07.11.2012

Editorial

Rupert Neudeck, Foto: Thomas Just, Grünhelme e.V.

Aus bedrohte völker_pogrom 272, 4/2012

Liebe Leserinnen und Leser,

Anfang September 2012 habe ich mitten in der nordsyrischen Stadt Azaz gestanden, auf einem völlig platt gebombten Platz mit acht in den Boden gerammten Häusern und vielen Toten. Meine Beobachtung nur in dem kleinen Terrain um Azaz hat mir umso mehr die Augen geöffnet, dass hier eine schwerstgerüstete Regierungsarmee gegen alles tobt. Sie zerstört Infrastruktur und Wohngebiete und tötet Menschen mit unerbittlicher Härte. Viele haben nicht die Möglichkeit, dem Gräuel der Verwüstung und der Massaker zu entfliehen. Der Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschheit und des Kriegsverbrechens ist längst erfüllt. Die zwei Veto-Mächte Russland und China blockieren die Handlungsfähigkeit der Vereinten Nationen und provozieren damit in den nächsten Wochen und Monaten weitere Morde an unschuldigen Männern, Frauen und Kindern. Das syrische Regime hat alles getan, was gegen die Genfer Menschenrechtskonventionen verstößt. Es hat auch direkt Krankenhäuser bombardiert und beschossen. Das alles scheint noch nicht genug zu sein, denn bisher hat der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag gegen den Diktator Bashar al-Assad keine Anklage erhoben. Humanitäre Hilfestellungen, die das Leid der Menschen zu mildern versuchen, laufen bereits. Die internationale Gemeinschaft hat große Zeltlager auf jordanischem Gebiet in der Nähe zur syrischen Grenze aufgestellt, um den Flüchtlingen zu helfen. Die Türkei gewährt vielen Menschen Zuflucht, auch wenn sie Bedenken hegt, dass syrische Kurden über die Grenze kommen, deren Zahl sie in der Türkei jedoch nicht gern vergrößern will. Die Regierung in Ankara ist auch bereit, die Grenzen zwischen der türkischen Region Kilis und Azaz zu öffnen, um humanitäre Güter und Helfer nach Syrien zu lassen. Noch solidarischer zeigt sich die türkische Bevölkerung in den Dörfern zwischen den Städten Küvecci Köyü und Antakya, die syrische Flüchtlinge in ihren eigenen Häusern aufnimmt und alles mit ihnen teilt. Das gibt den geschundenen Menschen, die den beschwerlichen Weg über die Grenze angetreten haben, den Glauben an die Menschheit zurück.

Hilfe ist dringend notwendig. Kurzfristig geht das Mehl aus in den kurdischen Gebieten sowie in den kurdischen Vierteln von Aleppo. Mittelfristig bricht die Wirtschaft in Syrien zusammen, nicht nur wegen der Sanktionen, sondern weil viele qualifizierte Leute wie Geschäftsleute und Handwerker aus dem Land geflohen sind. Langfristig wäre es erforderlich, dass sich Europa am Wiederaufbau auch der alten großen Orte beteiligt, die uns aus dem Neuen Testament um den Apostel Paulus bekannt sind.

Noch nicht abzusehen ist, wann der Krieg enden wird und die entsetzlichen Leiden der Zivilbevölkerung ein Ende haben werden. Das Regime, das so viel Unrecht auf sich geladen hat, wird es nicht schaffen. Am Ende wird sich Syrien hoffentlich von dem Alptraum einer Gewaltdiktatur befreit haben.

Ihr Rupert Neudeck


Rupert Neudeck ist Journalist und Menschenrechtler. 1979 gründete er das Komitee Cap Anamur/Not-Ärzte e.V. und rettete mit vier Frachtern 11.340 vietnamesischen Bootsflüchtlingen das Leben. 2003 rief er den Friedenscorps Grünhelme e.V. ins Leben.

 

pogrom im Online-Shop der GfbV bestellen.