22.04.2005

Ein Tag in Tschetschenien

Grosny im Oktober 2003. Die Hauptstraßen werden ausgebessert; Kolonnen von Frauen mit Reisigbesen säubern die Straßen; langsam und bedächtig fahren Spezialpanzer zum Minenaufspüren und -vernichten auf dem Mittelstreifen; an den Straßenrändern suchen russische Soldaten mit Minensonden vorsichtig Schritt für Schritt – die Blicke angestrengt auf den Erdboden gerichtet – nach ihren eigenen Minen, die sie Monate oder Jahre vorher gegen die Zivilbevölkerung ausgelegt hatten. Oder sie spüren die Minen auf, die für sie selbst gedacht sind, versteckt von den tschetschenischen Rebellen. Die Hauptverkehrsstraße soll minenfrei sein an diesem Tag. 2002 gab es in Tschetschenien 5.695 Minenopfer. Heute darf keine Mine explodieren.

Es ist Sonntag, der 19. Oktober 2003, kein gewöhnlicher Tag: heute wird der Präsident von Tschetschenien Achmad Kadyrow feierlich in sein Amt eingeführt. Man erwartet viele wichtige Gäste aus Moskau und aus den umliegenden Republiken. Die "Stube" muss glänzen, die Sicherheit für die Staatsgäste muss garantiert sein. Alle 30 Meter steht ein Soldat. Im Hintergrund einsatzbereit Militärfahrzeuge, vom Jeep bis zum Panzer. Die linke Spur der Straße, die Fahrbahn, die in die Stadt hineinführt, ist gesperrt für die Wagenkolonnen der wichtigen Männer.

Die Ruinenstadt Grosny ist gespenstisch ruhig. Die Straßen sind wie leergefegt; hier und da suchen streunende Hunde nach Essbarem. Die Bewohner von Grosny haben sich in ihre Ruinen zurückgezogen; oder sie fahren – wie auch wir – aus der Stadt hinaus. Es könnte heute gefährlich werden; keiner weiß, ob, wann und wo Anschläge geplant sind. Meine Freunde und ich wollen nach Urus Martan. An den Straßensperren, den "block-posts", sieht alles sauberer aus als sonst. Die russischen Soldaten sind heute nicht vermummt; doch wie immer kontrollieren sie uns mit den Kalaschnikow im Anschlag, zügiger als sonst und ohne Schikanen. Nur Rustam, unser Fahrer, muss aussteigen. Er kennt die Soldaten schon recht gut, denn fast täglich passiert er diesen Kontrollposten. Er weiß, was er zu tun hat: unaufgefordert zeigt er seine Papiere, öffnet er den Kofferraum; er tauscht einige freundliche Worte mit den Russen aus und fährt dann mit uns langsam durch die Straßensperren hindurch. Bis wir nach ungefähr drei Stunden Urus Martan erreichen, müssen wir diese Prozedur noch an fünf weiteren "block-posts" durchstehen.

In Urus Martan lebt eine Familie, die mich schon seit langem erwartet. Beim letzten Mal, im März 2003, gab es keine Möglichkeit, dorthin zu gelangen. Heute lernen wir uns kennen: die Mutter Zarema, die älteste Tochter Madina und deren sechsjähriger Sohn Musa. Die jüngere Tochter Chanifa hatte ich im Mai 2001 in Nazran (Inguschetien) im Büro der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial kennen gelernt. Chanifa hatte ein Bündel Papier in der Hand und wartete geduldig, bis Memorial Zeit für ein Gespräch hatte; sie erzählte:

Ich bin hier, um zu melden, dass mein Vater ermordet und zwei meiner vier Brüder bei einer "Säuberungsaktion" verschwunden sind. Ich habe hier alles genau aufgeschrieben und bitte Sie, uns zu helfen, damit wir erfahren, wo wir den Mord zur Anklage bringen können und wo meine Brüder sind, warum sie verschleppt wurden und warum uns das alles angetan wurde. Meine Mutter ist seitdem schwer krank, sie findet keine Ruhe. Es war der 19. April 2001. Gegen zehn Uhr abends hielten drei Militärjeeps vor unserem Haus. Maskierte Soldaten sprangen aus den Autos und rannten in unser Haus. Meine Schwester, meine Mutter und ich wurden von dem Lärm wach und verstanden sofort, dass wir versteckt bleiben sollten. Meine Mutter wollte unbedingt in die Küche; wir konnten sie davon nicht abhalten.

Die Soldaten fragten nach Wodka und Geld. Mein Vater sagte, dass er keinen Alkohol hat und auch kein Geld. Meine Mutter bot ihnen Essen an oder zwei Hühner aus dem Stall. Die Soldaten waren schon betrunken und sie lachten meine Mutter aus, dann gingen sie durch unsere Zimmer und rissen die Schränke auf, warfen die Tische und Stühle um, schossen die Lampen kaputt und gebrauchten unser Wohnzimmer als Toilette. Meine Schwester Madina und ich krochen unter unsere Decken. Mein kleiner Neffe Musa weinte laut. Meine Brüder und mein Vater stellten sich vor unsere Betten, um uns zu beschützen. Meine Mutter jammerte und bot den Soldaten alles an, was ihr einfiel, damit sie uns in Ruhe ließen. Sie wollten uns Mädchen haben, sagten sie und lachten schmutzig. "Nur über meine Leiche", sagte mein Vater. "Das kannst du gleich haben," antwortete ein Soldat und erschoss ihn. Meine Mutter fiel in Ohnmacht und stürzte auf den sterbenden Körper meines Vaters. Mein Bruder Said-Amin schrie die Soldaten an, sie hätten genug Unheil angerichtet, sie sollten jetzt endlich gehen und uns Mädchen in Ruhe lassen.

Daraufhin schlug ihn einer der Soldaten mit der Kalaschnikow auf den Kopf, so dass er stark blutete. Said-Amin hörte aber nicht auf, uns zu verteidigen. Er habe kein Recht, sie zu beleidigen, schrie ein Soldat und stieß ihm sein Gewehr in die Rippen. Mein anderer Bruder, Ruslan, kümmerte sich um meine Mutter und wollte sie gerade auf eines der beiden Betten legen, als ein anderer Soldat ihm einen so heftigen Fußtritt gab, dass er mit meiner Mutter im Arm gegen die Wand stieß und zu Boden fiel. Dann kam ein weiterer Soldat in unser Zimmer; so waren nun fünf Soldaten in unserem Schlafzimmer; der neu hinzugekommene ordnete an, Schluss zu machen. "Die Männer nehmen wir mit. Besorgt Euch Geld, dann könnt Ihr sie ja wieder austauschen", sagte ein Soldat und warf die Bettdecken von unseren Körpern. Dann drehte er sich um, stieß dabei an meinen Vater und entdeckte, dass er noch nicht tot war. So schoss er noch dreimal fluchend auf ihn. Said-Amin blutete stark am Kopf. Ein Soldat riss ein Kissen aus unserem Bett, drückte Said-Amins Kopf in das Kissen und schleppte ihn aus unserem Haus. Ruslan durfte noch meinen toten Vater in unseren Hof tragen, wo er ihn auf eine Holzkiste legte. Dann mussten meine Brüder – in zwei verschiedenen Jeeps – einsteigen und mit den Mördern und Kidnappern fortfahren – wohin, wissen wir nicht. Meine Schwester und ich kümmerten uns um unsere Mutter, die in dieser Nacht ihren Verstand verlor.

"Wenn du das nächste Mal wieder hier bist, besuch uns in Urus-Martan", sagte damals Chanifa. Jetzt bin ich ihr Gast, bin in diesem Haus, in dem der Mord und die Gewalttaten verübt wurden. Zarema, die Mutter, sitzt in einem alten Sessel. Sie sieht uralt aus, obwohl sie erst erst 48 ist. Von der russischen Administration haben sie bisher nichts in Erfahrung bringen können, sie haben keine Spuren von den verschleppten Brüdern, sie wissen auch nicht, welche Soldaten den überfall verübt haben. Wir können nicht sehr lange bleiben, denn vor Eintritt der Dunkelheit müssen wir wieder in Grosny sein: Ausgangssperre.

Die Rückfahrt nach Grosny im Regen, die Wartezeiten an den "block-posts", das martialische Verhalten der Soldaten, die finsteren Kontrollblicke ins Innere unseres Autos: da sitzt nur eine alte Frau, eine "Waynaschka": ich fühle mich angesichts dieser Wirklichkeit hilflos, voller Wut und Trauer.

Barbara Gladysch, Vorsitzende der Mütter für den Frieden Düsseldorf