19.08.2014

Ein Leben unterwegs – Mit den Herden der Bakthiari-Nomaden durch das Zagrosgebirge im Iran

Eine Reisereportage von Benjamin Raßbach

Mit großen Schritten geht Mehdi auf die dunkle Bergkette zu, die sich vor uns auftürmt. Er treibt die Esel mit Steinwürfen an und dreht sich kein einziges Mal um. Seine Mutter sieht uns noch einen Augenblick nach, hebt kurz die Hand und macht sich dann sofort wieder an die Arbeit. „Sag Bismillah“, murmelt er mir zu, „das heißt `im Namen Gottes`“.

Der Tross setzt sich unter ohrenbetäubendem Geschrei in Bewegung und lässt die Lagerplätze, an denen noch bis gestern die schwarzen Ziegenhaarzelte standen, hinter sich. Ein paar Esel, zweihundert Schafe und Ziegen und eine Handvoll Menschen. Vor ihnen liegen zwei schneebedeckte Pässe in viertausend Metern Höhe, dahinter der lange Abstieg in die Halbwüste Khuzestans. Alles in allem rechnet man mit sechs bis zehn Tagen Wanderung zuerst in großer Kälte, dann in großer Hitze. Wenig Schlaf, dafür viele Wölfe und jede Menge Viehdiebe.

Das Gefühl der Verlorenheit und Einsamkeit, das einen in einer derart überdimensionierten Landschaft leicht überfallen kann, verschwindet, als wir die erste kleine Anhöhe erreichen. Sowohl über uns als auch in der Ebene sehen wir von hier aus Menschen und Tiere, die den Gipfeln des Kuhrang entgegenziehen. Die Landschaft gerät in Bewegung – am Horizont verdecken wabernde Herden lange Abschnitte der Straße, die zu uns herführt, in den Felsen kämpfen sich überall kleine Gruppen von Tieren bergauf. Zwei weitere Eselskarawanen balancieren auf einem Kamm oberhalb unseres Weges. Die Frauen tragen funkelnde Festtagsgewänder in allen Farben, an denen überall Schmuckimitation baumelt und in der Sonne zu uns herunterblinkt. Ihre schrillen Rufe kreuzen sich und zerschneiden die Luft an den trockenen Felsen.

Es ist die Herbstmigration der iranischen Bakthiari-Nomaden, die aus den Hochebenen des Zagros-Gebirges in die Winterlager der westlich gelegenen Ebenen führt. Seit Jahrhunderten ist diese Reise bis in alle Einzelheiten strukturiert; wer den zeitlichen Ablauf oder die Strecke ändert, riskiert Konflikte mit anderen Gruppen, vernichtenden Futtermangel oder den Absturz der schwer beladenen Esel.

In den vergangenen Nächten kamen die ersten Fröste und ließen Mehdi und seinen älteren Cousin Asghar spüren, dass es höchste Zeit wird, in den warmen Winter des Flachlandes aufzubrechen. Doch die Entscheidung liegt bei den alten Männern, den Vorstehern der Familienverbände, die sich untereinander abstimmen und den genauen Zeitpunkt der Abreise für jede Kernfamilie festlegen. Asghar, der während der Wintermonate Landwirtschaftsstudent ist, wurde von seinem Vater dazu ausersehen, zusammen mit seinem Onkel und vier jungen Verwandten die Herden über die Berge zu bringen. Er treibt die Esel mit Stockhieben vor uns her. Schon am frühen Nachmittag haben wir die Gletscher an den östlichen Hängen überwunden und erreichen den ersten Sattel des Kuhrang, des „Berges der Farben“.

Die Bakthiari sind eine von drei großen Nomadengruppen im zentraliranischen Zagrosgebirge, die alle in etwa dieselbe Lebensweise teilen. Ihnen ist auch gemeinsam, dass sie ihre lokalen Sprachen weitgehend beibehalten haben und das Persische oft nur als Zweitsprache beherrschen. Es ist nicht klar, wann genau sie in die Region einwanderten und ihre heutige, an die Landschaft angepasste Lebensweise entwickelt haben – teils gehen die heutigen iranischen Nomaden auf altpersische Hirtenverbände zurück, teils sind sie im Gefolge einer der Invasionen zentralasiatischer Turkvölker gekommen. Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass noch immer ungefähr eine Million Menschen im Iran innerhalb nomadischer Strukturen leben. Ihre Zahl ist hier, wie auch überall sonst auf der Welt, stark zurückgegangen, weil das sesshafte Leben allerorts gesichertere Lebensumstände verspricht und die nomadische Lebensweise immer schwerer mit den Kontrollbedürfnissen moderner Staaten zu vereinbaren ist. Aus diesem und vielen anderen Gründen spielen die iranischen Nomaden gesamtgesellschaftlich gesehen nur noch eine Rolle als Fleischproduzenten und Touristenattraktion.

Dies steht in krassem Gegensatz zu dem politischen Gewicht, das die Bakhtiari und andere Nomadengruppen bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein darstellten. Noch während der Konstitutionellen Revolution von 1907-1911 waren sie die entscheidende (auch militärische) Kraft, die bewirkte, dass Mohammad Ali Shah Qajar abdanken und fliehen musste. Doch schon zwanzig Jahre später begann der Staat, die Macht der Bakhtiari hart zu bekämpfen, indem er ihre Khans - also ihre Föderationsführer – hinrichtete. Denn man hatte nun einerseits die große Kluft zwischen den politischen Interessen nomadischer Gruppen und denen des modernen Industriestaates erkannt, andererseits war der Shah nicht gewillt, sich in der Nutzung der in Khuzestan, also auf Bakhtiari-Stammesgebiet, frisch entdeckten Ölvorkommen beschränken zu lassen. In den 50er- und 60er-Jahren kam es zu großflächigen Verstaatlichungen ihrer Weidegebiete, die für viele Familien die Fortsetzung der traditionellen Lebensweise unmöglich machte. Erst im Zuge der Islamischen Revolution hat sich die Lage für die Nomaden im Iran etwas gebessert, da die Politik der Sedentarisierung (Sesshaftmachung, d.Red.) seither weniger stark verfolgt wird. Khomeini sah in ihrer Lebensweise gar ein Beispiel für eine besonders ursprünglich-islamische Kultur, was für die Nomaden unter anderem bestimmte Lockerungen der staatlich verordneten religiösen Pflichten bedeutete.

Ein Qashga`i-Hirte, den ich im Herbst 2011 für einige Tage begleitete, versicherte mir, dass die ärmeren unter den iranischen Nomaden auch heute noch alle zu Fuß mit ihren Herden gehen würden, weil sie sich zumindest keinen LKW für den Viehtransport leisten können. „Zwei Wochen lang in diese Richtung“, sagte er und wies mit ausgestrecktem Arm nach Norden. „Vielleicht auch drei.“ Also begannen wir im September 2012 unsere Suche in Esfahan. Wir trafen einen jungen Bakhtiari, dessen Eltern in die Stadt gekommen waren. „Khaili kam shode“, sagte er immer wieder, „es ist sehr wenig geworden.“ Er schüttelte den Kopf und wies auf die Si-o-Se-Brücke: „Bleibt lieber hier und schaut euch die Wunder von Esfahan an.“ Er brachte uns zu einem Teppichhändler im Basar, einem älteren Mann, der davon lebte, dass Nomadenfrauen in den Dörfern und Zelten Teppiche herstellten, die er zum zehnfachen Preis an Touristen verkaufen konnte. Beim Tee schrieb er geduldig alle Orte seines Wissens, an denen gerade Nomaden zu treffen seien, in mein Notizbuch, während unser junger Freund von einem Fuß auf den anderen trat.

Seit wir am nächsten Tag im Bus in die richtige Richtung saßen, wurden wir von einem Bakhtiari zum anderen weitergereicht und mussten nicht viel mehr tun, als immer wieder unser Anliegen zu erklären. So kamen wir schnell in die ersten, nur von Bakhtiari bewohnten Ortschaften und schließlich nach Kuhrang, eine Kleinstadt in der Provinz Chaharmahal, die inmitten der Sommerweiden der Haft-Lang-Bakhtiari liegt und nach dem Berg benannt ist, den diese während der Herbstmigration zuerst überwinden müssen.

Die ersten Nomaden, die wir treffen, sind Imker. Sie bleiben nur drei Monate in den Bergen und verkaufen ihren Honig an der Straße, die von Kuhrang her kommt und nach Westen führt. Sie bewirten uns schweigsam mit Reis, Käse und Joghurt. Erst als ich anfange, dem Familienvater Zigaretten zu drehen, wird er gesprächiger. Er spricht von den Babadi, einer anderen Bakthiari-Gruppe, die nur wenige hundert Meter oberhalb ihre schwarzen Zelte aufgeschlagen hat und uns misstrauisch aus der Ferne betrachtet. „Sie sind Schäfer, arme Leute“, sagt er. Die Imkerfamilie würde erst einen Monat später aufbrechen und ihren gesamten Besitz mit einem LKW nach Khuzestan bringen.

Wir fahren auf der Ladefläche der allgegenwärtigen blauen Pickups, die meist schon schwer mit Menschen und Haushaltsgegenständen beladen sind, von Dorf zu Dorf und fragen überall, ob es Familien gebe, die vorhaben, in den nächsten Tagen loszuziehen. Und zwar zu Fuß. „Hier nicht, fahrt weiter! Eine halbe Stunde, eine Stunde, dann seht ihr sie“, sagen die Männer, die in kleinen Gruppen vor einem Lebensmittelgeschäft stehen, einem dunklen Loch, voll mit Süßigkeiten und Kartoffeln. Überall am Straßenrand werden Transporter beladen und die Einrichtung der Zelte liegt verstreut auf der kahlen Erde, die hier und da noch bedeckt ist vom Reif der vergangenen Nacht.

Die Straße schlängelt sich durch das Kerngebiet der Bakhtiari-Sommerweiden, in das seit einigen Tagen Bewegung gekommen ist – in den frühen Morgenstunden rollen nun täglich lange Reihen von in den Kurven schwankenden Transportern und Schäfer schlagen mit ihren Herden den direkten Weg durch die Berge ein. „Absteigen! Diese Leute gehen morgen los“, ruft irgendwann ein Mann, dessen Gesicht hinter Kisten und Frauen in riesigen, bunten Kleidern verborgen ist. Es werden einige schnelle Worte mit einem jungen Mann am Straßenrand gewechselt und schon ist die Angelegenheit geklärt – es ist Asghar, der Landwirtschaftsstudent.

Der iranische Nomadismus ist eigentlich eine Form des Halbnomadismus, eine exakt an die klimatischen und landschaftlichen Bedingungen angepasste Lebens- und Wirtschaftsweise, bei der halbjährig zwischen dem Winterlager (pers. Garmsir, türk. Keshlak) und dem Sommerlager (pers. Sardsir, türk. Yaylak) gewechselt wird. Hierbei legen die Qashga'i mit oft mehr als 200 Kilometern die längsten Strecken zurück. Ebenso faszinierend – und das seit langem auch für ausländische Reisende - ist aber die Passage der Bakthiari über die Gipfel des Zagros, die zum ersten Mal 1925 in einem amerikanischen Stummfilm namens „Grass: A Nation`s Battle for Live“ dokumentiert wurde. Besonders die Frühjahrsmigration, die ungefähr mit dem iranischen Neujahrsfest Nowruz beginnt, ist aufgrund der angeschwollenen Schmelzflüsse von Gefahren für die Herden und großen Anstrengungen geprägt. Gleichzeitig ist sie aber auch ein festlicher Anlass, zu dem die Frauen ihre besten Kleider tragen, neue Verbindungen zwischen jungen Menschen entstehen und die Alten ihre Jugendfreundschaften auffrischen können.

Die erste Nacht ist kalt. Es drängen sich immer zwei Menschen unter einer Decke zusammen und das kleine Feuer aus trockenem Gestrüpp taugt nur zum Teekochen. Das Abendessen besteht aus flachen, runden Brotfladen, die Perisa und Kobra jeden Tag in großen Mengen backen, und einer zähflüssigen Mischung aus Honig und Schafsfett. „Das gibt Kraft, ist billiger als Fleisch und schmeckt ausgezeichnet“, gab Asghars Vater uns mit auf den Weg. Er begleitet uns nicht, sondern hat sich einen blauen Pickup für den Transport der Zelte geliehen. Immer wenn die kleine Gruppe gerade in einen dämmrigen Halbschlaf gefallen ist, regt sich plötzlich Unruhe in der Herde, die bis an den Lagerplatz herangetrieben wurde. Dreißig oder vierzig schwere gusseiserne Glocken beginnen zu scheppern, woraufhin der jeweilige Wachposten aufspringt und die Gegend nach Wölfen und Viehdieben ausleuchtet. Das gleiche Spiel wiederholt sich unzählige Male in jeder Nacht, oft auch von Schüssen begleitet. „Die Gegend ist voll von Wölfen, das war schon immer so. Aber Viehdiebe gibt es von Jahr zu Jahr mehr. Sie kommen aus allen Teilen des Landes und wissen genau, wann die Nomaden an welchem Ort sind. Dann bleiben sie dort und versuchen es jede Nacht bei einer anderen Familie“, erzählt Asghar.

„Boland Sho!“, rufen Mehdi und Mohammad Reza mehrmals, während der eine schon Tee in kleine Gläser gießt und der andere eine Plastikfolie ausbreitet, in der das alte Brot eingewickelt ist, „Hoch mit euch!“. Noch kann man kaum die Hand vor Augen sehen, da sind schon alle unter ihren Decken hervorgekrochen und machen sich an irgendetwas zu schaffen. Zwei kleine Töchter einer Familie, die ganz in der Nähe lagert, holen in Schläuchen aus vollständigen Ziegenhäuten Wasser von einer Quelle, die Jungen treiben die Esel herbei und Asghar bläst in die Glut, um sich die Hände zu wärmen. Der zweite Tag wird genauso lang werden wie der erste – an die zehn Stunden Marsch, so schnell wie die Tiere es zulassen -, weil in diesen Höhen jetzt kein Grashalm zu finden ist, sagt er. Onkel Abdollah schultert sein Gewehr und bringt die Herde mit schrillen Pfiffen und kurzen, gepressten Rufen in Bewegung. Er hat nur schnell seinen Tee getrunken und ein wenig Brot in die Tasche gestopft, dann verschwindet er hinter dem nächsten Abhang. Kurze Zeit später haben die anderen die Esel bepackt und geschnürt und schon, Bismillah, steigen wir einen weiteren, über viertausend Meter hoch gelegenen Pass hinauf. Der Zard-e Kuh, der gelbe Berg, trägt den höchsten Gipfel des Zagrosgebirges und türmt sich schneebedeckt über uns auf.

Während des Abstiegs auf der anderen Seite treffen wir Ali Hossein, den Sohn eines ehemaligen Khans, wie er uns später erzählt. „Khayli Khosh Amadid!“, ruft er, „herzlich willkommen!“ Zu seiner Familie gehört auch ein uralter Mann, der uns zuerst gar nicht bemerkt, weil er so ins Absteigen und Schreien vertieft ist. Als wir ihn aber begrüßt haben, fragt er: „Aghajan, lieber Herr, wohin geht ihr? Warum fahrt ihr nicht mit dem Auto?“ Ich erkläre ihm, dass uns gerade die Migration zu Fuß interessiert und wir in Khuzestan eigentlich nichts Bestimmtes vorhaben. „Khaste Nashodin?“, fragt er, „Seid ihr nicht erschöpft?“ „Nein, sind Sie erschöpft?“ „Sohn“, sagt er leise, „ich bin diesen Berg schon über sechzig Mal hinuntergestiegen. Ich bin so müde.“

„Wir werden ein Schaf für euch schlachten“, ruft Ali Hossein großmütig, während wir versuchen, die Esel durch einen engen Felsspalt zu schieben. Sie versuchen immer wieder, den Stockschlägen der Männer auszuweichen und irgendwo ein paar trockene Halme zu fassen zu bekommen. Aber dafür ist keine Zeit, weiter oben hören wir schon die Rufe der nächsten beiden Familien „`He He` bogu!“, schreit Asghar ununterbrochen, „Sagt `He He`, sonst laufen sie nicht!“.

„He He!“,

„Nein, nicht so. Sagt: „He He!“

Aber wir können die Esel nicht von unserer Entschlossenheit überzeugen, also konzentrieren wir uns lieber auf den Abstieg.

Abseits des Weges tritt ein Mann aus einem schwarzen Zelt und schaut unbewegt zu uns herüber. „Leute, die das ganze Jahr über hier in den Bergen bleiben“, erklärt Perisa, „Sie können nie etwas kaufen und treffen nur uns, wenn wir hier vorbeikommen“. „Was ist das?“, ruft der Mann. „Das“, ruft Asghar zurück, „sind Bakthiari, die die Deutschen retten.“

Gegen Mittag gibt es eine Rast. Die Esel werden von ihrer Ladung befreit und vier Familien breiten auf einer windigen Hochebene in Sichtweite voneinander ihre Decken aus. Die Frauen machen in jedem Lager ihr eigenes Feuer, auf dem sie Tee kochen und Dosenbohnen erhitzen. Der alte Mann, den wir auf dem Weg kennengelernt haben, setzt sich zu uns, lehnt sich Pfeife rauchend an eine Satteltasche und erzählt von den Deutschen: Sie machen von allen Völkern auf der Welt die besten Gewehre, außerdem sind sie Arier, genau wie die Bakhtiari, und haben den Amerikanern im Irak nicht geholfen. Die Deutschen sind ein gutes Volk.

In den ersten Tagen müssen die Bakthiari schnell gehen, weil es in den Bergen fast kein Gras für die Tiere gibt. Danach müssen sie ebenfalls schnell gehen, weil es immer heißer wird, je weiter sie von den Bergen herabgestiegen sind, sodass sie immer weniger Stunden des Tages für die Wanderung nutzen können. Ab dem Vormittag wird gerastet, am frühen Abend, wenn die Sonne schon tief über der Ebene steht, werden die Esel noch einmal beladen und auf den Weg getrieben.

Am vierten Tag erreichen wir eine Teerstraße. Es scheint, als sei der anstrengendere Teil der Reise vorüber, denn nun gibt es ab und zu einen kleinen Verschlag, in dem Wasser und Obst angeboten werden. Einige Jungen tauschen ihre kaputtgelaufenen Plastiklatschen gegen billige Turnschuhe. Der Laden, der sie verkauft, liegt sicher nicht zufällig genau an der Stelle, an der die Nomadengruppen Tag für Tag zur Straße heraufsteigen. Die Herden blockieren alle paar hundert Meter die Fahrbahn, weil die Hirten keine besonderen Anstrengungen unternehmen, sie an der Benutzung beider Fahrstreifen zu hindern. Die entgegenkommenden Autos und Lastwägen fahren hupend heran und bremsen erst wenige Meter vor den Tieren – es ist ein Spiel, das sie alle schon immer spielen. Man hört wütendes Geschrei aus den Autos, das von beschwichtigendem Gemurmel der Nomaden beantwortet wird.

Nach einigen Kilometern erscheinen Frauen im Tschador am Straßenrand. Sie sind von der Schlucht heraufgeklettert und stehen weinend eng beieinander. Unten liegt ein zerstörter PKW, in dem, so sagt man uns, am vergangenen Tag eine ganze Familie umgekommen ist. Auch später gibt es noch viele Stellen, an denen sich die Bakthiari schwerer Unfälle erinnern – es scheint, als seien sie, neben gewissen Zusammenstößen mit Bärenweibchen, die wichtigsten kollektiv erinnerten Markierungen auf dem Weg.

Nach einer Nacht am Straßenrand verlassen wir dieses Randgebiet der städtischen Zivilisation noch einmal. Anstatt die Tiere weiter auf ausgreifenden Mäandern vorwärtszutreiben, steigen wir wieder einen ganzen Tag lang geradewegs einen steilen Abhang hinunter. Gegen Abend erreichen wir die Grenze von Khuzestan. Die Bevölkerung dieser riesigen, wüstenhaften Provinz spricht mehrheitlich Arabisch. Saddam Hussein hatte, aufgrund ähnlicher Vorstellungen wie später im Falle Kuweits, versucht sie an den Irak anzugliedern und ließ 1980 hier seine Truppen einmarschieren. Die Folge war, dass der erste Golfkrieg diesen Landstrich acht Jahre lang verwüstete. Neben den Arabern bilden die Bakhtiari hier die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe, zumindest im Winter.

In den letzten drei Tagen unserer Reise folgen wir abgelegenen Straßen, die winzige Dörfer, vereinzelte Pumpwerke, Fabriken und regionale Pilgerstätten miteinander verbinden. Hin und wieder treffen wir auf kleine Häuser, die wohlhabendere Bakhtiari-Familien gebaut haben. Die Kräfte und Nerven der Familie schwinden merklich dahin, ihre Bewegungen bei den täglichen Arbeiten werden fahrig, die Stimmung ist oft angespannt. Wenn wir unseren Nachtlagerplatz erreichen, werfen sich die Männer sofort auf eine staubige Decke, während Perisa und Kobra schimpfend Feuer entfachen und Teig kneten – ihre Rolle in der Gemeinschaft lässt es nicht zu, dass sie ihre Erschöpfung zeigen. Perisa zieht noch immer jeden Tag vor dem Aufbruch ihr gelbes Festgewand an, obwohl es mittlerweile an vielen Stellen zerrissen und schmutzig ist. Ihre Cousine Kobra „mag sowas nicht tragen“, wie sie mir einmal mit einer wegwerfenden Handbewegung erklärt. „Khaste shodid?“, „Seid ihr müde geworden?“, fragt sie uns spöttisch lächelnd, als wir am fünften Tag mit einer Stunde Verspätung den Lagerplatz erreichen.

Schon kurz vor dem Ziel beschließt Ali Hossein in den frühen Morgenstunden, dass wir an diesem Tag nicht weitergehen würden. „Die Ziegen sind müde“, sagt er nach einer mehrstündigen Pause und zieht sein Opiumpfeifchen aus der Hemdtasche, „und außerdem sind die Esel nicht mehr da.“ Also verbringen wir den Tag im Schatten eines der wenigen Bäume weit und breit, während Asghar die Umgebung bis in die Nacht hinein nach den Eseln absucht. Schließlich trotten sie von allein herbei, der Durst hat sie zur Umkehr bewegt.

Am Abend tanzt Ali Hossein zur Musik eines alten Kassettenrekorders und wir dürfen seine Tracht anprobieren, nachdem er uns zum ersten Mal an sein Feuer eingeladen hat. Eine Erleichterung scheint sich in den Gesichtern der Familie auszubreiten, weil sie wissen, dass wir am nächsten Vormittag ankommen werden.

„Seid ihr jetzt erschöpft?“, frage ich Asghar, als wir am nächsten Morgen mit der Sonne im Rücken die letzten Kilometer zurücklegen. Er hat diese Frage immer verneint, selbst, wenn ihm schon manchmal im Gehen die Augen zufielen. Er sagt: „Ja, mein Freund, jetzt sind wir ein bisschen müde geworden“ und lässt dabei seinen Stock auf das Hinterteil eines Esels niedergehen.

Kurz vor dem Dorf werden wir von Asghars Vater empfangen. Er schließt alle nacheinander in die Arme und nimmt ein neugeborenes Ziegenlamm auf die Schultern. Als wir mit anderen Familien und ihren Herden in Sichtweite der ersten Häuser sind, zieht Ali Hossein eine schwarze Tüte über einen langen Stock und trägt diesen Fahnenersatz wie eine Trophäe in die Höhe gereckt, als uns die ersten spielenden Kinder begrüßen.

Asghar verschläft den Nachmittag vor der Klimaanlage im Haus eines Freundes. Danach machen wir einen Spaziergang durch die Nachbarschaft „Wenn der Regen kommt, säen wir Getreide“, sagt er. „Es gibt viel Arbeit hier im Winter. Wenigstens haben wir hier ein Dach überm Kopf und eine Dusche – allerdings nur eine für das ganze Dorf.“ Was er von der Zukunft halte, frage ich. „Nomadische Bakthiari wird es immer geben, aber sie werden irgendwann alle mit dem Auto fahren. Vielleicht schon in zwanzig oder dreißig Jahren ist Schluss mit dem Wandern.“

„Gefällt dir das Nomadenleben?“

„Ja, wir mögen das“, sagt er langsam, jedoch ohne zu überlegen.

Am nächsten Morgen treffen wir Asghar schon nicht mehr im Haus seiner Eltern an. Er ist aufs Feld gegangen, um den Nachbarn beim Dreschen zu helfen. Mitten in einem Meer aus heißer, rissiger Erde steht er mit drei anderen Männern auf einem kleinen Getreidesilo und schleudert, bis die Sonne untergeht, gabelweise Getreide in die Dreschmaschine.

Zum Abschied umarmen wir uns lange und wünschen uns gegenseitig khaste naboshi, mögest du nicht müde werden. Mit Blick auf die verschwitzten Männer, die im Schatten des Silos sitzen, sagt Asghar: „Ja, jetzt sind wir wirklich ein bisschen müde geworden“ und lacht wie ein kleiner Junge.

Nördlich des Dorfes treibt Ali Hossein seine Herde den Berg hinauf. Er wird dort tage- oder wochenlang mit ihnen umherziehen, ohne dass ihn irgendjemand zu Gesicht bekommt. Nur er, seine kleine Pfeife und der weite Wüstenhimmel. Denn nur wer in Bewegung bleibt, überlebt.


Der Religionsanthropologe Benjamin Raßbach aus Leipzig begleitete gemeinsam mit den Fotografen Maciej Staszkiewicz und Miriam Stanke aus Mannheim 2012 eine Gruppe der Bakhtiari-Nomaden im Iran bei ihrer Wanderung zu neuen Weideplätzen durch das Zagrosgebirge. Wenn Sie ihn zu einem Vortrag über seine außergewöhnliche Wanderung einladen möchten, stellt der GfbV-Nahostreferent Dr. Kamal Sido (Tel. 0551 499 06-18, nahost@gfbv.de) gern den Kontakt zu ihm her.