14.06.2005

Die Situation der Mapuche in Chile

Der Begriff Mapuche bedeutet "Menschen der Erde". Die Mapuche sind das größte indigene Volk in Chile. Ihr ursprüngliches Territorium erstreckte sich von der Maule-Region bis zur Isla Grande von Chiloé. Nach dem Zensus von 1992 identifizierten sich 928.060 Personen über 14 Jahre als Mapuche. Es leben jedoch nur noch ca. 15 % von ihnen auf dem verbliebenen historischen Territorium; die meisten Mapuche (rund 60 %) leben heute in Städten, davon drei Viertel in der Hauptstadt Santiago (dort vor allem in den ärmeren Stadtvierteln Cerro Navia, Pudahuel, Peñalolen, La Pintana, Maipu und La Florida). Da nur über 14 Jahre alte Personen befragt wurden, kann davon ausgegangen werden, dass die tatsächliche Anzahl der Mapuche höher liegt.

Landknappheit ist einer der wesentlichen Gründe, warum die Mapuche ihre Heimatorte verlassen. Sie wurde hauptsächlich hervorgerufen durch die Kolonisierung durch Europa, betrügerische Besetzung, gefälschte Verträge, wirtschaftliche Überausbeutung der Naturressourcen und in jüngerer Zeit durch Dekrete der Pinochet-Diktatur (Nr. 2568 und 2750), die die Privatisierung der Mapuche-Territorien erzwangen und zur Auflösung der meisten Gemeinschaften führten. Bis heute gab es dafür keinerlei Entschädigung.

Indizien einer internen, strukturell bedingten Unterentwicklung

Die in den Städten lebenden Mapuche sehen sich einer Reihe von Stereotypen seitens der nationalen Gesellschaft ausgesetzt. Die Nichtanerkennung als Volk verhindert automatisch jegliche Möglichkeit, autonom über Fragen zu entscheiden, die indigene Völker betreffen.

Seit Jahrzehnten versuchen die Regierungen, ihnen die kulturellen Werte des Einheitsstaates aufzuzwingen, u.a. die Sprache Mapudungun zum Verschwinden zu bringen und ihre Kultur zu entwerten, indem sie keinerlei Rolle bei Entscheidungen spielt. Die Mapuche-Organisationen haben keine eigenen Räumlichkeiten, die den Mapuche erlauben würden, sich zu versammeln sowie ein Wir-Gefühl im Kontext ihrer traditionellen Kultur und als urbane Mapuche-Gemeinschaft zu entwickeln. Das soziale, kulturelle und religiöse Gedächtnis wird oral weitergegeben, d.h. durch Dialog, gemeinsames Leben und Lernen der Generationen.

Die von den Behörden zugelassenen religiösenZeremonien werden von der Polizei überwacht, angeblich um mögliche Störungen zu vermeiden. Die Art der Überwachung und des Vorgehens (Durchsuchung der Mapuche auf Waffen) ist erniedrigend. Im öffentlichen Diskurs werden ihre Traditionen und Riten als "Teufelszeug" bezeichnet, die Mapuche als "Heiden" diskriminiert.

Die Missachtung einer eigenständigen Entwicklung reicht tief in die chilenische Gesellschaft. Sie ist fast schon Bestandteil der herrschenden Kultur und reproduziert sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Institutionen: Im Ausbildungssystem, Gesundheitswesen, in der Justiz u.a.m. So gibt es z. B. für Mapuche-Kinder keine Möglichkeit, in der Schule ihre Sprache zu erlernen – von zweisprachigen Ausbildungssystemen ganz zu schweigen - und mehr über ihre eigene Kultur, ihre Traditionen und Werte zu erfahren. Die staatlichen Bildungsprogramme zeichnen im Gegenteil ein sehr unrühmliches Bild der Mapuche, die ähnlich wie die nordamerikanischen Indianer als unterwürfige und alkoholabhängige Gruppe dargestellt werden. Die Analphabetenrate unter den Mapuche erreicht 10%, während der nationale Durchschnitt bei 4% liegt.

In Santiago gibt es kein interkulturelles Ausbildungssystem, keine Bibliothek, kein Archiv und keinerlei didaktisches Material, das der kulturellen Identität angemessen wäre und eigenständige Aufgabenstellungen entwickeln ließe. Es fehlen Forschungen, die auf die Rückgewinnung der Traditionen zielen. Die Sozialarbeit berücksichtigt nicht angemessen die sozialen, psychischen und kulturellen Charakteristika der Mapuche. Obwohl Art. 28 der Ley Indígena für die Gebiete mit hoher Mapuche-Bevölkerungsdichte TV- und Radioprogramme in der eigenen Sprache vorschreibt - immerhin leben in Santiago mehr als 400.000 Mapuche – gibt es davon in Wirklichkeit nichts. Es verwundert daher nicht, daß die Jugendlichen vermeiden, sich als Angehörige eines indigenen Volkes zu identifizieren, weil Sie sich ihrer Identität schämen.

Das Gesundheitswesen ignoriert das traditionelle Gesundheitskonzept der Mapuche-Kultur, das auf der Kräutermedizin und dem ganzheitlichen (holistischen) Ansatz beruht; im Gegensatz zu anderen südamerikanischen Ländern wie z. B. Kolumbien gibt es keinen gesetzlichen Anspruch auf eine kulturell angemessene Gesundheitsversorgung. Es gibt nicht einmal Gesundheitszentren, die Mapuche-Patienten in ihrer Sprache Mapudungun betreuen.

Im Justizbereich gibt es weder bei Gerichten noch bei der Staatsanwaltschaft eine Möglichkeit, als Zeuge in Mapudungun auszusagen; selbst nicht in Gebieten mit hoher Siedlungsdichte seitens der Mapuche. Ein institutioneller Zugang zur Justiz in speziell indigenen Angelegenheiten ist nur über CONADI vorgesehen, dort allerdings beschränkt auf Landrechtsfragen und insofern auf ländliche Gebiete und die klassische Vorstellung, wer Mapuche sei. Es gibt kein ähnliches Verfahren, das andere, kulturspezifische Probleme wie z. B. Erbschaftsstreitigkeiten aus indigener Perspektive behandelt.

Das Jurastudium kennt keinen Lehrplan, der auf Mapuche-Normen beruhende Gewohnheitsrechte lehrt. Natürlich gibt es auch keine Autonomie von lokalen Gerichten, die auf der Grundlage solcher Normen entscheiden könnten. Im Vergleich mit Ländern wie Kolumbien existiert in Chile auch keine Abteilung bei der Ombudsstelle, die über indigene Rechte wacht und es so ermöglichen könnte, eigene Systeme zu entwickeln.

Die Gesellschaft für bedrohte Völker ersucht daher die UN-Menschenrechtskommission, die chilenische Regierung dazu aufzufordern, die Mapuche endlich als Ureinwohnervolk in Chile anzuerkennen. Der Artikel 29 der Ley Indígena (Bewahrung des historischen Erbes indigener Kulturen in Chile) muss auch für die Erhaltung der Mapuche-Kultur in Städten Anwendung finden, damit sie ihre Rechte als indigenes Volk durchsetzen und ihre Identität, ihre Kultur und ihre Traditionen vor dem Untergang bewahren können. Schließlich muss die während der Pinochet-Diktatur erzwungene Privatisieren der Mapuche-Territorien rückgängig gemacht und Wiedergutmachung für die zwischenzeitlich entgangenen Nutzungsmöglichkeiten geleistet werden.