17.03.2006

Die Tradition der Flexibilität

Ein Interview mit Brian Donahoe vom Max-Planck-Institut für Anthropologie, Halle

aus: bedrohte völker_pogrom 235, 1/2006
bedrohte Völker: Die Bodenschätze auf dem Land von indigenen Gruppen werden seit Jahren ausgebeutet. Dies führt zu Umweltzerstörung und schweren Problemen für die Indigenen. Doch werden die Konzerne sich je zurückziehen?

Brian Donahoe: Es ist unrealistisch zu denken, dass sich die Konzerne von der Öl- und Gasförderung verabschieden. Die Naturressourcen sind zu wichtig für Russlands Wirtschaft. Zudem hängen viele Industriestaaten von den russischen Vorkommen ab. Deutschland bekommt ein Drittel seines Öls und die Hälfte des Gases aus Westsibirien. Es gibt eine Pipeline von der Yamal-Halbinsel direkt nach Frankfurt an der Oder. Aus indigener Sicht ist es aber auch nicht wünschenswert, dass die Förderung der Bodenschätze eingestellt wird. Wenn die Erlöse gerecht verteilt werden, könnten sie die notwendige Grundlage für die Stabilisierung indigener Gemeinschaften bilden.

bedrohte Völker: Ist das nicht eine Illusion?

Brian Donahoe: Ich kenne einige Beispiele von gelungener Kooperation zwischen Indigenen und Unternehmen. Das beste Beispiel ist vielleicht das der Nenzen, die auf der Yamal-Halbinsel Rentiere züchten. Seit den 1970er Jahren wird Öl und Gas in den südlichen Taiga-Regionen der Yamal-Halbinsel gefördert. Dies hatte schwere Umweltschäden zur Folge. Die Rentierzüchter waren davon jedoch nicht betroffen, da sie in den Tundra-Regionen des Nordens der Halbinsel leben. Seit einiger Zeit jedoch wird auch in der Tundra Öl gefördert. Dies kann für die Rentierzüchter eine Gefahr, aber auch eine Chance sein. Es gibt mindestens einen Fall einer fruchtbaren Symbiose zwischen den Rentierzüchtern und den Ölarbeitern. Die Rentierzüchter verkaufen Fleisch, Rentierhäute und Produkte aus Rentierleder an die Ölarbeiter. Diese geben ihnen im Gegenzug Grundnahrungsmittel und stellen ihnen wichtige Dienste zur Verfügung. Derzeit versucht man, die für beide Seiten nützliche Beziehung auf eine juristische Basis zu stellen.

Auch in der Komi-Republik gibt es neuerdings Schritte hin zu Verhandlungen zwischen Indigenen und Konzernen. Bei den Tofa in Tofalaria, im Südwesten des Bezirks Irkutsk, hält nur die Gold schürfende DELTA-Gruppe die Rentierzucht überhaupt am Leben. Sie kaufte ein früher staatliches Fortwirtschaftsunternehmen, welches nun Felle kauft und verkauft. Das Unternehmen hat ein großes Interesse an der Jagd. Für den Transport von Fellen brauchen die Jäger Rentiere, deshalb zahlt das Unternehmen den Gehalt des letzen Vollzeit-Rentierzüchters der Tofa.

Anders ist es bei den Tozhu, die im nordöstlichen Quadranten der Republik Tuwa leben. Die Goldminen haben sich als sehr wichtig für das Überleben der Tozhu erwiesen. Die Minenarbeiter sind ein wichtiger Handelspartner für die Rentierzüchter der Tozhu. Die Züchter tauschen Fisch, Wildfleisch, Geweihe, Beere und Nüsse gegen Nahrungsmittel wie Mehl, Zucker, Tee und Öl. In Fahrzeugen der Minenbetreiber werden sie zudem kostenlos in die Hauptstadt mitgenommen. Bei den Minenarbeitern können sie kostenlos in der Cafeteria essen. Ein privater Rentierzüchter hatte sogar mit einer der Minen einen Vertrag darüber, dass die Mine sein Land im Sommer als Weideland für Kühe nutzen kann und er dafür Mehl bekommt.

bedrohte Völker: Mit welchen Strategien können Indigene in der Beziehung zu Konzernen Erfolge erzielen?

Brian Donahoe: Die erfolgreichste Strategie ist bislang die, auf der Basis des russischen Rechts so genannte "Obschinas" zu etablieren, indigene Gemeinschaften, die als Körperschaften mit den Öl- und Gasunternehmen verhandeln können. Einige dieser Obschinas waren recht effizient, viele jedoch haben nicht überlebt. Kurzfristig müssen indigene Gemeinschaften internationale Aufmerksamkeit für ihre Anliegen erregen. Als erstes Beispiel fällt mir diesbezüglich die geplante Öl- und Gasförderung auf Sachalin ein. Auf lange Sicht sollten sich die Indigenen sowohl als einzelne Gruppen als auch als Teile eines weltweiten indigenen Netzwerks organisieren. Als einzelne Gruppen sollten sie verlässliche Strukturen der Selbstverwaltung aufbauen. Dies sollten die "Obschinas" tun. Auch auf Staatsebene müssen die Indigenen in Russland eine Vertretung organisieren. Die verschiedenen Samiparlamente in Skandinavien können hier gute Beispiele sein. All dies setzt voraus, dass es unter den Indigenen Gemeinschaften mit gleichen Interessen gibt. Das ist oft nicht der Fall. Ich denke auch, dass die Indigenen das russische Rechtssystem besser nutzen sollten, dies setzt aber einen gewissen Grad an juristischem Sachverstand voraus, der auch oft fehlt. Zusätzlich haben die Leute kein Vertrauen in das Rechtssystem, wie es heute existiert, deshalb wollen sie es nicht als Werkzeug benutzen.

bedrohte Völker: Wie können europäische NGOs die Indigenen in Russland unterstützen?

Brian Donahoe: Das Wichtigste ist, dass die europäischen Organisationen sich von zwei Vorstellungen verabschieden. Zum einen müssen sie sich immer den Beschränkungen des Konzepts von jeglicher "Tradition" gewahr sein. "Tradition" romantisiert die Lebenswelt der Indigenen, zusätzlich kann diese Vorstellung Lebensweisen zementieren, die die Indigenen selbst nicht mehr wollen, wie zum Beispiel die Subsistenzwirtschaft. Wir als Außenseiter müssen verstehen, dass die wirkliche "Tradition" der indigenen Gruppen ihre Flexibilität ist, einschließlich der Fähigkeit, moderne Techniken anzupassen. Die zweite Vorstellung, von der wir uns verabschieden sollten, ist jene, dass die indigenen Gruppen mit einer gemeinsamen Stimme sprechen. Dies führt zu Problemen, wenn NGOs mit nur wenigen Vertretern der Indigenen sprechen und davon ausgehen, dass sie die Meinung der gesamten Gruppe hören. Unverzichtbar sind für die Indigenen der Zugang zu Information sowie Projekte zur Stärkung und Professionalisierung mit dem Ziel, dass sie ihre eigenen Entscheidungen treffen können, selbst wenn diese nicht traditionelle Aktivitäten betreffen, wie die Zusammenarbeit mit Konzernen. Ein erster Schritt müsste das Kennenlernen der vielen unterschiedlichen Situationen sein, in denen Indigene in Russland leben. Zum zweiten werden die NGOs besonders dann erfolgreich sein, wenn sie direkt in den Regionen Projekte durchführen und nicht den Umweg über in Moskau angesiedelte Organisationen nehmen. Natürlich gibt es in Moskau gute Organisationen, wie zum Beispiel RAIPON. Sie haben aber einfach nicht die Ressourcen, um alle Projekte im riesigen Sibirien durchzuführen.

bedrohte Völker: Welche Prioritäten sollte man setzen, welche Maßnahmen sind besonders dringend?

Brian Donahoe: Eines der dringendsten Bedürfnisse der russischen Indigenen sind juristische Expertisen – besonders jetzt, wo die Regierung einen neuen Land- und Waldkodex plant, der die akute Gefahr der Privatisierung des Landes der Indigenen birgt. Indigene brauchen Unterstützung, damit sie das russische wie auch das internationale Recht einsetzen können, um einen juristischen Status für ihr Gewohnheitsrecht zu erlangen, wie das bereits in vielen anderen Ländern der Fall ist. Indigene brauchen die gesamte Palette an Ausbildungsangeboten: Man braucht indigene Anwälte, Umweltexperten, Geschäftsleute, Tierärzte, aber auch Computerfachleute, damit sie das Internet als Informationsquelle und Austauschbörse nutzen können. Wichtig ist es zudem, dass europäische NGOs als "Watchdogs", als Beobachter fungieren. Negative Meldungen von internationalen Organisationen sind ein Instrument, das die Aktivitäten der russischen Regierung – und vielleicht noch stärker jene der internationalen Investoren – beeinflussen kann.

bedrohte Völker: Man könnte zum Schluss kommen, dass sich Indigene von Unternehmen kaufen lassen...

Brian Donahoe: Was wurde verkauft? Natürlich gibt es immer wieder die Problematik, dass sich Einzelpersonen von Öl- oder Gasunternehmen als Sprecher kooptieren und zur persönlichen Bereicherung entlohnen lassen. Es besteht auch die Möglichkeit und häufig die Notwendigkeit, dass indigene Gruppen ihr Land verkaufen müssen, um ihr Überleben zu sichern, auch wenn das gegen ihren Willen geht – da könnte man dann sagen, diese Gruppen wurden von den Unternehmen über den Tisch gezogen. Dieser Vorwurf kommt aber nicht von den Indigenen, sondern eher von Unbeteiligten aus Europa, die die mit der Industrialisierung einhergehende Zerstörung kritisieren und eine etwas naive und romantische Vorstellung haben, dass die Indigenen ihre Ursprünglichkeit und die Traditionen ihres Handels bewahren müssen. Der Lebensstandard, den wir hier genießen und an den wir uns gewöhnt haben, kam großtenteils durch den Abbau von Bodenschätzen zu Stande. Die Indigenen sind gegenüber den materiellen Bequemlichkeiten nicht gleichgültig. Ich glaube, es ist ihr Menschenrecht, die Ressourcen auf ihrem angestammten Land zu nutzen, um ihren Lebensstandard zu heben, wenn sie es so wollen.

bedrohte Völker: Und dadurch die Grundlagen der Ressourcen zerstören.

Brian Donaho: Natürlich ist das möglich. Aber selbst in solchen Fällen ist ein Verbot nicht die Lösung. Das Beste, was die internationale Gemeinschaft tun kann, ist Informationen und Expertisen zur Verfügung zu stellen, um sicher zu gehen, dass die Indigenen sich der Gefahren ihres Tuns bewusst sind und Erfahrungen aus anderen Regionen nutzen können. Die internationale Gemeinschaft kann auch bei der Entwicklung von Alternativen hilfreich sein, die von den Indigenen angenommen oder aber abgelehnt werden können.

bedrohte Völker: Indigene Gruppen in anderen Ländern – wie die nordamerikanischen Indianer mit ihrer Spielbankbranche – haben sich von der traditionellen Naturnutzung abgewandt und anderen Einnahmequellen zugewandt. Sehen Sie ähnliche Möglichkeiten für die Indigenen in Russland?

Brian Donahoe: Die USA, wo ganze Indianergruppen von den Erträgen aus Casinos abhängig sind, sind sicher keine Lösung. Dennoch glaube ich, dass es solche Möglichkeiten gibt. Ich denke dabei eher an Modelle wie den Landrechtsvertrag in Alaska oder das Autonomieabkommen für Nunavut in Kanada. Beide Verträge erkennen das Recht der indigenen Gruppen auf die Ressourcen unter der Erde an. Die Schwierigkeit dabei ist es, die Position der Indigenen so zu stärken, dass sie den Unternehmen auf gleicher Augenhöhe begegnen können. Förderkonzessionen müssen von den Gruppen selbst verhandelt werden und sollten neben einer guten Gewinnbeteiligung und Investitionen in die Gemeinden sicherstellen, dass ein angemessener Teil der Arbeitsstellen von Indigenen besetzt wird und dass das Land den Bewohnern etwa im gleichen Zustand zurück gegeben wird, wie es die Unternehmen vor der Förderung übernommen haben. Diese Methode hat zwar ihre Probleme, hat sich aber in vielen Fällen als erfolgreich erwiesen. Sie hat zu einer Erneuerung der ethnischen Identifikation geführt sowie dazu, dass ausreichend Finanzen für wichtige Projekte im Bereich Sprache und Kultur vorhanden sind.

bedrohte Völker: Ist auch der Tourismus eine Möglichkeit für die wirtschaftliche Entwicklung?

Brian Donahoe: Ja: Ökotourismus, Kulturtourismus, Extremtourismus. Aber auch hier müssen die Indigenen selbst die Kontrolle über die Anzahl der Touristen, ihre jeweiligen Aktivitäten und die Verwendung der Gewinne aus diesem Geschäft haben. Derzeit ist das noch nicht der Fall. Schließlich sehe ich noch die Möglichkeit, kleine Geschäftsideen zu verwirklichen. Zum Beispiel könnten medizinische Produkte, Kräutertees etc. gut zu verkaufen sein.

Diese Beispiele von selbst-organisierten Aktivitäten, die sicherlich auch Schwierigkeiten aufweisen können, werden wahrscheinlich der gangbarste Weg sein, um die Kultur der Indigenen zu bewahren. Eine besondere Herausforderung wird es sein, diese Art von Arrangements zu institutionalisieren und gesetzlich festzuschreiben, ohne die Flexibilität, die das Markenzeichen aller "traditionellen" Systeme ist, zu behindern. Die indigenen Gruppen müssen so viel Kontrolle über die Förderung ihrer Bodenschätze bekommen, dass sie sie stoppen können, wenn sie das Gefühl haben, dass irreparabler Schaden angerichtet wird an ihrer Umwelt und dass ihr kulturelles Überleben in Gefahr ist.

Das Interview führte die Europareferentin der GfbV, Sarah Reinke