14.06.2005

Die Seattle Deklaration der Indigenen Völker

verabschiedet aus Anlass der Dritten Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation WTO (30. November - 3. Dezember 1999)

Wir, die Indigenen Völker aus verschiedenen Gegenden der Welt, sind nach Seattle gekommen, um unserer großen Sorge über die Art und Weise Ausdruck zu verleihen, wie die Welthandelsorganisation (World Trade Organization / WTO) Mutter Erde und die kulturelle wie biologische Vielfalt zerstört, deren Teil wir sind.

Liberalisierung des Handels und auf den Export orientierte Entwicklung, die vorherrschenden Prinzipien und Verfahrensweise, die von der WTO gefördert werden, wirken sich verheerend auf das Leben Indigener Völker aus. Unser angestammtes Recht auf Selbstbestimmung, unsere Souveränität als Nationen sowie Verträge und andere Vereinbarungen, die zwischen Indigenen Völkern und Nationen und anderen Nationalstaaten ausgehandelt wurden, werden von den meisten WTO - Vereinbarungen unterlaufen. Die unverhältnismäßig großen Auswirkungen dieser Vereinbarungen auf unsere Gemeinschaften, ob durch Umweltzerstörung oder Militarisierung und Gewalt, von denen Entwicklungsprojekte häufig begleitet werden, sind schwerwiegend und verlangen sofortige Aufmerksamkeit.

Die WTO - Vereinbarung zu Landwirtschaft (Agreement on Agriculture / AOA) setzt sich ein für Exportwettbewerb und Liberalisierung der Importe. Sie ermöglichte, dass billige landwirtschaftliche Produkte in unsere Gemeinschaften gelangten. Dadurch werden ökologisch sinnvolle und naturerhaltende Anbaumethoden Indigener Völker zerstört. Die gesicherte Nahrungsversorgung und die Produktion traditioneller Nahrungsmittel sind ernsthaft in Gefahr. Da die traditionellen Nahrungsmittel immer seltener werden, gleichzeitig immer mehr minderwertige Nahrung unsere Gemeinschaften überschwemmt, haben Fälle von Diabetes, Krebs und Bluthochdruck unter Indigenen Völkern deutlich zugenommen.

Bäuerliche Kleinbetriebe werden durch die kommerzielle Plantagenwirtschaft verdrängt, wodurch sich unser angestammtes Land zunehmend in den Händen weniger Agrarbetriebe und Großgrundbesitzer konzentriert. Unzählige Menschen aus unseren Gemeinschaften wurden dadurch bereits entwurzelt und sind in nahegelegene Städte abgewandert, wo sie nun die Schicht der Wohnungs- und Erwerbslosen bilden.

Die WTO - Vereinbarung zu Produkten des Waldes setzt sich ein für den freien Handel mit aus dem Wald gewonnenen Erzeugnissen. Durch Aufhebung der Zölle in den entwickelten Ländern zum Jahr 2000 und in den Entwicklungsländern bis zum Jahr 2003 wird sie zur Entwaldung vieler Ökosysteme führen, in denen Indigene Völker leben. Die Bergbaugesetze vieler Länder werden gerade verändert, um ausländischen Bergbaugesellschaften freien Zutritt zu verschaffen und ihnen zu ermöglichen, Abbaugebiete zu kaufen und zu besitzen. Damit können sie nach Gutdünken Indigene Völker aus ihrem angestammten Land vertreiben. Solche kommerziellen, in großem Stil betriebenen Unternehmungen zum Erzabbau und zur Erdölförderung schädigen unser Land und das empfindliche Ökosystem unablässig; sie verschmutzen den Boden, das Wasser und die Luft in unseren Gemeinschaften.

Die Beschlagnahmung unserer Ländereien und Rohstoffe und die aggressive Förderung der am Konsum orientierten und individualistischen westlichen Kultur zerstören weiterhin unsere traditionellen Lebensweisen und Kulturen. Dies führt nicht nur zu Umweltzerstörung, sondern auch zu Krankheiten, Entfremdung und ausgeprägtem Stress, der sich in dem großen Ausmaß von Alkoholismus und Selbsttötungen zeigt.

Der Raub und die Patentierung unserer biogenetischen Ressourcen ist durch die WTO - Vereinbarung Handelsbezogene Aspekte intellektueller Besitzrechte (Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights / TRIPs) möglich geworden. Einige Pflanzen, die von Indigenen Völkern entdeckt, kultiviert und als Nahrung, für Heilzwecke und für heilige Rituale benutzt wurden, sind in den USA, in Japan und in Europa bereits patentiert worden. Zu diesen gehören unter anderem Ayahuasca, Quinoa und Sangre de Drago aus den Wäldern Südamerikas, Kava aus dem pazifischen Raum, Turmeric (Kurkuma) und Bittermelone aus Asien. Unser Zugang und unsere Kontrolle über unsere biologische Vielfalt sowie unsere Kontrolle über unser traditionelles Wissen und unser intellektuelles Erbe werden durch die TRIPs - Vereinbarung bedroht.

Artikel 27.3b der TRIPs - Vereinbarung erlaubt die Patentierung von Lebensformen und unterscheidet dabei - künstlich - in Pflanzen, Tiere und Mikro - Organismen. Ebenso absurd ist die Unterscheidung zwischen "dem Wesen nach biologisch", "nicht biologisch" und "mikrobiologisch". Unseres Erachtens handelt es sich dabei immer um Lebensformen und Leben erschaffende Prozesse, die heilig sind und nicht zum Gegenstand privaten Besitztums werden sollten.

Die Grundsatzvereinbarung zu Dienstleistungen (General Agreement of Services / GATS) schließlich setzt sich für eine Liberalisierung von Investitionen und Dienstleistungen ein. Sie verstärkt die Beherrschung und das Monopol ausländischer Wirtschaftsunternehmen in strategisch wichtigen Bereichen der Wirtschaft. Weltbank und Weltwährungsfond legen die Voraussetzungen für die Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung in Ländern fest, die sich in der Schuldenfalle gefangen haben. Diese Bedingungen sind von der WTO zusätzlich verstärkt worden.

Angesichts dieser dargestellten negativen Folgen der WTO - Vereinbarungen legen wir, die Indigenen Völker, hiermit die folgenden Forderungen vor:

Wir bitten eindringlich um eine soziale und ökologische rechtliche Analyse der sich gegenseitig ergänzenden Auswirkungen dieser Vereinbarungen auf die Indigenen Völker. Indigene Völker sollten gleichberechtigte Teilnehmer sein, wenn die Kriterien und Merkmale dieser Analysen festgelegt werden, damit sie die spirituellen und kulturellen Gesichtspunkte einbringen können. Die Vereinbarungen sollten ferner hinsichtlich der Ungerechtigkeiten und Unausgewogenheiten überprüft werden, die sich nachteilig auf Indigene Völker auswirken. Wir fügen einige Vorschläge an:

Hinsichtlich der Vereinbarung zu Landwirtschaft:

     

  • Landwirtschaftliche Kleinbetriebe, die vor allem für den heimischen Verbrauch und den Handel auf lokalen Mäkten produzieren, sollten aus der Vereinbarung ausgeklammert werden.

  • Die Vereinbarung sollte die Anerkennung und den Schutz der Rechte Indigener Völker auf ihre Territorien und ihre Rohstoffe und ihr Recht, ihre naturerhaltenden Methoden in der Landwirtschaft und bei der Handhabung ihrer Rohstoffe beizubehalten absichern sowie ihr Recht auf ihre traditionelle Lebensweise.

  • Sie sollte Sicherheit bei der Versorgung mit Nahrung absichern und die Möglichkeit, dass Indigene Völker ihre traditionellen Anbauprodukte produzieren, verbrauchen und damit Handel treiben können.

     

Hinsichtlich der Liberalisierung von Dienstleistungen und Investitionen empfehlen wir:

     

  • Bergbau, kommerzieller Anbau von Monokulturen, Dammbauprojekte, Ölförderung, Umwandlung von Land in Golfplätze, Holzeinschlag und andere Maßnahmen, die das Land Indigener Völker zerstören und ihr Recht auf ihre Territorien und Rohstoffe verletzen, müssen durch die Vereinbarung gestoppt werden.

  • Das Recht Indigener Völker auf ihre traditionelle Lebensweise sowie ihre kulturellen Normen und Werte soll ebenfalls anerkannt und geschützt werden.

  • Die Liberalisierung von Dienstleistungen insbesondere im Gesundheitswesen darf nicht gestattet werden, wenn dies Indigene Völker am Zugang zu freier, kulturell angepasster und qualitativ guter Gesundheitsversorgung hindern würde.

  • Die Liberalisierung im Finanzwesen wird die Welt zu einem globalen Spielcasino machen und sollte reguliert werden.

     

Hinsichtlich der TRIPs - Vereinbarung schlagen wir vor:

     

  • Artikel 27.3b der TRIPs - Vereinbarung sollte ergänzt werden um ein kategorisches Verbot der Patentierung von Lebensformen. Es sollte unmissverständlich die Patentierung von Mikro - Organismen, Pflanzen und Tieren untersagen, einschließlich ihrer sämtlichen Bestandteile wie Gene, Genketten, Zellen, Zellstrukturen, Proteine oder Saatgut.

  • Die Vereinbarung sollte die Patentierung natürlicher biologischer und mikrobiologischer Prozesse untersagen, bei denen Pflanzen, Tiere, Mikro - Organismen und ihre Bestandteile für die Herstellung von veränderten Formen von Pflanzen, Tieren und Mikro - Organismen verwendet werden.

  • Sie sollte unabhängig von den dominierenden westlichen intellektuellen Besitzrechten die Erforschung und Entwicklung alternativer Schutzmechanismen sicher stellen. Solche Alternativen müssen die Kenntnisse, die Innovationen und die Verfahrensweisen in der Landwirtschaft, im Gesundheitswesen und der Bewahrung der biologischen Artenvielfalt schützen und auf den indigenen Methoden und Gewohnheitsrechten zum Schutz des Wissens, des kulturellen Erbes und der biologischen Ressourcen aufbauen.

  • Sie sollte sicherstellen, dass der Schutz des indigenen und traditionellen Wissens, der Innovationen und Praktiken in Übereinstimmung steht mit der Konvention über biologische Vielfalt (Convention on Biological Diversity), insbesondere mit deren Artikel 8j, 10c, 17.2 und 18.4 sowie dem Internationalen Übereinkommen zu pflanzlichen Genressourcen (International Undertaking on Plant Genetic Resources).

  • Sie sollte das Recht Indigener Völker und Bauern zulassen, ihre traditonellen Verfahrensweisen der Aufbewahrung, Aufteilung und des Austausches von Saatgut sowie der Kultivierung, Ernte und Verwendung von Medizinpflanzen auch weiterhin auszüben.

  • Sie sollte Wissenschaftlern und kommerziellen Unternehmen untersagen, sich Saatgut, Heilpflanzen und das damit zusammenhängende Wissen Indigener Völker anzueignen und Patente darauf zu erwerben. In jedem Fall sollten die Prinzipien der vorherigen sachkundigen Zustimmung und des Vetorechtes der Indigenen Völker respektiert werden.

     

Sollten die o.g. Anregungen nicht umsetzbar sein, fordern wir die Entfernung der Vereinbarungen zu Landwirtschaft, zu den Produkten des Waldes sowie der TRIPs - Vereinbarung aus den Vereinbarungen der WTO.

Wir fordern die Mitgliedsstaaten der WTO auf, erst dann eine neue Sitzungsrunde einzuberufen, wenn die Überprüfung und Berichtigung der Ausführungsbestimmungen bestehender Vereinbarungen abgeschlossen sind. Die Vorlagen bezüglich eines Vertrages zu Investitionen, Wettbewerb, erhöhter Industriezölle, Bevollmächtigung der Regierungen und der Schaffung einer Arbeitsgruppe zu Biotechnologie lehnen wir ab.

Wir bitten die WTO eindringlich, Reformen einzuleiten, damit sie zu einem demokratischen, transparenten und zuverlässigen Gremium wird. Sollte sie dies verweigern, so fordern wir die Abschaffung der WTO.

Wir bitten die Mitgliedsstaaten der WTO eindringlich, die Annahme der gegenwärtigen Fassung der UN - Deklaration der rechte Indigener Völker und die Ratifizierung der ILO - Konvention 169 seitens der UN - Generalversammlung zu befürworten.

Wir fordern alle Basisorganisationen und NGOs auf, diese "Seattle Deklaration Indigener Völker" zu unterstützen und unter ihren Mitgliedern zu verbreiten.

Wir sind der festen Überzeugung, dass die den WTO - Vereinbarungen zu Grunde liegende Philosophie und die von ihr befürworteten Prinzipien und Verfahrensweisen unseren eigenen Grundüberzeugungen, unserer Spiritualität und unserer Weltsicht, unserer Auffassung und Verfahrensweise in Entwicklungsprozessen, im Handel und im Umweltschutz widersprechen. Deshalb fordern wir die WTO heraus, ihre Prinzipien und Handlungsweisen in Richtung auf das ;odell einer "naturvertäglichen Gemeisnchaften" zu verändern und andere, von der ihren verschiedene, Weltsichten und Entwicklungsmodelle anzuerkennen und ihnen Raum zu geben.

Indigene Völker sind zweifellos am stärksten von den negativen Auswirkungen der Globalisierung und der WTO - Vereinbarungen betroffen. Wir glauben aber, dass wir tragfähige Alternativen zu den vorherrschenden Modellen von Wirtschaftswachstum und Export orientierter Entwicklung anzubieten haben. Unsere naturverträglichen Lebensweisen und Kulturen, unser traditionelles Wissen, unsere Kosmologien und Spiritualität, unsere kollektiven Werte, unser gegenseitiger Austausch, unser Respekt vor und und Verehrung für Mutter Erde sind insgesamt entscheidend für die Suche nach einer veränderten Gesellschaft, in der Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und Naturnähe sich durchsetzen werden.

Stellungnahme des Ausschuss Indigener Völker, einberufen und unetrstützt von:

     

  • Indigenous Environmental Network USA / Canada

  • Seventh Generation Fund / USA

  • International Indian Treatey Council

  • Indigenous Peoples Council on Biocolonialism

  • Abya Yala Fund

  • TEBTEBBA (Indigenous Peoples Network for Policy Research and Education)

     

am 1. Dezember 1999, Seattle (Washington State / USA)

 

Links und Kontakte

Organisationen Indigener Völker, NGOs und Einzelpersonen, die diese Stellungnahme unterzreichnen wollen, können dies mit einer E-Mail an ien@igc.org oder tebtebba@skynet.net tun.

Links zu vorhandenen Websites der Unterzeichner

Indigenous Environmental Network USA/Canada

International Indian Treaty Council

Abya Yala Fund

Linkverzeichnisse:

Links der GfbV

Links der Aktionsgruppe Indianer & Menschenrechte [früher:Big Mountain Aktionsgruppe]