muslimische Graffiti mit faschistischen Symbolen tauchten in der gesamten Föderation auf.

Fremdenfeindlichkeit spiegelt sich auch in Umfrageergebnissen wider: Die Stiftung "Open Russia" finanzierte eine repräsentative Umfrage, die folgende Ergebnisse erzielte:

     

  • 45-70% der russischen Bevölkerung haben nationalistische oder chauvinistische Einstellungen
  • 60-70% wollen die Zahl von Kaukasiern in der Russischen Föderation reduzieren und denken, dass die Macht im Land sich in den Händen der ethnischen Russen konzentrieren sollte.
  • 40-55% der Bevölkerung wollen die Anzahl der Chinesen, Vietnamesen, Juden und Personen aus Zentralasien reduzieren. Sie halten nichts von westlichen Werten.
  • Nur 37% denken, freundliche Beziehungen zum Westen seien möglich.
  • 42% wollen den Einfluß der Juden auf das öffentliche Leben in Russland reduzieren.

3. Ethnische Verfolgung, nicht nur der Tschetschenen, Kaukasier und Zentralasiaten, sondern auch von anderen Gruppen, z.B: den Mari in der autonomen Teilrepublik Mari El, der Baschkiren in Baschkirien oder der Turk Mesketen in der Region Krasnoder haben zugenommen.

Vom 10.-14. Dezember 2004 kam es in der in Zentralrussland gelegenen Republik Baschkirien zu einem Gewaltausbruch. OMON-Spezialkräfte nahmen hunderte Einwohner der Republik fest, misshandelten sie und vergewaltigten viele Frauen. Das Innenministerium der Republik nannte dieses Vorgehen eine Präventivmaßnahme im Kampf gegen die organisierte Kriminalität. OMON Kräfte, die in Tschetschenien gedient hatten, waren an diesen Verbrechen beteiligt. Die Ereignisse in Baschkirien sind deshalb so besorgniserregend, weil die Republik sich nicht am Rand der Russischen Föderation, sondern an der Wolga befindet. Sie hat eine muslimische Bevölkerungsmehrheit, die sich mehrheitlich aus Tataren und Baschkiren zusammensetzt. In der Folge kam es zu mehreren großen Demonstrationen in Baschkirien aber auch in Moskau, wo die Baschkiren ihre Rechte einforderten.

Die Turk Meschketen kommen ursprünglich aus dem südlichen Georgien. 1944 wurden sie wie andere Völker der Sowjetunion auch unter dem Vorwurf der Kollaboration mit den Nationalsozialisten kollektiv nach Usbekistan und Zentralasien deportiert. Im Gegensatz zu anderen Gruppen wurde ihnen jedoch keine Möglichkeit gegeben, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach Georgien zurück zu kehren. 1989, während einer Welle der Gewalt im Fergana-Tal, wo viele Meschketen lebten, wurden sie dort Opfer von Angriffen. Mehr als 70.000 von ihnen mussten evakuiert werden und wurden in sieben früheren Sowjetrepubliken angesiedelt. Die georgischen Behörden verweigerten ihnen damals die Rückkehr. Die Meschketen wurden zu Flüchtlingen. Zu dieser Zeit gab es fast keine Flüchtlinge in der Sowjetunion und die Gesetze entsprachen nicht der internationalen Norm. Als zwei Jahre später, 1992, eine neue Gesetzesgrundlage für die Staatsbürgerschaft in Russland geschaffen wurde, bekamen die meisten Meschketen automatisch die russische Staatsbürgerschaft. Nur in Krasnodar, wo 1991 etwa 15.000 Meschketen lebten, wurde ihnen die Staatsbürgerschaft verweigert. Heute, 13 Jahre später, hat sich die Situation für die Meschketen nicht gebessert. Im Moment leben zwischen 12.000 und 13.000 Meschketen in der Region. Mindestens 7.000 von ihnen sind staatenlos. Nach 15 Jahren in der Region haben einige der Meschketen Häuser gekauft, beackern Land. Sie sind aber weiterhin illegal dort und von der Willkür der örtlichen Beamten abhängig. Die Behörden schikanieren die Meschketen jedoch zunehmend, häufig werden sogar Eheschließungen behindert, weil keine Papiere vorhanden sind. Die Kinder werden zwar in den Schulen zugelassen, wenn auch von dort Kritik kommt. So wurden spezielle Klassen nur für Meschketen eingerichtet. Die IOM (International Migration Organisation) hat nach Verhandlungen mit den USA erreicht, dass eine beschränkte Anzahl an Meschketen aus Krasnodar in den USA angesiedelt werden können. Die ersten Gruppen, insgesamt knapp 100 Personen, reisten im Sommer 2004 aus. Rund 5.000 Meschketen haben Ausreiseanträge gestellt. Der Menschenrechtskommissar des Europarates, Alvaro Gil-Robles, der im April 2005 einen Bericht über seine Reisen nach Russland veröffentlichte, schreibt: "Ich will nicht noch in mehr Details dieser widerwärtigen Geschichte gehen. Sie hinterlässt mich mit einem Gefühl der Scham und der Wut. Es wurde deutlich, dass die Verantwortlichen der Region vollkommen in einem Netz von Lügen und Unwahrheiten verstrickt sind, dass nur als fremdenfeindlich zu bezeichnen ist. Sie widersetzen sich jeglichem vernünftigen Vorschlag."

Die Wolgarepublik Mari El zählt zu den ärmsten Regionen Russlands. Die Titularnation der Mari, früher als Tscheremissen bekannt, ist ein indigenes Volk und gehört zu den finno-ugrischen Völkern. Sie machen heute nur noch 43 % der ca. 750.000 Staatsbürger Mari Els aus. Aufgrund jahrzehntelanger russischer Assimilationspolitik und permanenter Russifizierung stellen die Russen mit 48 % inzwischen die Bevölkerungsmehrheit. Während der Sowjetherrschaft litten die Mari unter Zwangskollektivierung und Repressionen sowie der systematischen Auslöschung des Großteils ihrer Intellektuellen.

Doch auch heute ist die Situation der Mari geprägt von staatlichen Repressionen und zunehmender Beschneidung ihrer Minderheitenrechte. Verantwortlich dafür ist vor allem die Politik des im Jahr 2000 erstmals und im Jahr 2004 wieder gewählten Präsidenten Leonid Markelow. Dieser ist Russe und gehört der ultranationalistischen Partei von Wladimir Schirinowskij, der LDPR, an. Er gewann die letzten Wahlen durch massive Wahlmanipulation.

Einerseits unterdrückt die Regierung die politische Opposition (welche zu großen Teilen aus Mari-Angehörigen besteht) und verstößt damit gegen jegliche demokratischen Grundrechte und Freiheiten – andererseits leiden die Mari als Ethnie und Minderheit unter zunehmender Beschneidung ihrer kulturellen Rechte. Seit Dezember 2004 werden immer wieder Journalisten zusammengeschlagen und in einigen Fällen ermordet werden. Mari-Führer werden bedroht, erpresst und misshandelt. Da die Mari einen großen Teil der politischen Opposition ausmachen, sind die Unterdrückung und Verfolgung sowohl der Mari als auch der Oppositionellen eng miteinander verknüpft.

Die Regierung ist bestrebt, sämtliche Medien unter staatliche Kontrolle zu bringen. Kritiker und oppositionelle Stimmen sollen so zum Schweigen gebracht werden. Dies geschieht auf vielfältigste Weise: durch umfangreiche Personalwechsel, Kooperationsverbote für Verlagshäuser und oppositionelle Medien, massive Erpressungen und Bedrohungen von Redakteuren und Journalisten, nächtliches Verwüsten von Redaktionen sowie Einbrechen in Privatwohnungen. Zudem wird durch die Sperrung von Telefonnummern und E-Mail-Adressen versucht, jeglichen Kontakt von "verdächtigen Personen" mit dem Ausland zu unterbinden. Außerdem gehört das Überfallen und Zusammenschlagen von unbequemen Journalisten mittlerweile zum Alltag. So wurde Elena Rogachewa, die für Mari El zuständige Korrespondentin von Radio Free Europe/Radio Liberty am 7. Januar 2005 angegriffen und brutal zusammengeschlagen. Rogachewa ist zudem mit einem der führenden oppositionellen Journalisten verheiratet. Auch Wladimir Kolzow, der Chefredakteur von "Kudo + Kudo" und Vorsitzender des Rates der Mari ("Mer Kanasch") wurde am 06. Februar 2005 Opfer eines Angriffs mit Eisenstangen. Er überlebte nur knapp mit schwersten Verletzungen. Die Täter gingen bisher stets straflos aus.Ergebnis dieser Vorgehensweise der Behörden ist, dass es inzwischen praktisch keine privaten Zeitungen mehr in Mari El gibt, sämtliche Druck- und Verlagshäuser unter staatlicher Kontrolle sind, die wenigen kritischen Zeitungen unter ständiger Bedrohung in den Nachbarrepubliken produzieren und die Opposition jedes Mitgestaltungsrechts und Zugangs zu den staatlichen Zeitungen beraubt wurde.

Zudem verfolgt Präsident Leonid Markelow eine aktive Politik der Unterdrückung der indigenen Minderheit. Obwohl den Mari ein Autonomiestatus durch die russische Verfassung zugesichert wurde, sieht die Praxis anders aus. Die russische Bevölkerung wird gegenüber den Mari bevorzugt behandelt, vor allem in Bezug auf Berufsaussichten, Gehälter und bei der Vergabe von Unterkünften mit besserem Wohnstandard. Des Weiteren wurde jegliche staatliche Unterstützung für die Kultur der Mari von der Regierung gestrichen. Der Direktor des Mari National Theaters, Viktor Nikolajew, wurde im Januar 2005 ohne ersichtlichen Grund entlassen. Er gilt als einer der führenden Köpfe der politischen Mari-Bewegung, die in offene Opposition zum derzeitigen Präsidenten tritt.

Massenhafte, meist illegale, Entlassungen von Mari aus höheren Positionen in Regierung und Verwaltung sowie sonstigen Behördenstellen führten dazu, dass inzwischen nahezu die gesamte Mari-Intelligenz arbeitslos ist.

Trotz des in der Verfassung zugesicherten Sonderstatus der Mari-Sprache wird diese Sprache kontinuierlich aus dem öffentlichen Leben verdrängt. Die Regierung hat Russisch in Kindergärten, Schulen und Universitäten als Umgangs- und Unterrichtssprache durchgesetzt. Obwohl sie auch offizielle Amtssprache ist, können die Mari ihre Muttersprache inzwischen nur noch in lediglich 21 % der Schulen und dort lediglich als Fremdsprache mit fakultativem Status erlernen. Heute stehen den Mari im Fernsehen nur noch zwei bis drei Stunden pro Woche in ihrer Muttersprache zur Verfügung. Radiosendungen in Mari wurden auf weniger als eine Stunde täglich beschränkt.

4. In Tschetschenien selbst Lage der Menschenrechte nach wie vor katastrophal.

Mindestens 2.500 Menschen sind seit 1999 in der russischen Teilrepublik Tschetschenien verschwunden. Das "Verschwindenlassen" in Tschetschenien bezeichnet die internationale Menschenrechtsorganisation Memorial mittlerweile als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Jeden Tag verschwinden im Durchschnitt zwei Menschen in Tschetschenien. Seit der russische Generalstaatsanwalt Wladimir Ustinow während der Geiselnahme in einer Schule im nordossetischen Beslan so genannte "Gegengeiselnahmen" gefordert hat, werden systematisch Verwandte mutmaßlicher Kämpfer oder Terroristen verschleppt. Darunter auch Frauen und Jugendliche. Der Europarat wandte sich gegen das "Verschwindenlassen" von acht nahen Verwandten des am 8. März ermordeten letzten frei gewählten tschetschenischen Präsidenten Maschadow, die bis heute verschwunden bleiben. Menschenrechtler werden verfolgt und an ihrer Arbeit gehindert. Schon 13 von ihnen sind seit 1999 Mordanschlägen zum Opfer gefallen. Weiterhin ist Tschetschenien für unabhängige Journalisten und Menschenrechtsexperten gesperrt, Folterungen, Morde und Vergewaltigungen sind an der Tagesordnung. Obwohl die EU große Finanzhilfen für den Aufbau der Kaukasusrepublik zur Verfügung gestellt hat, ist die wirtschaftliche Lage katastrophal. Wiederaufbau ist nur in Teilen erfolgreich und ein Großteil des EU-Geldes versickert in der Korruption und in Taschen Einzelner.

5. Die Situation in den tschetschenischen Nachbarrepubliken, Inguschetien, Dagestan, Karbadino-Balkarien, Karatschaj-Tscherkessien und Ossetien gleicht sich immer mehr der in Tschetschenien an. Diese Destabilisierung des gesamten Nordkaukasus bedeutet für die betroffene Bevölkerung Einschnitte in ihre Grundrechte, insgesamt aber ein Sicherheitsrisiko für die Russische Föderation.

Seit der Wahl von Murat Zjazikov zum Präsidenten in Inguschetien im April 2002 hat sich die Lage in der Republik verschlechtert. Zjazikovs wird vom russischen Präsidenten Wladimir Putin unterstützt, genießt aber wenig Rückhalt in der inguschetischen Bevölkerung. Dies zeigte sich zuletzt bei einer Demonstration gegen Murat Zjazikov, am 30. April. Der Parlamentarier Musa Ozdoew hatte zu der Kundgebung in Nasran aufgerufen, wo es darum gehen sollte, den Rücktritt Zjazikovs wegen Korruption und Inkompetenz zu verlangen. Der inguschetische Innenminister schrieb Ozdoew am 26. April, er solle die Proteste aufkündigen, da sie Ziel von Terroristen werden könnte, und dann er, Ozdoew, die Verantwortung für eventuelle Unfälle tragen müsse. Die Regierung verbreitete unter Ozdoews Namen gefälschte Flugblätter, auf denen zusätzlich der gewaltsame Sturz Zjazikovs und der Abzug der russischen Truppen aus Tschetschenien gefordert werden. Am 30. April blockierten über 1.000 Polizisten und Armeeangehörige die Straßen und Plätze von Nasran. Busse mit potentiellen Demonstranten wurden gestoppt und zurückgeschickt. Trotzdem gelang es einer unbekannten Anzahl an Protestierern, sich in Nasran zu versammeln. Kaum hatte Ozdoew einige Worte gesprochen, wurde die Demonstration von Polizei mit Schlagstöcken aufgelöst und Ozdoew verhaftet. (Radio Free Europe / Radio Liberty), 1.5.2005)

Seit der Wahl Zjazikows werden regelmäßig Menschenrechtsverletzungen aus Inguschetien gegen die tschetschenischen Flüchtlinge aber auch gegen die eigene Bevölkerung bekannt. Die Büros von Menschenrechtsorganisationen werden immer wieder durchsucht. So zum Beispiel am 14. Dezember 2004 das Büro der unabhängigen Journalistenvereinigung SNO. Die anerkannte tschetschenische Menschenrechtsorganisation "Komitee zur Nationalen Rettung" (Vorsitzender Ruslan Badalov) wurde mehrmals verklagt mit dem offenen Ziel, die Organisation zum Schließen zu bewegen. 14 Ärztinnen in Inguschetien wurden widerrechtlich vom russischen Geheimdienst zur Fahndung ausgeschrieben, weil sie Terroristinnen seien. Fahndungsfotos tauchten erstmals im Frühling 2004 auf. Eine Untersuchung ergab, dass die Frauen fälschlicherweise verdächtigt wurden. Am 9. September 2004 jedoch, kurz nach der Geiselnahme in einer Schule in Beslan (Nordossetien) tauchten die gleichen Fahndungsplakate wieder auf. Obwohl mehrere internationale Organisationen gegen diese Aktion des russischen und inguschetischen Geheimdienstes protestierten, wurde die Fahndung aufrecht erhalten. Vor Wahlen oder anderen wichtigen Ereignissen wurden immer wieder Internetportale in Inguschetien geschlossen. Organisationen wie Memorial in Nasran berichten von systematischen Störungen ihrer Arbeit durch Stromausfälle und die Manipulation der Internetzugänge.

Im Osten Tschetscheniens, in der Republik Dagestan, spitzte sich die Lage Anfang Januar 2005, nach mehreren Mordanschlägen auf Polizeioffiziere und andere Staatsangestellte weiter zu. Bei Razzien in der gesamten Republik aber besonders in der Hauptstadt Machatschkala und im Gebiet Chasawjurt, an der Grenze zu Tschetschenien, sollen mehrere hundert Personen festgenommen worden sein. Die Grenzen zwischen bloßer Kriminalität und politisch motivierten Guerillaaktivitäten scheinen sich dabei immer stärker zu verwischen. "Kriminelle Gruppen, nationalistische Rebellen, fanatische Terroristen und Sicherheitskräfte sind in einem feinmaschigen Netz aus wechselnden Allianzen, Intrigen und offenen Konflikten gleichermaßen gefangen", schreibt die NZZ am 13.1.2005.

Während des einseitigen Waffenstillstands der tschetschenischen Kämpfer zwischen dem 2. und 23. Februar 2005 nahmen die Kampfhandlungen in der Republik selbst ab, Russland konzentrierte sich auf Angriffe gegen mutmaßliche Terroristen in den Nachbarrepubliken. Beobachter vergleichen die Einsätze der russischen Sonderkommandos mit der Taktik der israelischen Armee in den Palästinensergebieten. Einzelne Häuser oder Wohnblocks werden mit Raketen beschossen, Soldaten stürmen Wohnungen und walzen danach mit Panzern ganze Häuser nieder. In den Februarwochen wurden solche Einsätze in Naltschik, der Hauptstadt von Karbadino-Balkarien und in Karachayevsk, einer Stadt in Karatscho-Tscherkessien durchgeführt. Auch in Dagestan wurde ein Haus, in dem Terroristen vermutet wurden, stundenlang unter Beschuss gehalten. Am 28. April fand in der dagestanischen Hauptstadt Machatschkala eine Demonstration mit mehr als 150 Teilnehmern statt. Gefordert wurde die Freilassung der Brüder Magomed und Gazimagomed Gairbekow, die am 3. November festgenommen worden waren. Nicht nur der Krieg in Tschetschenien ist die Ursache für die Unzufriedenheit der Bevölkerung, die den Nährboden für vermehrte Gewalt liefert. Die hohe Arbeitslosigkeit, schlechte Wirtschaftlage, Korruption und autoritäre Politik sind weitere Faktoren. In den Republiken regieren allesamt Marionetten des Kreml, die von der Bevölkerung weder anerkannt werden noch in ihr verankert sind. In Karbadino-Balkarien zum Beispiel herrscht eine autoritäre Regierung, der lokale Ableger des russischen Geheimdienstes ist allgegenwärtig, die Opposition wird unterdrückt und Moscheen geschlossen. Diese Faktoren begünstigen gerade vor dem Hintergrund des Tschetschenienkrieges das Entstehen einer islamistischen Bewegung. Am 28. April wurde dort, so meldet die russische RIA-Nachrichtenagentur, der Führer des Dschaamat "Jamuk" (islamische Gemeinschaft) Rustam Bekanov erschossen. Zuvor waren in Naltschik vier muslimische Kämpfer erschossen worden seien, zwei wurden festgenommen. Desweiteren kam ein Milizionär um, der ein Auto angehalten hatte. Die Insassen des Fahrzeugs waren bewaffnet und eröffneten das Feuer auf den Milizionär. Dies ist nur eine Meldung, die deutlich macht, wie sich die Sicherheitslage in Karbadino-Balkarien verschlechtert hat. Im mehrheitlich christlichen Nordossetien wurde am 2.2.2005 Yermak Tegaev, der Leiter des Islamischen Kulturzentrums in Wladikawkaz und ein offener Regierungskritiker vom lokalen FSB verhaftet. Dieses harte Vorgehen in den nordkaukasischen Republiken ist ganz in Putins Sinn. Er lobte den zuständigen Innenminister Raschid Nurgaliev wegen der Militäroperationen in Naltschik und sagte am 22. Februar 2005: "Sie müssen mit dieser Arbeit fortfahren, seien sie härter mit ihnen, seien sie härter!" Nurgaliev kündigte weitere Operationen in Dagestan und Inguschetien an.