13.07.2013

Eine Überlebende des Völkermordes von Srebrenica berichtet

Hatidza Mehmedovic im Gepräch mit Jasna Causevic

© GfbV Archiv

Wie war Dein Leben vor dem Ausbruch des Krieges in Bosnien (1992)?

Bis zum Ausbruch des Krieges in Bosnien-Herzegowina lebte ich friedlich und in einer harmonischen Ehe mit meinem Ehemann und unseren zwei wunderschönen Söhnen, Azmir und Almir-Lalo im Dorf Suceska in der Nähe von Srebrenica. Mein Ehemann arbeitete im Kulturzentrum (Dom kulture) in Srebrenica. Unsere Söhne gingen zur Schule und ich kümmerte mich um den Haushalt.

Wir bauten ein Haus in der Ortschaft Vidikovac in Srebrenica, das wir unmittelbar vor dem Krieg auch bezogen.

 

Wie war die Lage in Srebrenica im Frühjahr 1992?

Im Frühjahr 1992 begann der Angriff auf Srebrenica, die Stadt war überfüllt mit Flüchtlingen. Jeden Tag wurden es mehr und mehr. Einige von ihnen schliefen auf den Straßen. Die Stadt stand jeden Tag unter ständigem Beschuss und es wurde überall geschossen, sodass man nirgendwo mehr sicher war.

Bald quälte uns der Hunger. Durch die ständigen Angriffe waren wir nicht in der Lage, Gemüse anzubauen, die Läden waren leer und geschlossen, man konnte nichts kaufen. Die Serben belagerten die Stadt und ließen die Konvois mit humanitärer Hilfe nicht passieren. Wir hatten keinen Strom und kein Trinkwasser und die Telefone funktionierten nicht. Erst im März und Juni 1993 erreichte die erste humanitäre Hilfe Srebrenica. Aus den Flugzeugen wurden auf die umliegenden Hügel Kisten mit Lebensmitteln und Medikamenten abgeworfen. Wir warteten Tag und Nacht auf diese Hilfe aus der Luft. Wir nutzten dabei alles, was wir neben den Lebensmitteln und Medikamenten bekamen: Frauen nähten aus dem Nylon der Fallschirme Hemden und Hosen für Männer und Jungen. Der Faden, mit dem der Fallschirm genäht war, wurde zum Verbinden von Kunststofffolien benutzt, aus denen Unterschlüpfe improvisiert wurden. Die Holzkisten wurden zerschlagen und als Brennholz verwendet.

 

Was ging dem Massaker im Juli 1995 voraus?

Sobald es sich in Srebrenica herumsprach, dass Mladics Tschetniks in die Stadt einmarschieren, bat ich meinen Mann und unsere Söhne, dass wir zusammenbleiben. Sie sagten, sie würden zusammen mit anderen Männern durch den Wald gehen und ich sollte mit anderen Frauen zu dem Hauptstützpunkt des niederländischen Bataillons in Potocari gehen.

Sie versprachen mir, dass wir uns in einigen Tagen in Tuzla wiedersehen werden und baten mich, mir keine Sorgen zu machen. Ich wollte mit ihnen durch den Wald gehen, aber sie gestatteten mir das nicht. Besonders Azmir und Lalo äußerten sich besorgt. Sie sagten, ich wäre nicht in der Lage, die schwierige und anstrengende Reise durch den Wald zu überstehen. Auf die Schnelle hatte ich für sie ein Brot gebacken und etwas Wasser eingepackt. Anderes hatten wir nicht zu Hause gehabt. Dann umarmte und küsste ich alle drei fest. Heute noch spüre ich die feste Umarmung meines jüngeren Sohnes Lalo, dem es sehr schwer fiel, sich von mir zu trennen. Mir flossen die Tränen. Sie waren auch kaum in der Lage, ihre Tränen zu unterdrücken, sie wollten sie, glaube ich, vor mir verbergen.

Als sie dann zum Treffpunkt der Kolonne gingen, konnte ich ihnen noch lange mit dem Blick folgen. Ich versuchte mir damals, jede ihrer Bewegungen einzuprägen und ich bekam Angst, dass dies das letzte Mal sein könnte, dass ich sie lebend sehe. Ich erinnere mich noch heute gut daran, dass Azmir eine grüne Hose und Lalo eine blaue an hatte.

Kurz darauf ging ich nach Potocari. Auf dem Weg dorthin sah ich viele Verwundete und Tote. Mladics Tschetniks hatten die ganze Zeit Menschen auf dem Weg nach Potocari beschossen. Als ich den UN-Stützpunkt in Potocari erreichte, sah ich, dass sich dort bereits Tausende von Frauen und Kindern versammelt hatten.

Niederländische Blauhelmsoldaten erlaubten uns zuerst nicht, das Gelände, auf dem ihre Truppen innerhalb der UNPROFOR-Friedensmission stationiert waren, zu betreten. Aber da immer mehr Menschen ankamen, mussten sie die Tore öffnen und uns auf das Gelände und in die Hallen der Akkumulatorenfabrik in Potocari, die sie als Hauptstützpunkt benutzten, reinlassen.

Den ganzen Tag und die ganze Nacht verbrachte ich mit anderen Flüchtlingen im Freien. Die Tschetniks betraten ungehindert das Fabrikgelände, sie gingen rein und raus und führten die letzten Männer ab, die sich dort noch befanden.

In einem Moment war ich sogar froh, dass mein Mann Abdulah und meine Söhne Almir und Azmir nicht bei mir geblieben waren, weil sie genauso hätten abgeführt werden können. Ich war in Gedanken mit ihnen und erhoffte mir, dass sie das freie Territorium inzwischen erreicht hatten.

Am Vorabend des 12. Juli 1995 war ich an der Reihe: Ich war unter denjenigen, die nach den Selektionen Busse besteigen und Srebrenica verlassen sollten.

Ich war zusammen mit meiner alten und kranken Schwiegermutter und wollte bei ihr bleiben, um ihr zu helfen.

Als ich hinter ihr in den Bus steigen wollte, tauchte ein bärtiger Tschetnik auf, zog mich zurück und sagte, dass es mir nicht erlaubt sei, in diesen Bus einzusteigen. Ich war entsetzt und blieb wie versteinert stehen.

Nach einer Weile bemerkte mich ein junger Mann in der Uniform der Jugoslawischen Volksarmee (JNA) und fragte mich, warum ich nicht in den Bus steige. An seinem Akzent war zu erkennen, dass er aus Serbien kommt. Aus Angst antwortete ich ihm nicht. Er schüttelte nur den Kopf und brachte mich zum zweiten Bus und befahl mir einzusteigen. In diesem Moment tauchte der gleiche bärtige Tschetnik auf und schrie mich an. Er fragte mich, wie ich es wagen könnte, einzusteigen, nachdem er mir das verboten hätte. Wieder gab ich auf. Aber kurz darauf erschien der junge Soldat in der Uniform der JNA und fragte mich ganz leise, aber sichtbar verärgert, warum ich noch nicht in den Bus gestiegen wäre.

Wieder erschien der bärtige Soldat und sagte ärgerlich: „Wie oft muss ich Dir sagen, dass Du nicht in den Bus einsteigen kannst!" Der junge Soldat in der JNA-Uniform setzte sich aber schließlich durch und bat ihn, mich in den Bus einsteigen zu lassen. Ich kenne den Namen dieses jungen Mannes nicht, aber ich denke heute, dass er mir an diesem Tag das Leben rettete.

Der Bus, in dem ich am Ende saß, wurde unterwegs unzählige Male angehalten: Die Tschetniks stiegen ein und richteten ihre Gewehre auf uns. Sie fragten nach Männern und jungen Mädchen, die, wenn die Tschetniks fündig wurden, abgeführt und vergewaltigt wurden. Sie forderten Geld und Gold von uns. Wir gaben ihnen alles, was wir hatten. Unmittelbar vor der Demarkationslinie hielt der Bus an und wie mussten alle aussteigen. Wir durften nur noch zu Fuß weitergehen, um schließlich das freie Territorium zu erreichen. Irgendwie schaffte ich es, Tuzla zu erreichen. Dort wurden wir auf dem Gelände des Flughafens Dubrave nahe Tuzla untergebracht.

Zusammen mit anderen Frauen wartete ich dort auf die Ankunft unserer Söhne und Ehemänner, aber die Zeit verging und sie kamen nicht. Bald erreichten uns die ersten Nachrichten darüber, dass die Männerkolonne aufgegriffen, alle gefangen genommen und hingerichtet worden waren. Keiner von uns konnte glauben, dass es wahr ist und wir lebten in der Hoffnung, dass sie doch noch auftauchen werden.

Die Jahre vergingen ohne Informationen darüber, was genau passiert war. Es wurden Massengräber um Srebrenica, Zvornik, Bratunac und um andere Städte im Drina-Tal gefunden und geöffnet.

 

Wann bist Du nach Srebrenica zurückgekehrt?

Ich kehrte im Jahr 2002 nach Srebrenica zurück. Seitdem lebe ich ganz allein in unserem Haus in Vidikovac. Ich bin, wie die meisten anderen Mütter und Überlebenden des Völkermords, nach Srebrenica zurückgekehrt, um in der Nähe der Gedenkstätte und des Friedhofs in Potocari zu sein, wo unsere Lieben begraben sind. Ich gründete den Verein „Mütter von Srebrenica", in dem Mütter und Frauen, die nach Srebrenica zurückgekehrt sind, zusammengeschlossen sind.

Seitdem bin ich auch die Koordinatorin im Büro der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in Srebrenica. Die GfbV mit ihren Sektionen in Deutschland, der Schweiz und Luxemburg hat erhebliche humanitäre Hilfe geleistet, um Rückkehrern in Srebrenica und den umliegenden Dörfern zu helfen. Wir haben Hunderte von Kühen, Ziegen, Schafen, Motorkultivatoren und Sonstiges an die Rückkehrer in Srebrenica verteilt. Viele haben überlebt und sind – dank dieser Hilfe – auch in Srebrenica geblieben.

Jeden Tag besuche ich Rückkehrer und Rückkehrerinnen und versuche, ihnen zu helfen. Und abends komme ich in mein Haus, das ohne meine Söhne und meinen Mann leer und kalt ist. Drei Kiefern, die vor dem Haus von meinen Söhnen und meinem Mann gepflanzt wurden, und die in die neben dem Haus stehende Betonwand eingravierten Namen meiner Söhne Azmir und Lalo rufen lebhafte Erinnerungen an sie, ihr Heranwachsen und ihr kurzes Leben hervor.

 

Wann hast Du von dem Schicksal Deines Mannes und Deiner Kinder erfahren?

Bis 2007, insgesamt 12 Jahre nach dem Krieg, lebte ich in der Hoffnung, dass ich sie am Leben finden werde. Dann im November 2007 endete die Zeit der Ungewissheit für mich. Ich werde nie jenen 13.November 2007 vergessen, als ich vom Institut für Vermisste angerufen und mir mitgeteilt wurde, dass in einem Massengrab (Liplje in der Nähe von Zvornik) ein kleiner Teil des Skeletts meines Mannes und in dem Massengrab Pilice das fast vollständige Skelett von einem meiner Söhne geborgen wurde (eine Rippe und einige Fingerknochen fehlten).

Einen zusätzlichen Schock löste bei mir die Nachricht aus, dass die genaue Identität meines Sohnes nicht festgestellt werden könnte, bis auch sein Bruder, mein zweiter Sohn, gefunden wäre: Die DNA-Analyse konnte nämlich nur bestätigen, dass das Skelett einem meiner Söhne gehört, aber sie gab keine Auskunft darüber, zu welchem Sohn die DNA gehört, Azmir oder Almir. Ich musste darauf warten, bis die sterblichen Überreste meines zweiten Sohnes gefunden werden, um die Skelette richtig zuordnen zu können. Ich fürchtete, dass ich vielleicht nie meinen anderen Sohn finden werde und dass ich sterben könnte, bevor ich beide Söhne und meinen Mann beerdigen kann.

Dann, eines Nachts, vom 9. auf den 10. Mai 2010, träumte ich von meinem älteren Sohn Azmir, der auf einem Hügel stand. Ich rief ihm zu, er soll schnell kommen, etwas essen und schlafen gehen.

Ich wachte in Tränen und tief erschüttert auf und war nicht mehr in der Lage, einzuschlafen. Ich hatte ein seltsames Gefühl, eine merkwürdige Vorahnung. Einige Stunden, nachdem ich aufgestanden war, klingelte dann das Telefon. Als sich das Institut für Vermisste meldete, ahnte ich, worum es sich handeln könnte. Es wurde mir mitgeteilt, dass ein kleiner Teil des Skeletts (ohne Schädel) meines zweiten Sohnes in dem Sekundärmassengrab Liplje bei Zvornik gefunden wurde und dass auf dem Skelett ein kleineres Stück der Kleidung noch vorhanden sei. Dieses Mal wusste ich sofort, welcher Sohn es ist. Sie brauchten es mir nicht zu sagen. Ich wusste sofort, dass es das Skelett von meinem älteren Sohn Azmir ist und dass das erste Skelett, das im November 2007 gefunden wurde, zu meinem jüngeren Sohn Almir-Lalo gehören musste. Am nächsten Tag ging ich nach Tuzla, um die gefundenen sterblichen Überreste zu identifizieren. Und wie ich mir auch gedacht hatte, stellte sich heraus, dass das neu ausgegrabene Skelett Azmir gehörte. Ein kleines Stück der grünen Hose wurde mit einem Teil seines Skeletts gefunden.

Obwohl von meinem Sohn Azmir und von meinem Ehemann Abdulah nur rund 30% des Skeletts gefunden wurde, beschloss ich im Juli 2010, sie bestatten zu lassen.

Ich hatte immer Angst, dass ich sterben könnte, ohne sie zu begraben. Der Gedanke ist aber schrecklich, dass ich meine Kinder ohne Arme, Beine oder Kopf begraben musste.

Dieser 11. Juli, der Tag der Beerdigung, war der schlimmste Tag meines Lebens. Obwohl ich wusste, dass Azmir, Lalo und Abdulah vor fünfzehn Jahren ermordet wurden, schien es in diesem Moment, als wäre es gestern gewesen.

Ein unbeschreiblicher Schmerz drückte auf mein Herz, als sie nebeneinander ins Grab gelegt und ihre Gräber mit Erde gefüllt wurden.

Ich war allen dankbar, die bei mir waren, die durch ihre Anwesenheit meinen Söhnen und meinem Mann die letzte Ehre erwiesen haben.

Obwohl der Schmerz, den ich bei der Beerdigung fühlte, später nie verschwand, fühle ich mich erleichtert, da ich jetzt jeden Tag zu ihren Gräbern gehen und für ihre Seele die Fatiha rezitieren kann. Wir Mütter leben für den Tag, an dem wir unsere Liebsten beerdigen können, so dass wir zu ihren Gräbern gehen können und ihre Seelen endlich Frieden finden.

 

Wie hast Du Dich am Beginn des Prozesses gegen Ratko Mladic gefühlt?

Die Verhaftung von Ratko Mladic an sich, genauso wie die frühere Verhaftung von Radovan Karadzic, hat uns Müttern keine große Freude bereitet. Unsere Trauer ist zu groß, auch unsere Bitternis darüber, dass die Verhaftung so spät erfolgt ist. Besonders schwierig war es für uns, zu sehen, dass Ratko Mladic erst nach so langer Zeit verhaftet wurde, da es aussah, als habe er nicht mehr so lange Zeit zu leben und es daher ungewiss bleibt, ob er sein Prozess und auch sein Urteil noch erleben wird.

Allerdings waren wir froh zu sehen, dass der Mörder unserer Kinder schließlich vor Gericht steht. Der Beginn des Prozesses und die Anklageverlesung durch den Staatsanwalt Dermot Groome versetzte uns wieder zurück in den Monat Juli 1995. Es kamen mir wieder die Bilder des Leidens, der Trennung von meinem Mann und meinen Söhnen, Bilder von der Selektion der Männer in Potocari, die von den Frauen getrennt und abgeführt werden. Während der Beschreibung dieser Szenen gab es keine sichtbare Reaktion wie Reue von Ratko Mladic. Er zog manchmal Grimassen, lächelte uns provozierend an und zeigte damit den Überlebenden des Völkermords seine Verachtung.

Dieser Mann hat sich gar nicht verändert. Seine Augen strahlen noch Hass aus und ich glaube, wenn er noch einmal die Chance hätte, würde er wieder dasselbe tun. Mir scheint es außerdem, dass man sich im Gewahrsam des Tribunals sehr gut um ihn kümmert, Mladic wirkt im Vergleich zu seinem früheren Erscheinen vor Gericht auskuriert und erholt. Er hinterlässt den Eindruck, als ob er auf einer Kur und optimal versorgt wäre.

Ich hoffe sehr, dass der Ankläger des Tribunals zur Beweisführung das ganze Ausmaß seiner Verbrechen präsentieren und deutlich machen wird, dass es seine Absicht war, in ganz Bosnien Völkermord an den Bosniaken zu begehen. Ich hoffe, dass er verurteilt werden wird.

Für uns Mütter wird es nicht einfacher sein, unseren Schmerz zu ertragen, wenn er rechtskräftig verurteilt ist, aber die Verurteilung von Mladic sollte eine Warnung sein, damit diese Verbrechen sich niemals wiederholen.

Von den Richtern des Tribunals erwarten wir, dass sie Mladic keine Zugeständnisse einräumen werden, wie es im Fall von Milosevic, Seselj, Karadzic und anderen Kriegsverbrechern war.

Leider hat es den Anschein, dass auch Mladic die Absicht hat, seinen gesundheitlichen Zustand zu nutzen, um den Prozess und somit die Urteilsverkündung so lange hinauszuzögern, bis er stirbt.

 

Wie hast Du die Aussetzung des Prozesses am zweiten Tag erlebt, zu der es wegen der „Unregelmässigkeiten“ („clerical errors“) auf Seiten der Staatsanwaltschaft gekommen ist (Die Ankläger hätten der Verteidigung Dokumente vorenthalten und damit die Vorbereitung der Gegenseite auf den Prozess behindert)? Spielte diese Aussetzung nicht direkt in die Hände von Mladic und seinen Unterstützern und schadet es nicht dem Ansehen des Tribunals?

Von der Staatsanwaltschaft erwarten wir eine absolute Bereitschaft und Effizienz, damit Mladic nicht in die Lage gebracht wird, potenzielle Fehler der Anklage auszunutzen, um seine Ziele zu erreichen. Leider haben die Richter den Prozess schon am Anfang aufgrund von Fehlern der Staatsanwaltschaft unterbrechen müssen. Das macht mich sehr traurig und wütend und bestätigt meinen Verdacht, dass die Staatsanwaltschaft auch bei diesem Prozess nicht gut vorbereitet ist.

Am Vorabend des Prozesses gegen Ratko Mladic haben sich Vertreterinnen und Vertreter der Opferverbände aus Bosnien mit dem Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien, Serge Brammertz, getroffen.

 

Worüber habt Ihr mit Herrn Brammertz gesprochen?

Für uns, die Vereinigungen der Mütter von Srebrenica und Tuzla war es sehr wichtig, Herrn Brammertz noch einmal darauf aufmerksam zu machen, dass wir noch auf die Ergebnisse der Ermittlungen bezüglich der Zerstörung von Beweisen/ Artefakten aus den Massengräbern in Srebrenica warten, die von der ehemaligen Chefanklägerin des Tribunals, Carla del Ponte, angeordnet wurden.

Wir bekräftigten, dass wir eine Klage gegen die ehemalige Chefanklägerin Carla del Ponte aber auch gegen ihn als amtierenden Chefankläger der Tribunals vorbereiten, weil er selbst nichts getan hat, um die Zerstörung der persönlichen Gegenstände unserer Lieben, die in Massengräbern gefunden wurden, zu untersuchen. Das Tribunal hatte kein Recht gehabt, ohne unser Wissen und ohne unsere Zustimmung irgendetwas zu zerstören, was unseren Liebsten gehört hatte.

Besonders tief verletzt uns die Begründung, dass die Zerstörung von Artefakten/Beweisen mit der Sorge um die Gesundheit der Mitarbeiter des Tribunals gerechtfertigt wurde. Der Zustand der Beweise hätte die Gesundheit der Mitarbeiter beeinträchtigen können, hieß es offiziell. Hätten sie Angst um ihre eigene Gesundheit gehabt, sollten sie alle Gegenstände an uns Mütter zurückgeben, die sich bemühen, jeden, wenn auch noch so kleinen und für sie noch so „unwichtigen“ Gegenstand unserer Kinder aufzubewahren.

Der überwiegenden Mehrheit der Mütter ist es nicht gelungen, auch nur einen Gegenstand, der ihren Kindern gehörte, zu bewahren. Sie müssen heute weiter nur mit ihren Erinnerungen leben.

 

Wie ist das Verhältnis der bosnisch-herzegowinischen Politiker zu Überlebenden des Völkermords in Bosnien?

Die Überlebenden des Völkermords, insbesondere die bosniakischen Rückkehrer nach Srebrenica, sind noch immer auf sich selbst gestellt. Sie erhalten keine notwendige Unterstützung von Politikern in Bosnien, die oft auf Kosten der Srebrenica-Überlebenden und der Opfer des Massakers punkten und politische Karriere machen.

Während die Politiker aus der Republik Srpska, zu der leider Srebrenica gehört, täglich den Genozid in Srebrenica leugnen, indem sie behaupten, dass nur eine kleine Zahl von Bosniaken in den Kämpfen von Serben getötet wurde und – trotz der bestehenden Gerichtsurteile – leugnen, dass mindestens 8 372 unserer Söhne, Ehemänner, Brüder und andere männliche Verwandte als Wehrlose gefangengenommen und brutal erschossen wurden, sprechen die Politiker aus der Föderation Bosnien und Herzegowina Srebrenica und das Leid der Opfer nur in der Zeit vor den Wahlen in Bosnien an, um die Stimmen der Wähler zu bekommen. Danach geraten wir und unsere getöteten Liebsten sofort wieder in Vergessenheit. Den bosniakischen Rückkehrern in Srebrenica geht es aber am schlechtesten, denn einerseits stören sie die Politiker in der Republik Srpska, weil sie Srebrenica nicht den Serben überlassen wollen, anderseits sind sie für die Politiker in der Föderation Bosnien-Herzegowina nicht von Interesse, da sie nicht von ihren Wählerstimmen profitieren können.