02.02.2006

Dramatisches Ringen um das Land der Gwich'in

Arctic National Wildlife Refuge

aus: bedrohte völker_pogrom 234, 6/2005
Am 10. November 2005 hatte es zunächst nach einer herben Niederlage für US-Präsident George W. Bush ausgesehen. Um einer drohenden Abstimmungsniederlage im Repräsentantenhaus zuvorzukommen, die das zurzeit debattierte Haushaltsgesetz insgesamt gekippt hätte, zog die Fraktion der Republikaner den Haushaltsposten "Ölförderung im Arctic National Wildlife Refuge" kurz vor der Stimmabgabe aus dem Haushaltsgesetz zurück. Das Arctic National Wildlife Refuge (ANWR) ist eines der ältesten Naturschutzgebiete der USA und Kinderstube der 130.000 Tiere großen Porcupine Karibuherde, Existenzgrundlage der etwa 9.000 Gwich'in-Indianer.

25 Abgeordnete der Republikanischen Partei hatten sich gegen das Prestigeprojekt ihres Präsidenten gestellt, der die Öffnung des Schutzgebietes zur Frage der nationalen Sicherheit erklärt hatte, weil es die Unabhängigkeit von Öl-Importen aus "Schurkenstaaten" angeblich erhöht. In einer Erklärung ließen die Abgeordneten verlauten: "Statt den jahrzehntelangen Schutz für diese Gebiete aufzuheben, sollte der Fokus auf erneuerbare Energiequellen, alternative Brennstoffe und einen effizienteren und sparsameren Umgang mit Energie gelegt werden." So würde mehr Energie gewonnen als durch die Erschließung der Alaska-Ölfelder.

Die Abgeordneten der Demokratischen Partei sind seit jeher geschlossen gegen das Ölprojekt. Eine Woche zuvor hatte der Senat das Haushaltsgesetz ohne Veränderungen durchgewunken, so dass die beiden Häuser des Kongresses nun in Verhandlungen um ein gemeinsames Haushaltsgesetz eintreten müssen: Eine Atempause für die Gegner der Ölförderung im ANWR, das schon seit 1957 Naturschutzgebiet ist.

"Wir Gwich'in sind Menschen des Karibus", sagt die Sprecherin der Gwich'in, Sarah James. "Unsere Lebensweise ist eng mit der Procupine Herde verknüpft. Sie ist Teil unserer Sprache, unserer Lieder und Geschichten." Die Heimat der Gwich'in sind 15 Dörfer, die südlich des Bergmassivs der Brooks Range entlang des Wanderwegs der Porcupine Herde im Nordosten Alaskas und Nordwesten Kanadas liegen. Der Gwich'in Darius Kassi sagt: "Unser ganzes Leben dreht sich um das Karibu. Es gibt uns mehr als 80 Prozent unserer Nahrung." Etwa 4.000 Tiere brauchen die Gwich'in jedes Jahr. Sie verwerten Fleisch und Fett als Nahrung, Fell und Leder für Kleidung und Schuhe, Knochen und Sehnen für Gebrauchsgegenstände. Wissenschaftler schätzen, dass die Gwich'in-Kultur mindestens 20.000 Jahre alt ist. Das Karibu prägt auch ihre Weltsicht, ihre Spiritualität. Sie sind davon überzeugt, dass in jedem Karibu ein Teil vom Herzen eines Menschen schlägt und dass ein wenig Karibu in jedem Menschen ist. Alles, was die Porcupine Herde in Gefahr bringt, ist daher auch eine Bedrohung der Gwich'in.

Für die Ölförderung erschlossen werden soll das so genannte Gebiet 1002, das mitten im ANWR liegt und das die weiblichen Karibus bevorzugt aufsuchen, um ihre Kälber zu gebären und aufzuziehen. Dort finden sie das beste Futter. Es gibt wenig Raubtiere, die ihre Jungen gefährden, außerdem finden sie Schutz vor den quälenden Insektenschwärmen. Den Gwich'in ist dieses Gebiet heilig. Sie nennen es "Izhik Gwats'an Gwandaii Goodlit" – "Ort, an dem alles Leben beginnt". Das Karibu gibt ihnen das Leben. Es ist nicht nur die einzige erschwingliche Nahrungsquelle – importierte Waren sind so weit im Norden extrem teuer –, sondern liefert auch die qualitativ beste Ernährung. Die Gwich'in wissen um die schlechten Erfahrungen ihrer Nachbarn in der Prudhoe Bay, wo seit den 1970er Jahren Öl gefördert wird. Dort können die Jäger sich nicht mehr von den Karibus ernähren, die das Gebiet weitgehend meiden. Die Nahrungsumstellung führte zu einem starken Anstieg von Krankheiten wie Krebs und Diabetes; das Ausbleiben der Karibus hatte außerdem den Zusammenbruch des traditionellen Sozialsystems zur Folge.

Für die Gwich'in ist das Leben ohne den Zyklus, den die Wanderungen der Karibus vorgeben, kaum vorstellbar. Alles Wissen, das die jungen Leute für ein Leben als traditionelle Karibu-Menschen brauchen, wird ihnen bei den alljährlichen Jagdzügen vermittelt. Die jungen Mädchen lernen von den Müttern und Großmüttern, wie man die einzelnen Fleischstücke richtig einlagert und wie man die entsprechenden Teile des Tieres nennt, sie lernen, wie man aus der Haut das Leder für Kleidung und Schuhe geerbt, wie und aus welchen Teilen der Jagdbeute man Nähnadeln, Haken, Werkzeuge für die Gerberei macht oder wie man Sehnen präpariert. Die Jungen erfahren von den Vätern und Großvätern, wie man sich an das Wild anschleicht und wie man es erlegt, sie lernen, dass man die Jagdbeute untereinander teilt, prägen sich die mit den Jagdgebieten verbundenen Namen und Erinnerungen ein, lernen die richtigen Abläufe der Zeit. Dass man mit Sorgfalt und Respekt das Leben eines Karibus nimmt und sich beim Schöpfer für dieses Geschenk angemessen bedankt, das Verantwortungsgefühl gegenüber dem Stamm, dessen Ernährer sie sind, alles das lernen die jungen Männer bei der Jagd.

Diese Lebensweise wird verloren gehen, wenn im "Gebiet 1002" Öl gefördert werden wird, denn vermutlich werden die Karibus ihren Wanderweg so weit nach Südosten verlagern, dass die meisten Gwich'in sie nicht mehr erreichen. Die Herde wird dort in Gegenden kommen, in denen es schlechteres Futter für die Muttertiere gibt und zugleich mehr Raubtiere, die die Kälber jagen. Die ohnehin schon niedrige Geburtenquote der Porcupine Karibuherde wird weiter zurückgehen und es werden weniger Jungtiere überleben als heute.

Das ANWR reicht im Osten bis auf kanadisches Staatsterritorium. Kanada will dieses Naturgebiet auf jeden Fall bewahren, das oft als Serengeti der Arktis bezeichnet wird. Im Porcupine Caribou Agreement vom 17. Juli 1987 haben sich Kanada und die USA verpflichtet, die Porcupine Karibuherde, ihre Wanderwege und die Gebiete, in denen sie ihre Jungen zur Welt bringen und aufziehen, zu schützen. Der Staatsvertrag erkennt ausdrücklich die herausragende Bedeutung dieser Herde für die Existenz der traditionellen Lebensweise der Gwich'in an und verpflichtet die beiden Vertragspartner, alles zu vermeiden, was die Herde und damit die Gwich'in gefährden könnte. Kanada wird weiter Lobbyarbeit für den Schutz des Naturgebietes betreiben. Premier Paul Martin hat George Bush sogar angeboten, die USA aus eigenen Vorkommen mit jener Menge Öl zu versorgen, die sie bei Verzicht auf das Öl aus dem ANWR nicht zur Verfügung hätten.

Für Georg Bush hat das Schutzgebiet keinerlei Gewicht. Nach den verheerenden Wirbelstürmen vom Herbst 2005 sind auch in den USA die Benzinpreise stark gestiegen. Der Druck auf diejenigen, die das Schutzgebiet als Erbe der Menschheit retten wollen, ist enorm gewachsen. Das Öl aus dem ANWR würde den US-Gesamtbedarf aber nicht einmal sechs Monate decken, meinen unabhängige Studien. Auch wird es noch ca. 20 Jahre dauern, bis der erste Tropfen Benzin auf den Markt kommt. Umweltschützer befürchten daher, dass die Öffnung des ANWR als Präzedenzfall dienen soll für die Aufhebung weiterer Naturschutzgebiete zugunsten der Rohstoffindustrie.

Der Rückzieher vom 10. November war nur ein taktischer Zug. Am Sonntag, den 18. Dezember 2005, einigten sich nämlich der amerikanische Senat und das Repräsentantenhaus über das Gesetz über die Ausgaben im Verteidigungsressort für 2006. Das Repräsentantenhaus hatte bereits mit 308 zu 106 Stimmen zugestimmt. Durch die Bekräftigung des Senats tritt das Gesetz, dem ein Haushaltsposten zur Ölförderung im Alaska National Wildlife Refuge angegliedert worden war, endgültig in Kraft. Damit autorisiert die amerikanische Regierung unter Präsident George W. Bush auch die umstrittene Öl- und Erdgasförderung im ANWR.

Informationen:

www.gwichinsteeringcommittee.org

www.alaskawild.org

www.nrdc.org