12.12.2005

Ein tapferes Volk, kein glückliches Volk

Eine Rede für Libchan Basajeva und die Tschetschenen

anlässlich der Verleihung des Menschenrechtspreises der Stadt Weimar
Vor drei Wochen hat der Vizepräsident der Europäischen Kommission, Günter Verheugen, die Ehre Europas in allerletzter Minuten gerettet. Nach so vielen schändlichen Erklärungen und Gesetzen, nach so viel lendenlahmen und feigen Besuchen vor Ort von so viel offiziellen Abgeordneten der Parlamente Europas, die sich immer haben durch Tschetschenien offiziell durchführen lassen – hat Verheugen die Ehre Europas gerettet!

Nach so vielen Besuchen von Spitzenkräften des deutschen BND, der – wie man erfahren durfte – sehr gut mit dem Russischen (Ex-) KGB zusammenarbeitet, war das ein großes Aufatmen, den Vizepräsidenten und zweitwichtigsten Mann Europas in Köln zu hören. "Ich hasse den Begriff Realpolitik", hatte er gesagt, als er eine große Kollegin der heutigen Preisträgerin auszeichnete, Sainap Gaschajewa.

Er fuhr fort:

"Der wichtigste Exportartikel Europas sind nicht die Chips, nicht die Chemie, nicht die Autos, nicht die Pharma-Produkte, der wichtigste Exportartikel Europas ist eine Idee. Die Idee, dass es Frieden nur geben kann, wenn es Menschenrechte gibt." Die EU mache keine Verträge, in denen nicht steht, dass man auf die Menschenrechte und Ihre Einhaltung mandatorisch wert legt".

Und er sagte diesen Satz, für den er möglicherweise von seinen Kommissionsmitgliedern verprügelt worden wäre, wenn er ihn Ihnen vorher vorgelegt hätte:

"Ich hasse den Begriff Realpolitik".

Und er sagte spontan unter dem Eindruck von Bildern der Gaschajewa, die uns alle in Mark und Bein und unvergesslich waren. "Das sind Bilder aus Europa!"

Ich lese in diesen Tagen einen Artikel über uns Deutsche. Es wird uns da gesagt, dass wir -nehmt alles nur in allem - in unserer Generation, die noch hart am Rande der Nazi-Generation vorbeigeschrammt ist, GLÜCK gehabt haben. Einmal mit dem Kriegsende, wir wurden nach kurzer Zeit nicht mehr nur verfemt. Dann hatten wir GLÜCK mit der deutschen Vereinigung.

Viel törichtes Gerede unter uns Deutschen, das die Zustände aus der Zeit der Sklaverei wieder herbeibeten möchte. Ich möchte das nicht, liebe Freunde hier in Weimar. Ich freue mich immer noch, dass ich hier so einfach hinkommen, hinfahren, hinfliegen kann, ohne mich mit einem Tagesvisum bewaffnet, dann einen Hotelgutschein-Voucher holend, hier unter Begleitbeobachtung der Stasi für zwei Tage bewegen kann.

Die Tschetschenen haben nicht so viel Glück gehabt. Sie wurden vertrieben aus ihrem Land unter großen Verlusten, von jenem furchtbaren Schlächter der Völker, Josef Wissarionowitsch Stalin. Am 23. Februar 1944 erging das Dekret von Stalin: Alle Tschetschenen und Inguschen müssen deportiert werden. Jahre zuvor war das schon das Schicksal der Russlanddeutschen, der sog. Wolgadeutschen, der Balkaren, der Karatschaier, der Krimtataren. An diesem 23. Februar 1944 werden die Tschetschenen in Viehwaggons nach Zentralasien transportiert. Nach Schätzungen kommen dabei schon an die 100.000 Tschetschenen um.

Lipchan Basajewa wird im Jahre 1949 nicht in Tschetschenien, sondern in Kasachstan geboren, als Kind schon Opfer einer zaristisch-sowjetisch-russischen Unterdrückungskontinuität.

Zu Unrecht wurden die Tschetschenen beschuldigt, sie hätten sich zu den Deutschen als Kollaborateure verhalten. Die Wehrmacht, die furchtbare, ist ja Gott sei Dank gar nicht mehr bis nach Grozny gekommen. Sie wurden als unsichere Kantonisten einfach nach Kasachstan vertrieben. Im "Archipel Gulag" schreibt Alexander Solschenizyn:

"Es gab indessen eine Nation, die der Psychologie der Unterwerfung standgehalten hatte, als Nation, als Ganzes, nicht nur die Einzelgänger, nicht nur die Rebellen. Das waren die Tschetschenen." Die Tschetschenische Sprache kenne kein Wort für Unabhängigkeit, wohl aber sehr viele Nuancen für das eine Wort Freiheit.

Vorher schon wurde ihr unbändiger Freiheitswille und Selbstbehauptungsdrang bekannt und gelobt, wie wir ihn ja sonst nur von den Polen, den Juden auf der Welt, den Eriträern oder auch von den Armeniern kennen.

Und diesem unbändigen Freiheitswillen stand und steht immer ein russischer Imperialismus entgegen, der diese Kaukasusvölker immer an der kurzen Leine halten und sie in das Prokrustesbett der eigenen staatlichen Existenz oder des Empire von Moskaus Gnaden zwingen will. Das führt dann zu solchen Reaktionen, wie sie Tolstoj in dem größten literarischen Dokument "HADSCHI MURAT" festgehalten hat, bei dem mir immer noch der Atem stockt, wenn ich es vortragen soll:

"Doch von Ihrem Haß gegen (die) Russen sprach keiner. Das Gefühl, das alle diese Tschetschenen vom jüngsten bis zum ältesten, gegen die Russen empfanden, war stärker als der Hass. Es war kein Hass, sondern sie hielten die russischen Hunde einfach nicht für Menschen und empfanden einen solchen Abscheu und Ekel und ein solches verständnisloses Staunen vor der sinnlosen Grausamkeit dieser Kreaturen, dass der Wunsch, sie zu vernichten, wie man Ratten, giftige Spinnen und Wölfe vernichtet, ein ebenso natürliches Gefühl für sie war wie der Selbsterhaltungstrieb."

Ja, so weit kann es unter uns Menschen kommen. Das hat der Leo Tolstoj intuitiv dichterisch und literarisch erahnt. Mein Lehrer Jean Paul Sartre hat mir den Blick geöffnet für die Erkenntnis: Umgangssprachlich sagen wir: Das ist unmenschlich. Aber:

"Alles Unmenschliche ist menschlich!" Auch diese Verachtung von Menschen, die der Hass nicht mehr als solche wahrnimmt, ist – so absurd das zu sein scheint: menschlich. Er ist einfach unter uns Menschen möglich.

Und erst, wenn wir diese Dimension, diese Schicht der turbulenten und wütenden, brüllenden Gefühle erreicht haben, können wir den jeweils anderen auch nur wahrnehmen und verstehen.

Und – ein anderer hat es uns auf seine Art gesagt, den ich beim Lob und der Anerkennung der Tschetschenin Libchan Basajewa vermisse. Ich hätte ihn so gern gefragt, was er uns mit auf dem Weg geben würde. Aber er lebt nicht mehr. Wir können ihn nicht mehr unmittelbar fragen. Es war Lew Kopelew. Kaum war es zum Ausbruch des Krieges gekommen, hatte er sich schon ans Telefon gehängt und hatte persönlich den damaligen deutschen Außenminister Klaus Kinkel angerufen. Er war am 5. Januar 1995 mit einer Delegation von Grünen Abgeordneten auf dem Wege nach Bad Godesberg, wo er vor einem Asthma-Anfall sich fast nicht mehr erholte, dennoch aber die Demonstration mitmachte. Das war noch eine Zeit, als die Grünen-Abgeordneten noch demonstrierten.

Es war überhaupt meine erste Begegnung, meine erste lesende Begegnung mit Tschetschenen. In "Aufbewahren für alle Zeit" hatte Kopelew das Porträt im Lager von einigen gezeichnet:

"Abseits hielten sich drei Tschetschenen. Der Älteste, Achmet, ähnelte dem Zaren Nikolai II, nur Teint und Haarfarbe waren dunkler. Er war schweigsam und beherrscht, sprach selbst mit seinen Landsleuten selten und wirkte hochmütig. Der zweite war lang, bleich, schmalgesichtig, hatte schwarze Borsten bis zu den Augen…

Die Tschetschenen beteten mehrmals am Tag, wobei sie leise murmelten und auf die Ostwand sahen. In der Zelle beteten auch andere. Ich kann mich nicht erinnern, dass jemand darüber Witze gerissen oder irgendetwas vom ‚Opium fürs Volk’ gesagt hätte. Die Glaubensfreiheit war im Gefängnis unantastbar". (S. 428f. Aufbewahren für alle Zeit, Steidl Göttingen 1996)

Halten wir heute mit unserer Preisträgerin Basajewa fest: Nur wer für die Tschetschenen schreit, darf mit Putin Erdgaspipelines durch die Ostsee oder besser durch Litauen und Polen bauen und Erdölgeschäfte machen.

Es ist ja mit den Tschetschenen so wie mit den Palästinensern. Wir geben ihnen keinen Raum, keine eigene Entwicklung, sie dürfen sich nicht ausprobieren, dann plötzlich werden sie irgendwo irgendwie auf die Bühne der Weltpolitik katapultiert. Dann erkennen sie ihre Chancen, aber sie machen es so schlecht, so miserabel, mit einem so falschen schlechten Vertreter wie die Tschetschenen mit Dudayew und wie die Palästinenser mit dem Arafat. Und auch danach der erste freigewählte Präsident Maschadow hat es nicht gut gemacht. Die Einführung strenger Scharia-Gesetze war sicher ein grosser Fehler. Aber dennoch, wie sollen sie es auch machen. Nie haben sie irgendetwas davon im eigenen Lande gelernt.

Heinrich Böll ist am 17. Juli 1985 von uns gegangen. Nie habe ich mit ihm über die Tschetschenen sprechen können, die kamen erst 1994 in mein Blickfeld. Aber ich weiß, dass er uns heute zuhört. Die Menschen in diesem kleinen Land wollen ihre eigene Entwicklung haben mit ihrer eigenen Sprache. Und Böll war immer der ganz großzügige Mensch: Warum sollten sie so eine eigenen Entwicklung nicht bekommen? Zumal bei einer so vernünftigen Preisträgerin, die in einem Interview mit tagesschau.online sagte:

"Selbst wenn Tschetschenien morgen unabhängig würde, wäre es kein ruhiger friedlicher Ort. Wir müssen das Land noch sehr lange unter den Schutz internationaler Organisationen stellen, weil nur dadurch die Gewalt vermindert werden könnte. Dann erst könnte ein neuer Staat aufgebaut werden!" Und – sie fügt hinzu: "Der Terror wird weitergehen, solange die Russische Führung nicht bereit ist, den Krieg zu beenden."

Libchan Basajewa ist 55 Jahre jung. Sie lebt in Grozny – wenn Sie nicht in Hamburg lebt oder wie heute sich in Weimar aufhält. Sie hat den Krieg seit 1994 mitgemacht. Sie ist der lebende, schmerzende Stachel in der Haut unserer Vorurteilsschablonen. Für uns, die wir durch Putin und Schröder beeinflusst sind, sind die Tschetschenen alle Terroristen. Wie auch für viele gilt, dass alle Palästinenser waffenstarrende Terroristen und Selbstmörder sind, die mit dem imaginären oder wirklichen Messer zwischen den Zähnen herumlaufend, "quaerens quem devoret", wie es im kirchlichen Abendgebet vom Teufel, also dem Bösen heisst: "Suchend, wen er da verschlinge".

Sie hat neben der Lebensleistung, vier Kinder zu haben, Großmutter von 12 Enkelkindern zu sein, für eine Familie zu sorgen, für ihr Volk einzustehen, auch noch etwas getan, was für ein ganzes Leben als Auszeichnung und Leistung schon ausreicht: Sie hat gegen Russland vor dem Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg geklagt. Sie war eine von sechs Klägern, die ihr "Recht auf Leben und Unversehrtheit, das Recht auf Unverletzlichkeit des persönlichen Besitzes und auf Rechtshilfe" einklagten, nachdem ein russisches Gericht den Beschuß einer Flüchtlingskolonne im Jahr 1999 für Recht erklärt hatte.

Die Anklage beim Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg Nr. 57949/00 bezieht sich auf die Ereignisse am 29. Oktober 1999 in Grozny. Nach einem Aufruf durch den russischen Rundfunk waren damals Tausende, darunter auch Libchan Basajewa über einen angebotenen "Humanitären Korridor" aus Grozny geflohen. Dann aber wurde diese kilometerlange Wagenkolonne von der russischen Luftwaffe angegriffen. Es gab ungezählte Tote (25 Tote) und 70 Verwundete. Die Augenzeugin Libchan Basajewa klagte gemeinsam mit der ebenfalls betroffenen Frau Isajewa vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Am 25. Februar 2005 erging das Urteil – sechs Jahre später: Der Gerichtshof hat Russland wegen schwerwiegender Verletzung der Menschenrechte in Tschetschenien zu einer Geldstrafe in Höhe von 136.000 Euro verurteilt.

Libchan Basajewa kann nicht so einfach nach Tschetschenien zurück. Der Geheimdienst des "lupenreinen" vorzüglichen Demokraten Putin ist ständig auf der Suche nach ihr und könnte sie ganz einfach umkommen lassen. Zweimal verließ sie ihr Haus in Grozny zufällig – ein paar Minuten, bevor maskierte und Bewaffnete bei ihr einbrachen und sie vergeblich suchten. Deshalb auch heute Dank der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte und dem Hamburger Regierenden Bürgermeister Ole von Beust sowie dem ex-OB von Hamburg, Klaus von Dohnanyi und Martina Bäurle, die ihre schützende Hand über die Basajewa legen und halten.

Es gibt trotz des Erfolges und gegen den Erfolg in Straßburg keinerlei Anlaß und Grund zum Jubeln. Denn wird Russland seine Politik ändern? Wird Putin auch nur ein Millimeter von der bisherigen Politik abweichen?

Das Gericht hat deutlich gemacht, dass auch im Kampf gegen den Terrorismus nicht alle Mittel erlaubt sind. In einer demokratischen Gesellschaft habe der Schutz der Zivilbevölkerung eine vorrangige Bedeutung. Das Gericht hat Russland auch wegen der mangelnden Untersuchung der Vorfälle kritisiert und bekräftigte den Grundsatz: Die in Tschetschenien weitverbreitete Straflosigkeit für Menschenrechtsverletzungen ist innerhalb Europas nicht zu tolerieren.

Sie hat eine Art, die so milde und pazifisch, um nicht zu sagen pazifistisch ist. Aber gleichzeitig gehört sie zu den Frauen, von denen ich erwarte, dass sie in unserer Zeit das Schicksal ihres Volkes umdrehen können.

Das Ungeheure, das wir nicht ausloten können, kommt uns gleich auf mehreren Füßen entgegen: Jeder achte Tschetschene fand in einem der beiden Kriege den Tod. Das würde auf ein Land, wie die Bundesrepublik übertragen: mindestens 9.5 Millionen Tote bedeuten. Und dabei hört das Elend damit ja nicht auf: Eine große Zahl dieser Menschen des ein-Millionen Volkes wurde auch noch vertrieben. Wenige, ganz wenige haben Glück. Sie kommen hier unter, auf Zeit wie jene Libchan Basajewa, andere auf Dauer. Aber wie ausgehöhlt unser Asylrecht sich uns wie eine Hure darbietet: Diese Menschen haben es nicht leicht, bei uns Asyl zu finden. Haben wir doch in unserer abgebrühten Cleverness das Institut der "inländischen Fluchtalternative" erfunden. Wunderbar. Wenn es eine Tschetschenin oder ein Tschetschene zu uns geschafft haben sollte, wissen Sie, was unser Innenminister, entweder der des Bundes oder der des Landes denen sagt: Inländische Fluchtalternative?! Du Tschetschene kannst doch unerkannt und ohne Probleme in Workuta, Archangelsk oder Murmansk leben, Du musst ja nicht unbedingt im Kaukasus leben.

Vor einem Monat, am 17. November wurde wieder ein Tschetschene, Jussuf Aliev, abgeschoben nach Moskau. Von ihm fehlt bis heute (10.12.) jede Spur. Ich habe über zwei Abgeordnete des Bundestages erreicht, dass dieser Fall jetzt dem Petitionsausschuss des Bundestages vorliegt.

Ich frage:

Wer, wenn nicht die TSCHETSCHENEN müssen bei uns Asyl genießen?

Wenn das nicht mehr gilt, können wir den Asylartikel 16 des Grundgesetzes gleich ersatzlos streichen.

Dann ist er nur noch tönernes Erz und Klingende Schelle, wie das Evangelium das sagt.

Nie dürfen wir uns und schon gar nicht bei einer solchen Stunde, in der wir ausnahmsweise mal die Wahrheit sagen sollen, uns mit Statistiken begnügen. So wie Verheugen gesagt hat: "Ich hasse Realpolitik", so würde ich dem hinzufügen: "Ich hasse Statistiken und Schätzwerte". Wenn uns gesagt wird, die Tschetschenen haben in den letzten zehn Jahren 180.000 Menschen verloren, dann ist das alles so dünn und ausgedörrt, bar jeder Emotion. Wir müssen uns klar machen, dass da auf dem Minutkaplatz in Grozny eine Granate hineingeschossen wird und die Sainap bekommt den Bauch aufgerissen und blutet wie ein Schwein und die Gedärme kommen ihr alle heraus. Der Chirurg kann unter Aufbietung der allergrößten Energie und mit einer behelfsmäßigen Anästhesie noch diesen einen großen Granatsplitter aus dem Bauch herausholen und dann die Gedärme wieder in den Bauch zurückzwingen. Dann fängt er mit schlechtem Nahtmaterial an zu nähen, in dem Moment stirbt die Frau.

Nur wenn uns das Dreckige, Blutige, das Brüllen der Menschen, die ohne Narkose operiert werden müssen im Ohr klingt, dürfen wir so eine Schätzung uns anhören. Sonst sollten wir sie besser gar nicht erwähnen.

Ich erinnere mich noch, die vielen Male, da ich das Land noch erreichen konnte; seit Januar 2003 wird mir von der russischen Seite das Visum verweigert. Die Schikanen der Behörden waren damals schon eindeutig. Visa bekommt man entweder gar nicht oder nur so knapp, dass man nicht weiterkommt.

Ich traf diese Menschen, die man in enge Schweine und Kuhställe bei Nassran oder Karabulak eingesperrt hatte, die dort in ganz engen Quartieren zu überleben versuchten. Nie werde ich den Mann vergessen, der mich anbrüllte, weil ich den Ort wieder besuchte, seinen Schweinestall einer ehemaligen Kolchose. Hier, er zeigte es mir so, dass ich nicht weggucken konnte, er zeigte auf eine Heizung. "Für die Schweine damals hatte man hier eine Heizung, für uns Menschen, für uns Tschetschenen hat man die Heizung kaltgestellt!" Man kam in ganz wenige Räume, in denen bei irrwitzigem Frost es ein wenig Feuer gab, aber die Luft in diesen Räumen war zumal für die Kinder schneidend, man konnte dort nicht leben.

Non Licet Vos esse, das ist der alte römische Spruch geworden, den Russland auf diese Tschetschenen anwendet. Es ist Euch nicht erlaubt zu existieren. Ihr sollt besser nicht existieren.

Es ist eindeutig ein kolonialer Kampf, der eigentlich in das letzte Jahrhundert gehört. Wieder werden Generäle und ganze Armeen nicht mit wenigen Menschen fertig. Damals nicht zu der Zeit des Imam Schamihl, einer der großen Führer des nordkaukasischen Widerstandes. Damals wurden von der zaristischen Armee 130.000 Soldaten aufgeboten, die gegen 89.000 Tschetschenen eingriffen und verloren. Aus den qualmenden Trümmern hat sich immer wieder neuer Widerstand gebildet und formiert. Selbst wenn Wladimir Putin heute die Zahl seiner Truppen in Tschetschenien vervielfachen würde, dann würde er immer mit den Abreks, den edlen Räubern, zu tun bekommen. Sie werden sich auch weiterhin in ihre Gebirgswälder zurückziehen und von dort aus Widerstand leisten.

Das Kapitel des Kampfes russischer Politik um Tschetschenien kann man nur mit dem Titel der berühmten Aufsatzsammlung von Karl Kraus überschreiben: Sittlichkeit und Kriminalität. Das Schlimme: der damalige deutsche Bundeskanzler zeigte sich beeindruckt und stellte dem Freund Wladimir Putin ein hohes einzigartiges Zeugnis aus, das ihn für die norwegischen Nobelpreissucher in Frage kommen läßt. Der ehemalige Bürgermeister von Grozny, Bislan Gantamirow wird aus dem Gefängnis entlassen, weil man niemanden hatte, der die pro-russischen Milizen leitet. Im Jahre 2000 gehen die russischen Kräfte in einer schändlichen Weise vor, die keinen Raum mehr lässt für etwas anderes denn die Ächtung der russischen Regierung. Massaker an der Zivilbevölkerung und Filtrationslager sind an der Tagesordnung. Immer wieder schickt der Europarat und das Europaparlament ihre Vertreter vor Ort, die aber nichts, aber auch gar nichts bewirken. Im Juni 2000 ernennt Putin den Mufti von Tschetschenien Achmed Kadyrow zum Chef der pro-russischen Übergangsverwaltung. Ein Verräter, und ein Quisling. Maschadow bleibt im Untergrund, der de Gaulle Tschetscheniens wird links liegen gelassen und dann irgendwann erledigt. Am 16. Januar 2003 erklärt der europäische Gerichtshof für Menschenrechte sechs Strafanzeigen gegen Russland wegen Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention für zulässig. Bei ihrer Sitzung im April 2003 verlangt die Versammlung des Europarates die Gründung eines internationalen Strafgerichtshofes für Tschetschenien. Am 5. Oktober wird Kadyrow durch eine Scheinwahl offizieller Präsident Tschetscheniens. Am 9. Mai 2004 wird der Präsident durch ein Sprengstoffattentat im Dynamo Stadion in Grozny umgebracht.

Die Spirale von Tod und Vergeltung geht andauernd weiter.

Das Evangelium hat dieses wunderbare Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Aber das Bild im Gleichnis gilt für vergleichsweise normale Situationen.

"Es ging ein Mann von Jerusalem nach Jericho (oder: von Grozny nach Samaschki) hinab und fiel unter die Räuber. Sie zogen ihn aus, schlugen ihn wund, ließen ihn halbtot liegen und gingen davon"…

Tschetschenien ist von uns halbtot liegen gelassen, wer kümmert sich schon um Tschetschenien. Die G8 Gipfel sind wichtig, dabei spielt Wladimir Putin, der hier in dieser Gegend mal das Spionage Handwerk gelernt hat – eine vornehme Weltpolitik-tragende Rolle.

Zufällig zog ja ein Priester, zufällig auch ein Levit des Weges. Dann zog zufällig eine Kolonne der UNO in Grozny unter Militär- und Panzerschutz ein. Aber sie hielten sich alle nicht für "zuständig". Da kamen auch als Vertreter des Europaparlamentes die Abgeordneten des Bundestages wie jener Rudolf Bindig von der SPD oder jener Herr Lord Jurt von der OSZE, die können aber nachträglich nur Papiere schreiben. Eine Suppe können sie den Tschetschenen nicht geben.

Heiner Geissler hat mir und uns gesagt:

"Aktive Nothilfe als ultima ratio widerspricht nicht dem Evangelium. Wäre der Samariter eine halbe Stunde früher aufgetaucht und Tatzeuge des Raubüberfalls geworden, wäre er mit Sicherheit nicht weiter gegangen, sondern hätte dem Überfallenen geholfen, notfalls mit der Waffe in der Hand" (Zitiert nach Vorwort zu "Immer radikal", Münster 2005 S. 2).

Tapferkeit ist das Signet und die Tugend der Tschetschenen.

Das ist nicht die Tapferkeit eines Schamil Bassajew, der da aus der Tiefe des Raumes kommt und einen Terrorüberfall nach dem anderen organisiert. Er wirkt mittlerweile wie ein Fossil aus einer anderen Zeit, verbreitet Furcht und Schrecken, wie das die Terrorismus Führer-ja alle tun.

Warum er sich so lange halten kann? Diese Frage stellt sich ja niemand ernsthaft – außer unserer Preisträgerin Libchan Basajewa! Alle Emphase und Aufmerksamkeit wird in die brutale waffenstarrende Bekämpfung des Terrors gelegt. Tapferkeit meint auch nicht die der einfachen russischen Soldaten, die da in die Wüste des Kaukasus hineinverlegt werden und dann dahin kommen, dass sie Menschen morden müssen. Das ist das Wort, das mir jüngst jemand sagte, der wahrscheinlich sein Leben sich dadurch zerstört hat: Menschen morden.

Es wäre die Tapferkeit der Frauen und Kinder, die dem Leben in der Enge des kleinen Landes einfach eine Lebensqualität abgewinnen, die wir uns nicht mehr vorstellen können. Man stelle sich vor, der Putin beginnt morgen seine Kämpfer dort herauszuholen. Die ganze Landschaft wird internationalisiert. Und, um den Tagtraum weiterzuführen: Die Wahabiten werden erst mal aus dem Land gezwungen, es kommt eine internationale Truppe, die sich aus verschiedenen Nationen zusammensetzt. Es hatte ja schon geklappt mit dem ersten Abkommen, das der berühmte General Lebed mit dem General Maschadow aushandelte. Beide waren sich bewusst, dass sie schnell zu einem Ergebnis kommen mussten. Dann aber hätte das Land eine ganze Menge an neuen Aufbauspritzen bekommen müssen.

Was ist denn Glück für die Tschetschenen?

Wolfgang Günter Lerch hatte die Vorstellung: als Putin am 26. März 2000 die Präsidentschaftswahlen gewann, vor dem Kommunisten Gennadij Sjuganow, da hatten manche politischen Beobachter darauf spekuliert: Er werde nach diesem großen Triumph den Tschetschenen ein Angebot machen, jedenfalls den militärischen Druck abschwächen, da der Krieg nicht zuletzt um den Sieg im Wahlkampf geführt worden ist. Überdies galt Putin damals als Realist. Als ehemaliger Mann des Sicherheitsdienstes ist er mit all jenen Methoden vertraut, mit denen man auch eine Bevölkerung ohne Krieg niederhalten kann. Doch er hat nach den Monaten nach seiner Amtsübernahme keine Hoffnung aufkommen lassen.

Grausam sind die Bedingungen, unter denen dieses Volk zu überleben hat. Ich stelle hier fest, es gab bisher nur einen Genozid, der sich so schleichend ergeben hat wie der in Tschetschenien. Nun hat ja das Europaparlament Ende Februar 2004 die Deportation des gesamten tschetschenischen Volkes durch das Dekret von Stalin am 23. Februar 1944 zu einem Akt des Völkermordes erklärt.

Wir haben diese Rede mit einer Reflexion von Glück eingeleitet. Die Tschetschenen haben kein Glück gehabt. Glück ist aber auch ein Menschenrecht. The pursuit of happiness ist eines der elementarsten Menschenrechte, auf das wir Westler, wir Europäer und Amerikaner schon gar nicht verzichten würden. Glück ist keiner der Namen des tschetschenischen Volkes. Es wäre mir schon wohl ums Herz, wenn ich Libchan Basajewa und die vielen tapferen wunderbaren Mitstreiter aus diesem Volk uns erhalten bleiben. Wenn sie das Tal der Tränen über-leben und über-stehen, das ihnen ja seit dem Beginn der Bolschewistischen Revolution, der Regierungszeit Stalins, der Deportation, der Nach-Stalin Zeit, der Zeit von Gorbatschew und von Jelzin nie mehr verlassen haben.

In der Situation wäre es mir schon wichtig und dringlich, wenn sich Allah oder Gott dieses Volkes annähme, so wie es einer der größten und Leid-erfahrenen Schriftsteller und Propheten dieses Europa – Franz Kafka - in einer Erzählung uns überliefert hat:

"Ein erstes Zeichen beginnender Erkenntnis ist der Wunsch zu sterben. Dieses Leben scheint unerträglich, ein anderes unerreichbar. Man schämt sich nicht mehr, sterben zu wollen;

man bittet aus der Zelle, die man hasst"…

nicht wahr, das ist der Zustand des geknebelten Landes, das die Libchan Basajewa immer wieder kennengelernt hat, an dessen Mauern und Gittestäbe sie immer wieder gerüttelt hat -

"…Man bittet aus der alten Zelle, die man hasst, in eine neue gebracht zu werden, die man erst hassen lernen wird. Ein Rest von Glauben wirkt dabei mit, während des Transportes werde zufällig der Herr durch den Gang kommen, den Gefangenen" – also Sie, Libchan Basajewa –

ansehen und sagen:

"Diesen da, dieses Volk da, sollt ihr nicht wieder einsperren. Sie kommen zu mir."

(Franz Kafka; Er, Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den waren Weg. Frankfurt 1991 S. 195)

Konkret für heute:

Ich VERLANGE von der neuen Bundesregierung eine neue Politik, auch für die Tschetschenen.

Ich VERLANGE , dass mein Innenminister Wolfgang Schäuble keine Tschetschenen mehr abschieben lässt, wie gerade noch jüngst geschehen. Es muss ein Kontingent für die Tschetschenen aufgemacht werden.

Ich VERLANGE von der neuen Regierung unter Angela Merkel, dass die Priorität der Menschenrechtsforderung wieder in Kraft gesetzt wird. Sie war nämlich jahrelang außer Kraft.

Die russische Regierung ist in einer verzweifelten Lage und hat es nicht leicht. Sie hat eine ähnliche Mörderbande von ca. 7.000 Mann aufgebaut, die unter Führung von Ramsan Kadyrow genau so herummorden und entführen, vergewaltigen und terrorisieren wie die von der Sudan-Regierung bezahlten und bestellten Janjaweed Milizen im West Sudan.

Ich VERLANGE, dass meine Bundesregierung der Moskauer Regierung ein Angebot macht. Eine CMM muss gebildet werden, eine "Chechnya Monitoring Mission" aus den Ländern der EU. Putin läßt seinen Mörder-Playboy fallen, er weiß ja was für ein Mordbube das ist. Die Kaderowci werden aufgelöst, diejenigen, die sich bisher nichts zuschulden haben kommen lassen, werden in eine neue Polizeieinheit aufgenommen.

Ein Wiederaufbau plan der EU muss her, der vorsieht: die Europäer, auch NGOs bauen das Land wieder auf. Für die Sicherheit gibt es in den nächsten zehn Jahren nur eine Lösung: die Internationalisierung bei Statusvergewisserung – substantielle Autonomie, nicht Unabhängigkeit. Ich verspreche das Engagement der Grünhelme, wenn es mal zu einigermaßen erträglichen Arbeitsbedingungen kommt, für die Mut gefordert ist, aber nicht Tollkühnheit.

Und, nehmen wir noch die schöne aufmunternde Geschichte. Nichts ist ja unmöglich. Die Menschheit hat schon grosse Schlachten geschlagen und hat nicht nur Niederlagen erlebt.

Sie hat die Sklaverei erledigt. Besiegt, Zunichte gemacht. Das war der Sieg von wenigen heißblütigen und unerschrockenen Christen unter Anführung des William Wilberforce.

Als am 25. März 1805 um 12 Uhr die Glocken in London läuteten, der britische König und Herr des Empire, in dem die Sonne nicht unterging, das Gesetz zur Abolition of Slavery unterschrieb. Da saß William Wilberforce mit Henry Thornton, seinem Neffen und fragte:

"Henry, what shall we abolish next?”

Ich weiss es: Wir sollen in den nächsten Wochen und Monaten ein Volk, das Volk der Tschetschenen aus der Sklaverei befreien. We should abolish the status of state cruelty and slavery in Chechnya.

Herzlichen Glückwunsch, Libchan Basajewa!