22.04.2005

Die heimliche Revolution Lateinamerikas

Indigene Identität im Wandel: Vom archaischen Schattendasein zum Sinnbild sozialer Gerechtigkeit.

In Lateinamerika hat eine heimliche Revolution stattgefunden. Wer irgendwie kann, identifiziert sich als Nachfahre eines Ureinwohnervolkes. War es bis vor 15 Jahren noch verpönt, mit Nachteilen oder gar mit Verfolgung verbunden, sich als "Indígena" oder "Indio" zu erkennen zu geben, gehört es heute eher zum guten Ton. Ein Sub-Comandante Marcos hätte eine Generation früher nicht im Traum daran gedacht, eine indigene Bewegung zur Grundlage und zum Bezugspunkt für die gesellschaftliche Befreiung aus alten Zwängen zu nehmen. Wie Díaz-Polanco noch in den 1980er Jahren, ein Theoretiker der mexikanischen Revolution, hätte er die Nachfahren der Ureinwohner davon zu überzeugen versucht, sich als Kleinbauern zu mobilisieren und sich entsprechend anzupassen.

Galten verleumdeten Autoren wie Vargas Llosa indigene Lebensentwürfe noch als archaisch und antimodern, werden diese heutzutage zu alternativen Gesellschaftsentwürfen und Weltbürgertum im Kontrast zur neoliberalen Globalisierung. Staaten, die – wie Peru – momentan keine öffentlich wahrnehmbare Indigenenbewegung aufweisen, gelten als rückwärts gewandt oder bereits als rassistisch. Die Abwesenheit einer öffentlich in Erscheinung tretenden indigenen Bewegung könne nur damit zusammenhängen, dass ein solcher Staat in der Vergangenheit eine besonders ruchbare Assimilationspolitik betrieben haben musste. Die dortigen Nachfahren der Ureinwohner wiederum werden als nicht auf der Höhe des indigenen Bewusstseins oder als überläufer zu den Mestizen und Opportunisten wahrgenommen. Die Umwälzung scheint radikal und vollkommen.

Nun haben sich tatsächlich einige Dinge verändert. Im Zuge der 500-Jahr-Feiern anlässlich der Landung von Kolumbus in Abya Yala (indigener Name für Amerika) sahen sich viele Regierungen einem enormen Rechtfertigungsdruck gegenüber den Nachfahren der Ureinwohner ausgesetzt und formulierten zumindest hehre Ansprüche an die zukünftige multikulturelle Verfasstheit ihrer Gesellschaften. Umgekehrt hatten in vielen Ländern indigene Organisationen und Bewegungen die Konjunktur genutzt, um sich selbst besser zu organisieren sowie Land- und Autonomierechte einzufordern. Damit brachten sie nicht nur eigene Interessen ins politische Spiel, sondern auch Veränderungen in der Wahrnehmung der nationalen Gesellschaft über sich selbst ins Rollen. Sie traten nun deutlich stärker ins Rampenlicht als das, was sie im Grunde immer schon gewesen waren: soziale Akteure, die sich aus den kolonialen Zwängen und deren Hinterlassenschaften befreien wollten. Da ihnen die eigene Befreiung allein nichts nutzen würde, entwarfen sie Ideen für eine mit neuen Leitbildern versehene, multikulturelle Gesellschaft.

Verändert hatten sich ebenso die gesellschaftlichen Anforderungen an den Staat. Kein Land in Lateinamerika, das sich nicht der Anforderung an liberalisierte Märkte beugen musste. Wie in der übrigen Welt auch, waren die sozialen Folgen für die Mehrheit der Bevölkerung besonders rasch und merklich spürbar. Dabei gehören die Länder Lateinamerikas sowieso schon zu einer Region, die für ihre großen sozialen Schieflagen bekannt ist. Außerdem ist in Lateinamerika die soziale Spaltung historisch eng mit der ethnischen Zugehörigkeit verknüpft; Ureinwohner und Afrostämmige auf der Verliererseite. Die Vorgaben der europäischen, ‚weißen‘ Gesellschaft orientieren heute noch den Zugang zum Arbeitsmarkt, zur Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums und ideeller Privilegien, beeinflussen Steuerabgaben, Wohnungs- und Bildungsangebote sowie den Grad der Gesundheitsversorgung. Die Logik dieser – vom ‚weißen Mann‘ geprägten – Entwicklung wurde mit der Forderung nach einer multikulturellen oder plurinationalen Gesellschaft – und damit einer Gleichwertigkeit des Anderen – durch die erstarkten indigenen Bewegungen besonders deutlich in Frage gestellt.

Sie durchkreuzten mit der ihnen eigenen Beharrlichkeit und Vehemenz nicht nur das bislang vorherrschende Leitbild der einen – westlich-industriegesellschaftlich orientierten – Nation, sondern füllten Reformvorgaben der Regierungen mit eigenen Vorstellungen aus. Dezentralisierung, Kommunalisierung der Politik, Demokratisierung der Entscheidungsfindung waren einige der Stichworte, die den von außen erzwungenen Umbau der lateinamerikanischen Staaten in den 1980er und 1990er Jahren kennzeichneten. In einigen Ländern gelang es indigenen Bewegungen, sich in diesen Prozess mit eigenen Institutionen einzuklinken und selbstverwaltete Organe auf lokaler und regionaler Ebene zu schaffen. Vieles ist nicht aus dem Experimentierstadium herausgekommen, aber verstärkte in der Öffentlichkeit den Eindruck, dass hier alternative Entwürfe für die gesamte Gesellschaft im Entstehen seien. Die gängigen Utopien über eine alternative Gesellschaft waren mit dem Zusammenbruch des Sowjetsystems Ende der 1980er Jahre in eine Krise geraten. Intellektuelle suchten nach einem neuen Objekt und fanden sozialen Protest bei den Ureinwohnern.

Zum einen also veränderte Identität im Zuge veränderter Wahrnehmung, zum anderen aber auch ein substanzieller Rollenwechsel. Mit den Debatten um die Teilhabe am Staat (vgl. S. 21 ff.), mit den vielen Protesten gegen die soziale Verelendung und die Folgen einer neoliberal globalisierten Welt wurden indigene Bewegungen in Ländern wie Kolumbien, Guatemala, Bolivien oder Ecuador tatsächlich zum Bezugspunkt für eine Widerstandsbewegung, die sich abseits der großen Theorien um den Aufbau einer sozial gerechten und kulturell vielfältigen Gesellschaft kümmerten. Die Agenda des von indigenen Bewegungen getragenen Protests umfasst mittlerweile tatsächlich einen Katalog, der vieles an gewohnten Prozessen in den jeweiligen Ländern in Frage stellt: den Vorrang des westlich-industriell geprägten Entwicklungsbegriffs, die Vernachlässigung der Umwelt, die – unsozialen – Folgen von Privatbesitz vor allem auf dem Land, die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und insgesamt den Abbau von Einkommensmöglichkeiten in abhängiger Beschäftigung, die klassische Rolle des einseitig verteilenden Staates, die Hierarchie kultureller Leitbilder sowie die parteiische Geschichtsschreibung. Mit dieser Agenda sprechen sie den großen Mehrheiten der lateinamerikanischen Bevölkerung aus dem Herzen.

Dazu kommt ein kleiner, aber nicht unwichtiger Aspekt am Rande. Die Maßnahmen der USA zur Sicherung US-amerikanischer – teilweise auch europäischer – Investitionen in dieser Region und neuerdings zur Bekämpfung des Terrorismus richten sich gegen ‚marxistische Rebellen‘ und ‚Terroristen‘. Gewerkschaftliche Proteste werden als gegen nationale Interessen gerichtet verunglimpft und möglichst unterdrückt. Viel schwieriger scheint es, in der gleichen Art und Weise gegen den Protest indigener Bewegungen vorzugehen. Die Empfindlichkeit in Europa und Nordamerika gegenüber Maßnahmen, in denen rassische Aspekte eine Rolle spielen könnten, ist nach dem Holocaust und der Empörung über die Völkermordverbrechen im Zuge der Eroberung und Kolonisierung Amerikas so ausgeprägt, dass sich vergleichbare Strategien wie gegen die ‚Marxisten‘ verbieten. Selbst der dickhäutigen Bush-Administration ist der Vorwurf, Genozid oder Rassismus zu betreiben, offensichtlich äußerst unangenehm.

Wenn indigene Identitäten also im Wandel begriffen scheinen, dann hat dies viel mit der bisherigen Vernachlässigung des indigenen Widerstands und der eigenen rosaroten, oft romantisch beschlagenen Brille zu tun, mit der indigene Existenz im Sinne des folkloristischen "schönen Wilden" gesehen wurde. Umgekehrt sollte der neue Realismus nicht in eine ebenso verquere Heilserwartung umschlagen. Indigene Protestbewegungen bergen ohne Zweifel ein großes Potenzial zur Demokratisierung der lateinamerikanischen Gesellschaften und zur Infragestellung der rassistischen Hierarchie kultureller Entwicklungsleitbilder sowie sozialer Ungerechtigkeiten. Die Erfahrungen mit solidarischer Unterstützung aus dem Ausland für ihre Überlebenskämpfe weisen allerdings deutlich darauf hin, dass sie alleine einen zwar verwegenen, gleichwohl in der Regel wenig aussichtsreichen Kampf führen müssten. Und hier ist ebenfalls noch mancher Wandel bitter nötig: damit der ,Indio' nicht nur als Opfer, sondern auch als Akteur wahrgenommen wird und Solidarität im Zeichen gleichberechtigter Partnerschaft stattfindet.