26.04.2005

Die grün-rote Bundesregierung und der Genozid in Tschetschenien

Hintergrund des gegenwärtigen Krieges - Seite 2

Die grün-rote Bundesregierung und der Genozid in Tschetschenien

Am 19. Januar 1995 hatte der grüne Abgeordnete Joschka Fischer anlässlich des "grausamen Mordens einer nuklearen Supermacht gegen ein kleines Volk im Norden des Kaukasus" dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl vorgeworfen, er habe "Tschetschenien zur inneren Angelegenheit Russlands" erklärt und so entscheidend dazu beigetragen, dass in Moskau der Eindruck entstand, es habe freie Hand und könne zuschlagen.

ZEIT - Korrespondent Michael Thumann berichtete fünf Jahre später über das Verständnis von Außenminister Joschka Fischer sowie seinen italienischen und französischen Amtskollegen in Moskau gegenüber Putin: Russland dürfe nicht isoliert werden und es sei legitim, gegen Terror vorzugehen.

Führende Vertreter der Bundesregierung, unter ihnen Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping und Außenminister Joschka Fischer, hatten im Frühjahr 1999 vor laufenden Kameras ihre Gewissensqualen angesichts der Massenvertreibungen und Tötungen im Kosovo dargestellt: Sie fühlten sich an Nazi-Verbrechen erinnert. Wenige Monate später wurde nur verhaltene Kritik von Seiten der Bundesregierung an der Tschetschenienpolitik Putins geübt. Man räumte ein, dass Bombardierungen und militärische Bodenoperationen keine angemessenen Mittel der Terrorbekämpfung seien, erklärte jedoch sehr bald, dass Sanktionen gegen Russland nicht in Frage kämen, stellte die Kreditzahlungen an Russland nicht ein und hielt die Kontakte zu Russland unverändert aufrecht.

Ende März 2000 hatte eine Delegation des Bundesnachrichtendienstes unter ihrem Chef August Hanning die weitgehend durch Bombardements zerstörten Städte Gudermes und Grosny bereist, offensichtlich um die russische Seite bei der vorgeblichen "Terroristenbekämpfung" zu beraten. Die GfbV erstattete Anzeige wegen Beihilfe zum Völkermord an der ethnischen Gruppe der Tschetschenen.

Noch deutlicher wrude die Sympathie der deutschen Bundesregierung für die Täter am 29.2.2000, als der russische General Gennadij Troschew die "breit angelegten Operationen" seiner Armee für beendet erklärte. Genau am selben Tag vereinbarte Verteidigungsminister Scharping 33 Projekte der militärischen und militärtechnischen Kooperation für das Jahr 2000 mit der russischen Armee. Die GfbV erklärte gegenüber der Presse: "Deutlicher als mit diesem Staatsbesuch kann die deutsche Regierung ihre Missachtung der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen und der UN-Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermordes nicht ausdrücken."

Das Scheitern der westlichen Welt

Europarat: Im Winter und Frühjahr 2000 kritisierten die Vertreter vieler europäischer Regierungen Russland wegen seines brutalen Vorgehens im Kaukasus. Der Höhepunkt der Kritik in Europa war im April 2000 erreicht, als die Parlamentarische Versammlung des Europarates den russischen Delegierten das Stimmrecht entzog und somit ein deutliches Signal nach Moskau sandte. Putin reagierte trotzig. Es waren mehrere Delegationen des Europarates in Tschetschenien. Mitarbeiter des Europarates versuchten, die Arbeit des russischen Menschenrechtsbeauftragten für Tschetschenien Kalamanow in Grosny zu unterstützen, der mit den wichtigsten Kompetenzen aber nicht ausgestattet ist.

Die letzte Reise von Mitgliedern der Parlamentarischen Versammlung fand Ende Januar 2001 statt. Am 25.01.2001 wurde in der Parlamentarischen Versammlung beschlossen, dass Russland das Stimmrecht wieder zuerkannt wird. Auch der Europarat hat die Tschetschenen also im Stich gelassen. Die Tschetschenen und die internationalen Menschenrechtsorganisationen, die zuvor geschlossen gefordert hatten, dass die Russen weiterhin nicht abstimmen dürften, zeigten sich enttäuscht,

OSZE: Die OSZE öffnete während des ersten Tschetschenien Krieges 1994-96 eine permanente Niederlassung in Grosny. 1998 verließen die offiziellen Angestellten der OSZE die Stadt wegen Sicherheitsbedenken und Angst vor Entführungen. Bis September 1999 konnten lokale Mitarbeiter das Büro jedoch offen halten. Beim erneuten Überfall auf Grosny im Laufe des Septembers und Oktobers 1999 jedoch verließen auch sie die Stadt. Seither bemühte sich die OSZE immer wieder erfolglos um eine Rückkehr nach Tschetschenien. Sie ließ sich von der russischen Regierung die Beobachtung der Situation verbieten. Der neue OSZE - Vorsitzende, der rumänische Außenminister Mircea Dan Geoana, ließ zu Beginn seiner Amtszeit am 01.01.2001 verlautbaren, Tschetschenien sei eine seiner Hauptsorgen. Er hofft, die russischen Behörden werden ihm die Sicherheit seiner Mitarbeiter für eine neue Mission in Tschetschenien gewährleisten können.

UNO: Zum ersten Mal in ihrer Geschichte verurteilte die UN Menschenrechtskommission ein ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats. In einer Resolution vom 25.04.2000 wird Russland aufgefordert, eine unabhängige Untersuchungskommission nach Tschetschenien zu lassen, welche den Vorwürfen nachgehen soll, die russischen Soldaten hätten sich schwerster Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht. Russland akzeptierte diese Resolution nie und hat dementsprechend auch die Forderungen nicht erfüllt. Auf der diesjährigen Sitzung der UN-Menschenrechtskommission Ende März 2001 wird es wieder um die Frage einer Resolution gehen. Die GfbV setzt sich dafür ein, dass Russland wegen des anhaltenden Völkermords in Tschetschenien nochmals verurteilt wird. Es wäre ein falsches Signal an Moskau, bliebe wegen angeblicher Verbesserungen dieses Mal die Verurteilung aus.

Bilanz des dritten Völkermordes an den Tschetschenen

Menschenrechtler und Intellektuelle aus vielen Ländern haben die Verbrechen Putins vor der internationalen Öffentlichkeit verurteilt. Frau Jelena Bonner warf den russischen Generälen vor, einen großen Teil der tschetschenischen Nation "auszulöschen" und "Tschetschenien ohne Tschetschenen" für Russland zu erhalten. Sie sprach von Völkermord. Der Duma-Abgeordnete und Menschenrechtler Sergej Kowaljow geißelte den Krieg Putins als einen "Vernichtungskrieg, dessen Konsequenz nur Völkermord sein kann". Die "Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges" IPPNW erklärten, die Kämpfe in Tschetschenien erreichten das Ausmaß von Völkermord. André Glucksmann verglich Putins Ultimatum an Grosny mit Hitlers Ultimatum an Warschau und Pol Pots Ultimatum an Phnom Pen. Günter Grass setzte einen dramatischen Akzent in Moskau vor dem internationalen PEN-Club. Er zog Parallelen zum türkischen Völkermord an den Armeniern. Jewgeni Jewtuschenko verweigerte den Orden für Völkerfreundschaft. Daniel Cohn-Bendit meinte, ein Volk werde massakriert. Vaclav Havel nannte das russische Vorgehen im Kaukasus "Abschlachten einer Nation".

Armee und Regierung Russlands haben alles unternommen, um Krieg und Kriegsverbrechen vor den Augen der Weltöffentlichkeit zu verbergen. Die journalistische Arbeit wurde permanent behindert. Selbst vor Mordanschlägen gegen Berichterstatter schreckte man nicht zurück. Noch im Oktober 2000 wurde der italienische Korrespondent von Radio Radicale, Antonio Russo, in der Nähe der georgischen Hauptstadt Tiblissi ermordet auf einem Feld aufgefunden. Sein Material über die Folgen des russischen Waffeneinsatzes bei tschetschenischen Kindern, die schwere Verbrennungen aufwiesen, wurde entwendet. Marino Bustachini von der radikalen Partei Italiens untersuchte den Fall vor Ort und spricht von einem professionell ausgeführten Mord. Die russische Botschaft in Rom schickte den Organisatoren einer Konferenz, die Russos Schicksal diskutierte, nicht etwa ein Beileids-, sondern ein Protestschreiben. Menschenrechtsorganisationen wurden daran gehindert, vor Ort zu recherchieren. Hilfsorganisationen wurde der Zugang verweigert. Selbst Recherchen der OSZE und der UNO-Menschenrechtskommission wurden unterbunden.

Wir haben eine Reihe von enthüllenden Äußerungen russischer Politiker und Militärs dokumentiert, die die Planmäßigkeit des russischen Vorgehens gegen die Zivilbevölkerung Tschetscheniens belegen. Die vielfältigen Menschenrechtsverletzungen geschehen systematisch und erfüllen die Paragraphen a, b und c von Artikel II der UN-Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermordes.

Aufgrund der oben geschilderten Blockade für unabhängiges Recherchieren in den Verbrechensregionen können wir heute keine Gesamtzahl der Opfer dieses dritten Völkermordes an den Tschetschenen durch russische Truppen nennen. Es erscheint uns aber sicher, dass viele Männer und Frauen bei Vergewaltigungen starben, dass Hunderte in den Filtrationslagern zu Tode gequält oder erschossen wurden, dass bei Einzel- und Massenerschießungen wohl mehrere tausend Opfer zu beklagen sind. Bei Bombenangriffen kamen nach dem der GfbV vorliegenden Material 4 772 Menschen ums Leben. Dabei ist zu betonen, dass es keinerlei systematische Erhebung geben konnte und diese Materialien nur Ausschnitte aus dem Verbrechensgeschehen sind. Das gleiche gilt für unsere Zahl von 647 Zivilisten, die ihr Leben bei Angriffen auf Flüchtlingskonvois verloren haben. Den in unserer Dokumentation angeführten Berichten zufolge wurden 200 bis 300 Tote in Massengräbern entdeckt. Doch sind alle diese Zahlen nicht einmal Annäherungswerte an die Zahl der wirklichen Opfer. Wer weiß schon, wie viele Menschen allein in den Kellern von Grosny während Luftangriffen verschüttet oder später durch Sprengungen lebendig begraben wurden. Human Rights Watch geht von 4.000 Toten in Grosny aus und spricht von einer Mindestzahl von 10.000 toten Zivilisten durch direkte Gewalt. Die reale Zahl müsste aber nach menschlichem Ermessen wesentlich höher liegen.

Hinzu kommt die vorsätzliche Auferlegung von Lebensverhältnissen, die geeignet sind, die Zerstörung des tschetschenischen Volkes ganz oder teilweise herbeizuführen. Die Zahl der Toten als Folge von Flucht und Vertreibung, der Zerstörung ganzer Städte, der Landwirtschaft, der Industrie und der medizinischen Versorgung könnte mehrere Zehntausend betragen. Insofern sind Schätzungen von tschetschenischer Seite, dass es 45.000 Tote gegeben hat und bis heute 18.000 Menschen vermisst werden, durchaus glaubwürdig. Die Gesamtzahl der Opfer dürfte nach Schätzungen der GfbV zwischen 20.000 und 40.000 liegen.