06.09.2012

Editorial

Tilman Zülch© GfbV

Aus bedrohte völker_pogrom 271, 3/2012

Liebe Leserinnen und Leser,

die Fußball-Europameisterschaft in Polen und der Ukraine hat Millionen Menschen fasziniert und die öffentliche Aufmerksamkeit auf diesen Teil Europas gelenkt. Und doch hagelte es Absagen von führenden Politikern, die sich gewöhnlich diese Art Publicity nicht nehmen lassen. Die traurige Menschenrechtssituation in der Ukraine, die Inhaftierung ihrer früheren Premierministerin Julia Timoschenko, die Knebelung der Pressefreiheit und die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen sind zum Thema der Berichterstattung geworden. Zwischen der Ukraine und Polen liegt Weißrussland, regiert von einem Gewaltherrscher, der seine Bürger gleichgeschaltet hat und oppositionelle Demokraten und Menschenrechtler gnadenlos verfolgt. Die Staatsoberhäupter der Ukraine und von Weißrussland, der Autokrat und Präsident Wiktor Janukowitsch und der „letzte Diktator Europas“, Alexander Lukaschenko, können sich auf die bedingungslose Unterstützung des großen russischen Nachbarn verlassen.

Gerade nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hegten nicht zuletzt die Minderheiten Hoffnungen auf Demokratisierung und Öffnung, auf Gleichberechtigung und Förderung ihrer Kulturen, Sprachen, Institutionen und Publikationen. Schließlich war und ist ihnen wichtig, an ihr Schicksal zu erinnern, an Vertreibung, Verfolgung, Verschleppung oder Völkermord. An jene Verbrechen, die vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg verübt wurden. Diese Hoffnungen wurden bitter enttäuscht, besonders in der Ukraine und Weißrussland. So scheint es zuweilen, als befänden sich diese Staaten immer noch hinter einem Eisernen Vorhang. Deshalb richtet unsere Ausgabe den Blick auf die Situation der Minderheiten und Menschenrechte dort.

Stalinismus und Nationalsozialismus veränderten die Vielvölkerstaaten mit ihrem Reichtum an Kulturen, Sprachen und Religionen für immer und löschten das ehemals blühende jüdische Leben dort aus. Beinahe ganz untergegangen ist auch die faszinierende jiddische Sprache. 1995 waren erstmals jiddische Worte in einem deutschen Parlament zu hören, als der jüdische Historiker Arno Lustiger anlässlich des Holocaust-Gedenktages den Bundestag auf Jiddisch begrüßte. Dann trug Wolf Biermann eine Strophe aus dem „Großen Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk" des „jiddischen Dante des 20. Jahrhunderts“, Jitzhak Katznelson, vor. (Sie finden die besagte Strophe auf Seite 21 in unserer Ausgabe auf Jiddisch und auf Deutsch).

Nach dem Krieg war die Gewalt nicht vorbei. Es sollten homogene Staaten geschaffen werden auf Kosten von Millionen vertriebenen Deutschen, Ukrainern, Lemken und anderen ethnischen Gemeinschaften. Die Vergangenheitsbewältigung ignoriert diese Opfer vielmals und nimmt ihnen damit noch einmal ihre Würde. Aber die Erinnerung an das Unrecht aller Seiten ist wichtig, weil wir dem Andenken an die Menschen, die es erlitten haben, verpflichtet sind und weil die Bewältigung der Vergangenheit nur dann wirklich erfolgreich ist, wenn gleichzeitig gegenwärtiges Unrecht bekämpft wird. Deshalb haben wir in unserem Heft den historischen Verbrechen einen besonderen Platz eingeräumt.

Ihr Tilman Zülch

Generalsekretär der Gesellschaft für bedrohte Völker


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