04.05.2009

"Die Wüste ist ein Geschenk Gottes"

Interview mit Aboubaker Akhaty

Aboubaker Akhaty

bedrohte Völker: Mr. Akhaty, wo kommen Sie her?

Aboubaker Akhaty: Ich komme aus Libyen, besitze die libysche Staatsbürgerschaft, bin aber in Timbuktu (heute in Mali, d. Red.) geboren. Meine Familie emigrierte 1959 nach Libyen. Damals gab es noch nicht die heutigen Grenzen. Bis zur Unabhängigkeit lebten wir wie in einem großen Tuareg-Land, das sich von Burkina Faso, Mali, über Niger und Algerien bis nach Libyen erstreckte. Wir sind ein Volk der Sahara.

bedrohte Völker: Was geschah nach der Unabhängigkeit?

Aboubaker Akhaty: Wir haben eine eigene Kultur, eine eigene Sprache, eine eigene Tradition, eine eigene Lebensweise. Als Libyen und Mali 1960 unabhängig von Frankreich und die Grenzen praktisch mit dem Lineal gezogen wurden, waren wir plötzlich ein auf viele Länder aufgeteiltes Volk. Weder Mali noch Libyen erkennen uns als Volk mit einem Recht auf seine eigene Kultur an. Deshalb kommt es in diesen beiden Ländern immer wieder zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Tuareg und der Regierung.

bedrohte Völker: Wie würden Sie den Konflikt momentan charakterisieren?

Aboubaker Akhaty: Mali und Niger erkennen uns unsere Rechte nicht zu, sie erkennen unsere Sprache (Tamascheq, d. Red.) nicht an. Sie streiten ab, dass die Tuareg schon seit Jahrhunderten in diesen Gebieten gelebt haben. In Mali und Niger haben die Tuareg keinen Platz in der Gesellschaft. Sie werden von den Regierungen nicht integriert. Wir wollen unser Land und unsere Kultur schützen. Wir wollen keinen unabhängigen Tuareg-Staat, das ist nicht unser Ziel. Uns wurde damals, als Mali und Niger unabhängig wurden, eine Art Autonomie versprochen. Doch die wird uns bis heute versagt.

bedrohte Völker: Den Tuareg wird oft vorgeworfen, gewaltbereit zu sein…

Aboubaker Akhaty: Das ist ein Vorurteil, das ist Rassismus! Wie kann ich behaupten, alle Deutschen seien so und so, alle Amerikaner so und so? Wir werden als faul, kriminell, opportunistisch und gewalttätig bezeichnet. Doch die Frage, die man sich stellen muss, ist: Warum gibt es gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den Tuareg und der Regierung nur in Mali und Niger, nicht aber in Libyen, Algerien oder Burkina Faso? Die Vorurteile werden immer wieder benutzt, um uns zu diskriminieren und unsere Kultur auszulöschen.

bedrohte Völker: Was macht die "Kultur" der Tuareg aus? Was sind ihre Besonderheiten?

Aboubaker Akhaty: Wir sind eine sehr offene Gesellschaft. Wir sind Muslime. Aber besonders die Frauen haben eine einzigartige, äußerst respektierte Stellung in unserer Kultur. Bei uns fordern die Frauen keine Freiheit, denn sie sind frei. Das ist einzigartig in der Sahara, ja sogar in Afrika. Meine Frau beispielsweise hat ihr eigenes Geld. In der Sahara werden die Kinder von ihren Müttern unterrichtet. Eine Hauptaufgabe unserer Frauen ist deshalb die Erhaltung unserer Kultur, unserer Lieder und unserer Schrift (Tifinagh, d. Red.). Wenn es Schulen gibt, gehen die Kinder zur Schule oder zur Universität – Jungen wie Mädchen.

bedrohte Völker: Sind Landrechtskonflikte wegen reicher Rohstoffvorkommen in Niger und Mali mit verantwortlich für die Auseinandersetzungen zwischen Tuareg und den Regierungen?

Aboubaker Akhaty: Es gibt viele Ressourcen in den beiden Ländern: Öl, Gas, Uran, Kupfer, Nickel, Phosphor, Mangan. Aber uns geht es nicht ums Öl oder das Uran. Unser Konflikt begann, bevor das Öl entdeckt wurde. Wir wollen auf unserem Land unsere Kultur leben können. Doch es wurde von Firmen in riesige Uran- und Ölkonzessionen aufgeteilt. Man will uns von unserem Land vertreiben. Deshalb sind in der Vergangenheit Zehntausende Tuareg nach Libyen, Burkina Faso und Algerien geflohen.

bedrohte Völker: Andere Tuareg haben "ihr Land" immer wieder verteidigt?

Aboubaker Akhaty: Weil sie dazu provoziert worden sind. Wir Tuareg glauben nicht an Waffen. Aber es gibt keinen Dialog mit den Regierungen. Die Regierungen haben viele Friedensabkommen unterzeichnet, sich aber nie an diese gehalten. Eigentlich wollen sie uns loswerden. Als die Franzosen nach der Unabhängigkeit Malis gegangen sind, hat sich die Regierung alles angeeignet. Unter der marxistischen Politik wurde alles verstaatlicht: das Land, das Vieh, alles. Daraufhin begannen die Konflikte.

bedrohte Völker: Mitte der 1990er Jahre wurden Friedensabkommen abgeschlossen, in denen die Rückkehr der Tuareg-Flüchtlinge vereinbart wird. Sind sie wieder zurück?

Aboubaker Akhaty: Nein. Die Regierungen wollen sie eigentlich nicht. Sie haben zwar die Abkommen unterschrieben, aber sie tun nichts. Die Häuser der geflohenen Tuareg sind zerstört, ihr Vieh getötet – wohin sollen sie zurückkehren? Aber Algerien trifft auch eine Teilschuld. Es überwachte die Friedensverhandlungen, übt aber keinen Druck auf die Regierungen aus. In Libyen bekommen viele Tuareg-Flüchtlinge eine Ausbildung, aber nicht die Staatsbürgerschaft. Sobald ihre Ausbildung abgeschlossen ist, müssen sie das Land verlassen. Aber wohin? Mali oder Niger wollen sie nicht. Sie sind staatenlos, haben keine Papiere, keine Rechte. Sie existieren praktisch nicht. Und es kommen noch immer Tag für Tag neue Flüchtlinge nach Libyen.

bedrohte Völker: Wieviele Tuareg-Flüchtlinge gibt es in den Flüchtlingslagern in Libyen?

Aboubaker Akhaty: Wir schätzen mindestens 10.000 Familien. Im Durchschnitt zählt eine Familie sechs Personen, das heißt mindestens 60.000 Flüchtlinge. Aber in Libyen haben sie wenigstens ein Recht zu leben, in Mali und Niger haben sie das nicht.

bedrohte Völker: Gibt es Konflikte innerhalb der Tuareg?

Aboubaker Akhaty: Ja, natürlich. Aber eine große Rolle dabei spielten in den letzten Jahren auch wieder die Regierungen. Sie versuchen Konflikte zwischen den Tuareg zu schüren, um ihre eigene Machtposition zu festigen. Aber so etwas passiert ja überall. Die Regierung Malis gab 1994 einer Art Miliz aus Nicht-Tuareg namens Ganda Koi Waffen, um die Tuareg umzubringen. Sie allein töteten 50.000 Tuareg. Die Ganda Koi waren Farmer, im Prinzip Nachbarn der Tuareg. Aber irgendwann hörten sie wieder damit auf.

bedrohte Völker: Ist der Tuareg-Konflikt ein ethnischer Konflikt?#

Aboubaker Akhaty: Nein, dies ist kein rein ethnischer Konflikt. Denn wie ich schon sagte, warum hat Burkina Faso zum Beispiel noch nie Probleme mit den Tuareg gehabt? Dort hat man nicht versucht, die Tuareg zu töten. Dort respektieren alle den Staat. Aber in Niger und Mali werden wir gewaltsam unterdrückt. Deshalb sind so viele Tuareg speziell nach Burkina Faso geflüchtet. Dort ist es auch leichter, die Staatsbürgerschaft zu bekommen. Aber das ist der Beweis, dass wir nicht rassistisch sind. Uns geht es nur um unsere Rechte.

bedrohte Völker: Glauben Sie, dass es eine Lösung für den Tuareg-Konflikt gibt?

Aboubaker Akhaty: Eigentlich ist es ganz einfach. Wir verlangen, dass wir gemäß dem Völkerrecht behandelt und in den Staat mit einbezogen werden. Aber wenn der Staat unsere Kultur und unser Recht auf unsere Kultur nicht anerkennt, wie sollen wir uns dann in den Staat integrieren? Wir brauchen kein Öl, wir haben Jahrhunderte ohne Öl gelebt. Der Konflikt ist schon viel älter als die Entdeckung von Öl auf unserem Gebiet. Es geht um unser Volk, das ausgelöscht werden soll. Die Nicht-Tuareg in Mali und Niger sind seit Jahrhunderten unsere Nachbarn, wir teilen viele Werte und Gemeinsamkeiten. Sobald uns unsere Rechte in Mali und Niger zugestanden werden, werden die Konflikte aufhören. Der Konflikt wurde durch die Bildung von Nationalstaaten heraufbeschworen. Wenn die Staaten für alle ethnischen Gruppen offen wären, hätten wir Tuareg keine Einwände mehr.

bedrohte Völker: Meinen Sie, dass es in der Bevölkerung Malis und Nigers Rassismus gegen die Tuareg gibt?

Aboubaker Akhaty: Das ist hauptsächlich durch die Regierungen eskaliert. Ich meine, eigentlich gäbe es kaum Probleme. Aber die Regierungen verfügen über die Medien, die Armee, die Sicherheitsleute, die Polizei, die Verwaltung. All diese Einrichtungen arbeiten gegen die Tuareg. Wären diese Mechanismen nicht vorhanden, gäbe es nicht so viele Vorurteile gegen die Tuareg. Wo bekommen wir denn unser Essen her? Von den Farmern. In den nordafrikanischen Städten sind unsere Märkte. Wir hatten gute Beziehungen zu unseren Nachbarn, aber diese Verbindungen wurden durch die Regierungen zerstört. Ich bin aber sicher, dass diese Verbindungen reparabel sind. Mali und Niger wollen die Wüste "säubern". Sie wollen die Tuareg loswerden. Seit nunmehr fast 50 Jahren. Sie behaupten Mali und Niger seien nicht unsere angestammten Gebiete.

bedrohte Völker: Worin sehen Sie derzeit die größten Gefahren des Tuareg-Konflikts?

Aboubaker Akhaty: Es ist wichtig, dass die Regierungen in Mali und Niger nicht die gleichen Probleme bekommen wie Nigeria und Darfur. Die Tuareg werden nicht zuschauen, wie Öl-Pipelines von der Wüste zum Mittelmeer oder Atlantik gebaut werden, während sie noch in Zelten wohnen und ihnen das Ausleben ihrer Kultur vorenthalten wird. Wie kann man tausende Kilometer Öl-Pipelines beschützen? All die Firmen, die jetzt in diese Länder kommen, sollten dies bedenken. Es gibt internationale Gesetze, die verbieten, dass sie in unsere Gebiete kommen, die Ressourcen ausbeuten und unsere Leute töten. Das erste, das Mali und Niger tun werden, wenn sie Geld bekommen, ist Waffen kaufen, um die Tuareg umzubringen. Natürlich werden sie behaupten, dass sie all das tun, um die Sicherheit der Firmen usw. zu gewährleisten. Seit 1960 wurden bereits Hunderttausende Tuareg getötet.

bedrohte Völker: Gibt es noch Tuareg, die im klassisch nomadischen Sinn leben?

Aboubaker Akhaty: Nein, das klassische Nomadentum gibt es nicht mehr, denn die Tuareg werden von ihrem Land vertrieben. Es gibt noch vereinzelte Nomaden, aber sie verschwinden langsam. Aber das Nomadentum war keine Besonderheit unserer Kultur, sondern eine naturgemäße Notwendigkeit zum Überleben. Wir sind ein pastorales Volk. Wir hatten Vieh, das Futter brauchte. Und die Menschen lebten vom Vieh. In der Wüste muss man lange Wege auf der Suche nach Futter zurücklegen.

bedrohte Völker: Die Tuareg betrachten sich als "Beschützer der Sahara". Bemerken Sie bereits Auswirkungen des Klimawandels oder der ausgedehnten Ressourcenförderung auf die Wüste?

Aboubaker Akhaty: Ja, in den letzten Jahren gab es immer öfter Dürreperioden. Früher gab es alle 20 bis 30 Jahre eine Dürre, heute aller vier bis fünf. Es gibt deutlich weniger Regen. Auch die Winde sind stärker geworden. Aber ich bin auch der Meinung, dass man sich nicht nur auf das Öl der Sahara stürzen, sondern auch die riesige Sonnenenergie auffangen sollte. Aber die meisten Menschen kennen die Wüste nicht wirklich. Wir Tuareg glauben, dass man nur in der Wüste sein eigenes Ich finden kann. Wenn du im Sommer auf einer Sanddüne liegst, brauchst du keine Decke, Matratze oder sonst irgendetwas. Du kannst so schlafen und zu den Sternen aufschauen. Es hat etwas Romantisches. Niemand außer den Tuareg kennt dieses Gefühl. Deshalb betrachten wir die Wüste, diesen ruhigen Ort, als Geschenk Gottes. Wir möchten diesen Ort behalten. Wir möchten keine Kämpfe. Ein Tuareg-Sprichwort besagt, dass Wasser den Körper, aber die Wüste die Seele wäscht.

bedrohte Völker: Inwiefern sind Tuareg vom Sahara-Tourismus betroffen?

Aboubaker Akhaty: Eine unserer Funktionen heutzutage ist Touristen anzuziehen. Mali und Niger benutzen uns dafür. Aber wir haben nichts davon. Nur die Regierungen verdienen daran.