12.12.2008

Direktor für Internationale Beziehungen, Simon-Wiesenthal-Zentrum Paris

Rede von Shimon Samuels

Dr. Shimon Samuels

Nach fünf Jahren Nazi-Herrschaft hätte die "Reichspogromnacht" alle Alarmglocken laut klingeln lassen sollen. Die Antwort war jedoch eine Politik der Beschwichtigung (Original: Appeasement). Hitlers Strategie war seit der Veröffentlichung von "Mein Kampf" in den frühen 1920-er Jahren bekannt.

Die Verteufelung, die Verachtung, der Boykott, der Ausschluss von und der Angriff auf Juden hätte jede Minderheit, jeden Journalisten und alle, die etwas auf Zivilverantwortung halten, aufrütteln müssen.

Bei der UN-Weltkonferenz gegen Rassismus (WCAR) in Durban (Südafrika) im Jahr 2001 waren die internationale Gemeinschaft und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) aktiv oder passiv in einen Höhepunkt des Hasses seit dem Holocaust einbezogen. Die Veranstaltung wurde Teil einer Intifada gegen jüdische Souveränität – und nur 72 Stunden nach ihrer Beendigung folgten die Anschläge vom 11. September.

Der Weg von Durban 2001 bis zu seiner nächsten Auflage im April 2009 in Genf ist übersät mit den Opfern eines weltweiten Wiederauflebens von Hass gegen Juden, der geprägt ist von Boykotten, Anschlägen auf jüdische Institutionen, einer antisemitisch-terroristischen Verknüpfung, einer Kampagne des Identitätsraubes durch eine Banalisierung der Shoah (Holocaust) und unverblümten Drohungen atomarer Genozidabsichten.

Ich werde über den weltweiten Antisemitismus von Durban bis Durban sprechen und taktische Maßnahmen vorschlagen, um ein Frühwarnsystem zu etablieren und einen Prüfpunkt für das Sprichwort: "Was mit den Juden beginnt, endet als Plage für die gesamte Menschheit."

Haben wir die Lehren gut genug gelehrt, um sie präventiv anwenden zu können? Ist eine Wiederholung vermeidbar?

 

Westeuropa ist noch immer besessen von der Schuld für seine zwei größten Verbrechen: den Kolonialismus und den Holocaust. Diese Bürde ist mit einem einfachen Mechanismus durch einen Rollenwechsel oder eine Projektion gesühnt worden: Westliche Medien begannen 1982, die Sprache des Holocaust für den israelischen Gegenschlag gegen palästinensische Terrorraketen aus Südlibanon zu benutzen. West Beirut = Warschauer Ghetto, Südlibanon = Sudetenland, israelische "Luftwaffe" etc.

Dies fand sich auch in einer karikaturistischen Darstellung des Fotos von der Aufgabe im Warschauer Ghetto, von dem Kind, Arme erhoben, die Waffen der Nazis auf sich gerichtet. Der Karikaturist platzierte ein "keffiyeh" auf dem Kopf des jüdischen Jungen und Davidssterne auf die Helme der Nazis.

Voilá, durch zwei Feinheiten ergab sich eine unterschwellige Rollenumkehr: das palästinensische Opfer wurde judaisiert, die israelischen "Siedlungskolonialisten" wurden zu nazifizierten Straftätern.

Durch einen einfachen Hilfsmechanismus konnten die Bürger der Länder, die mit den Nazis zusammengearbeitet haben oder von ihnen besetzt waren, nun aufatmen: "Wir waren nicht so schlecht!"

[…]

Die Illusion der Normalisierung der jüdischen Lage (im Jahr 2000) wurde durch die Intifada 2001 zerstört, Durban stellte eine neue Schwelle im Post-Holocaust-Antisemitismus und eine neue globale Bedrohung sowohl der jüdischen als auch der weltweiten Situation dar: ein radikaler dschihadistischer Totalitarismus in Verbindung mit Terrorismus – der 72 Stunden nach Durban durch 9/11 zum Ausdruck kam.

Die Stimme Teherans (Iran) verkündete in Dubai einen Identitätsraub á la Orwell:

- Die 3 Holocausts:

- Europäische Verantwortung für Sklaverei in Afrika

- Transatlantischer Sklavenhandel zu den Vereinigten Staaten

- Palästinensische Naqba (Araber bezeichnen die Gründung des Staates Israel mit seinen Folgen als "al Naqba", deutsch: Katastrophe. Sie steht für die Landnahme durch die neuen israelischen Siedler und die Flucht der palästinensischen Araber in die arabischen Nachbarländer, d. Übersetzer)

Es gibt keinen jüdischen Holocaust.

- Die 2 Antisemitismen laut eines Professors der Universität von Teheran:

- Hass auf Juden vor 1945 (besonders vorverurteilt als Kommunisten oder Kapitalisten) endete mit dem Triumpf des Zionismus 1948

- Antisemitismus wurde nun zu Hass auf die anderen Semiten (besonders vorverurteilt als Ölscheichs und Terroristen)

Deshalb wurde aus Antisemitismus Arabophobie und Zionismus, und ist deshalb antisemitisch.

Der Freitag-Nacht-Marsch gegen Rassismus während Durban versammelte sich um den kleinen jüdischen Club mit Bannern von "Mein Kampf", auf denen stand: "Hitler hatte Recht". In dieser Nacht verschwamm der feine Unterschied zwischen Antisemitismus und Antizionismus.

Ein Mantra, das in Durban entstand, war "B.D.S." – die Boykott-, Divestment und Sanktionskampagne gegen den Staat Israel.

Die Sprache war auffallend erinnernd:

"B.D.S." wiederholte Hitlers "Kauft nicht bei Juden!"

"Naqba" wiederholte Hitlers "Die Juden sind unser Unglück!"

Dieses Phänomen ist symptomatisch für etwas, was ich die "Anthropoligisierung" des Holocaust nenne.

Die antirassistische Linke in Europa gedenkt der "Kristallnacht" jedes Jahr. Sie weinen um Juden, die vor 70 Jahren ermordet wurden. Aber das Gedenken an die brennenden Synagogen von 1938 im Jahr 2000 schloss nicht die über 100 Synagogen ein, die in jenem Monat auf dem ganzen Kontinent angegriffen wurden.

Diese Form des Holocaustgedenkens ist ein Feigenblatt für Antisemitismus. Es gibt auch ein ähnliches Phänomen der Islamophoben, die ein Plakat für Palästina hochhalten, um ihren Anti-Moslem-Hass zu verschleiern.

Es gab Feiern in verschiedenen französischen Gemeinden, um "Righteous Gentils" zu ehren – unter der Bedingung, dass kein Repräsentant aus Israel anwesend ist.

Ich wurde zu einem schwedischen Lehrgang für Lehrer über den Holocaust in Archangelsk, Russland, eingeladen. Ich fragte, warum sie nicht die lokale jüdische Gemeinschaft eingeladen hätten. Sie antworteten, "Wir wollen über den Holocaust unterrichten, was hat das mit den Juden heute zu tun?"

[…]

Der Holocaust hat das jüdische Volk mit einer einzigartigen Verantwortung versehen. 2000 Jahre lang war es Blitzableiter, das "universell Andere". Nun muss es das "universelle Beispiel" als Wetterfahne oder Luftsack werden, um die Alarmglocken läuten zu lassen und die Ohren der Gesellschaft auf den Klang drohender Gefahr zu trainieren.

Ich erinnere an eine Macht, die in Genf erklärte, dass sie keinen Krieg will und tatsächlich im Namen des Friedens kooperieren will. Ihr Repräsentant betonte in der Versammlung jedoch, dass sein Land nicht länger als zweitklassiger Staat behandelt werden könne, auch dürfe es nicht länger der modernen Fortschritte beraubt sein, die anderen erlaubt seien. Er betonte, dass er nach Genf gekommen war, um "parteilos zu kooperieren, um mit Ehrlichkeit große Probleme zu lösen, wurde aber schwer enttäuscht vom Misstrauen und sogar der Feindseligkeit der Welt."

Bei diesem Repräsentanten handelt es sich um Reichsminister Joseph Goebbels, wie berichtet am 28. September 1933.

Sowohl 1933 als auch 1935 und 1938 waren klare Warnzeichen, die Alarmglocke funktionierte nicht.

Goebbels Rede ist ein früher Vorläufer von Ahmadinejad, der die Zurückhaltung und Schüchternheit des Westens testet. Während er zwischen Holocaust-Leugnung und atomaren Genozidabsichten wandelt, werden wir wieder Zeuge eines betäubenden Effekts, einer "Juden-Müdigkeit" und eines Tests der Beschwichtigungspolitik (Appeasement). Was mit den Juden beginnt…!

Die verhängnisvolle Folge der nuklearen Ausuferung könnte der letzte Holocaust sein, der nicht an den Grenzen des jüdischen Staates Halt machen würde. Ich habe schon ein paranoides, makaberes Gefühl, dass die Überlebenden Einstein, Oppenheimer, Teller zum Beispiel des endgültigen Antisemitismus beschuldigen werden.

In der Debatte um die "Allgemeingültigkeit" und die "Einzigartigkeit" des Holocaust in den 1990-er Jahren wurde ein Kompromiss versucht, indem man ihn als "genocide primus inter pares" (erster Genozid unter gleichen, d. Übersetzer).

Ich glaube, dass die Fakten des Holocaust tatsächlich einzigartig sind, aber seine Lehren sind allgemein und universal. Diese Lehren zum Schmerz aller anzuwenden, könnte die Alarmglocke wieder reparieren und die Notwendigkeit unterstreichen, dass Auschwitz eine Warnung, aber kein Präzedenzfall war.