07.08.2010

Die Bergschoren in der Republik Altai

Russlands Republiken (Teil VII)

90 Prozent der Schoren sind Christen, parallel dazu wird Schamanismus im Alltag weiter praktiziert

Russland

Aus bedrohte völker_pogrom 260, 3/2010

"Die Landschaft ist überwältigend schön. Die Menschen aber sind verarmt, entwurzelt und perspektivlos. Während wir im Altai unterwegs waren, fuhren wir in ein Dorf an einem See. Dort hatte ich den Eindruck, dass alle, vom Kind bis zum alten Mann, betrunken waren. Diese Menschen, die dem Volk der Bergschoren angehören, brauchen eine Zukunft, wenn ihre reiche Kultur nicht aussterben soll."

Eine russische Filmschaffende, die vor einigen Monaten den Altai bereiste, berichtete mir mit diesen Worten von ihren Reiseeindrücken. Schon im ersten Gespräch fiel der Name der schorischen Sängerin und Schamanin Tschyltys, alias Olga Tannagaschewa. Mir wurde empfohlen, Michael Ebmeyers Buch "Der Neuling" zu lesen, in dem sie und die Bergschoren eine wichtige Rolle spielen. So begann ich, mich mit den Bergschoren auseinanderzusetzen. Letztlich entstand daraus die Idee, dieses Volk den Leserinnen und Lesern von "bedrohte Völker – pogrom" vorzustellen und gleichzeitig über ein Projekt zum Erhalt der schorischen Kultur zu informieren.

Die Bergschoren gehören mit 12.000 Angehörigen zu den eher kleinen Völkern Sibiriens. Traditionell lebt das Turkvolk im Süden des Gebietes Kemerowo (Republik Altai) und im Bezirk Taschtyp der Republik Chakassien. Kulturell sind die Schoren eng mit den Altaiern verwandt und wie diese Anhänger des Schamanismus. Seit dem 17. Jahrhundert waren in der Altai-Region christliche Missionare aktiv. Zu Beginn fanden die Bergschoren diese Religion attraktiv, auch weil sie für die Taufe mit Kleidern, Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen belohnt wurden. Gingen diese Vorräte zur Neige, wollten sich die Schoren nochmals taufen lassen. Die Missionare setzten daraufhin mehr und mehr Gewalt ein, um die Schoren zu bekehren. Heute bekennen sich 90 Prozent von ihnen zum Christentum, parallel dazu wird der Schamanismus im Alltag weiter praktiziert und von Kulturschaffenden wie Tschyltys gepflegt. Traditionell lebten die Schoren von der Jagd, dem Fischfang und dem Sammeln von Zedernnüssen, Bärlauch, Farn, Beeren und Kräutern. Sie waren außerdem erfolgreiche Imker und Schmiede.

Um 1930, schon während der Sowjetzeit, diskutierten schorische Intellektuelle mit Altaiern und Chakassen, mit denen sie eng verwandt sind, gemeinsam eine eigene Republik zu gründen. Die Pläne wurden von der Moskauer Führung, der jegliche Unabhängigkeitsbestrebungen ein Dorn im Auge waren, jäh vereitelt und die wichtigsten Denker und Künstler der Bergschoren verschleppt, ohne dass man jemals wieder von ihnen hörte.

Während der Sowjetzeit wurden die Schoren diskriminiert und ihre Kinder in der Schule Schikanen ausgesetzt, weil sie nicht wie Europäer aussahen, schreibt die schorische Sängerin Tschyltys in einem Brief an die GfbV. Seit der Perestroika (ab 1985) gibt es eine neue Offenheit und offiziell mehr Freiheiten für die Angehörigen der indigenen Völker. Für die Bergschoren hat sich die Lage trotzdem nicht verbessert. Einige schorische Dörfer wurden sogar vernichtet, um Platz für die in der Region Kemerowo wichtige Kohleförderung zu schaffen. Betroffen waren zum Beispiel die Dörfer Kurja und Sibirga. Seit 2003 haben die Schoren weder politische Vertreter in der Verwaltung noch seit 2005 in der Politik. Es gibt nur noch eine Schule (in der Siedlung Borodino, Schule Nr. 10), wo Schorisch fakultativ unterrichtet wird. Diese Sprache wird von der UNESCO als akut vom Aussterben bedroht eingestuft. In entlegeneren Orten werden auch die regulären Grundschulen geschlossen, sodass sich die Eltern gezwungen sehen, ihre Kinder auf Internate zu schicken, wo sie keinerlei Zugang zur schorischen Sprache und Kultur mehr haben.

An dieser Situation, die über die Jahre unweigerlich zum Verlust der schorischen Musik, des Schamanismus und anderer Elemente ihrer Kultur führen würde, will die schorische Sängerin und Schamanin Tschyltys etwas ändern. Sie selbst, 1978 geboren, stammt aus einer Familie der Epenerzähler. Auch deutsche Wissenschaftler haben mit ihrem Onkel gearbeitet, in dessen Tradition sie sich sieht. Sie nimmt an Festivals teil, organisiert Reisen für schorische Jugendliche, die sie mit ihrer Kultur in Verbindung bringen sollen, gibt Konzerte und hält Vorlesungen. Sie ist Hoffnungsträgerin der Schoren, benötigt aber Unterstützung aus dem Ausland. Ihr Traum ist der Aufbau eines Ethno-Kulturzentrums, das vielfältige Funktionen erfüllen soll: Es soll ein Museum beheimaten, hier könnten ein Ton- und Fotostudio entstehen, im Informationszentrum könnten Infoblätter und eine schorische Zeitung veröffentlich werden, auch eine Phonothek und Bibliothek sind in Planung. Tschyltys möchte schorische Gesänge, Epen und Mythen der schorischen Kultur hier sammeln und für die Angehörigen des Volkes bewahren, die häufig wenig über ihre Herkunft wissen. Sie plant, mit Jugendlichen, mit denen sie schon viel gearbeitet hat, Expeditionen zu entlegenen schorischen Dörfern zu unternehmen, um den jungen Menschen die traditionelle Lebensweise wieder näher zu bringen. Auch Arbeitsplätze sollen im Zentrum entstehen und begabten Kunsthandwerkern, schorischen Akademikern und Künstlern eine Perspektive bieten. Unterstützung erhält Tschyltys sowohl von den Sängern, Kunst- und Kulturschaffenden aus dem Kreis der Bergschoren als auch von Moskauer Professoren, die sich für die Bewahrung dieser Kultur einsetzen. Die GfbV hat sich bereit erklärt, für dieses Projekt auch bei deutschen Stiftungen zu werben.