18.04.2005

Deutsch-russische Regierungskonsultationen

Mahnung an Putin und Schröder auf orangefarbenem Transparent: "Tschetschenien schreit Hilfe!" – "Dialogforum" muss tschetschenische Menschenrechtler und russische Opposition einbeziehen

Mit orangefarbenen Schildern, Transparenten und Fahnen mahnt die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) den russischen Präsidenten Wladimir Putin und Bundeskanzler Gerhard Schröder am Dienstagvormittag in Schleswig, es nicht bei Absichtserklärungen zu belassen, den Feldzug Russlands gegen Tschetschenien endlich zu beenden und dem kriegszerstörten Land tatsächlich Frieden und Demokratie zu bringen. Mit einem fünf Meter langen Transparent mit der Aufschrift "Kiew grüßt Putin – Tschetschenien schreit Hilfe" erinnern die Menschenrechtler an den gewaltfreien Widerstand gegen die massive Manipulation der Präsidentenwahl in der Ukraine und fordern gleichzeitig eine politische Lösung des Tschetschenienkonfliktes. "In das Dialogforum, das dafür ins Leben gerufen worden sein soll, müssen unabhängige tschetschenische Menschen- und Bürgerrechtler und die russische Opposition miteinbezogen werden", fordert die GfbV.

 

Besonders gravierende Verletzungen der Menschen- und Bürgerrechte in Tschetschenien und in der Ukraine listet die GfbV in einem offenen Brief an Putin und Schröder auf, der während der Menschenrechtsaktion in Schleswig verteilt wurde:

 

Herrn Wladimir Putin, Präsident der Russischen Föderation!

Herrn Gerhard Schröder, Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland !

zur Zeit Schleswig, Schloss Gottorf

 

Geben Sie Tschetschenien endlich den Frieden zurück, Herr Präsident!

Unterstützen Sie den furchtbaren Völkermord im Kaukasus nicht länger durch Ihr Schweigen, Herr Bundeskanzler!

 

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrter Herr Bundeskanzler,

die demokratische Bewegung der Ukraine hat vor wenigen Wochen auf friedlichem Weg freie Wahlen durchgesetzt und ukrainische Behörden zu rechtsstaatlichem Vorgehen gezwungen. Damit hat sich diese Bürgerbewegung gegen die Gleichschaltung nach russischem Modell gewehrt, wie zuvor auch die Demokraten Georgiens. Somit waren totalitäre Methoden - wie Wahlfälschungen, weitgehende Gleichschaltung von Fernsehen und Printmedien, politische Attentate gegen und Morde an Journalisten, Korrumpierung der richterlichen Gewalt - vergeblich.

 

Wir bedauern, dass Sie, Herr Präsident, diese Methoden unterstützt, und Sie, Herr Bundeskanzler, diese offensichtlich akzeptiert haben. Die Weltöffentlichkeit beobachtet mit wachsendem Erschrecken, dass Russland zunehmend in die totalitäre Vergangenheit zurückfällt und immer mehr die Züge eines autoritären politischen Systems annimmt.

 

Auch in Russland sind große Teile des Fernsehens und der Printmedien gleichgeschaltet. Auch in Russland werden Journalisten eingeschüchtert, entführt oder ermordet, unter ihnen der Internet-Journalist Suchomlin, der Besitzer von TV Murmansk Schwets, der Mitarbeiter der Zeitung "Kommersant" Guljew, der Redakteur Chlebnikow von Forbes, der tschechische Journalist Kraus, der Herausgeber von Prowinzialnyj Telegraf Burgow, der Chefredakteur von Togliatinskoje Obozrenie Sidorow oder der Chefredakteur von Werchnaja Wolga Kutuzow. Russland ist heute das fünftgefährlichste Land für Journalisten. Innerhalb Europas hält es sogar den ersten Platz. Weltweit nimmt Russland in Sachen Pressefreiheit den 140. Platz von 165 untersuchten Ländern ein, berichtet Reporter ohne Grenzen.

 

Sie, Herr Präsident, zerstören Schritt für Schritt die Unabhängigkeit der Justiz, manipulieren die Wahlgesetze, ernennen die Gouverneure, statt sie weiter demokratisch wählen zu lassen. Sie, Herr Bundeskanzler, bezeichnen Wladimir Putin als "lupenreinen Demokraten".

 

Völkermord ist das schlimmste Verbrechen, zu dem Menschen fähig sind. Es war die Konsequenz aus den Verbrechen Hitlers und Stalins, die die Völkergemeinschaft 1948 zur Annahme der Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermordes bewegt hat. Sie, Herr Präsident, haben diese Konvention seit Ihrem Regierungsantritt verletzt. Sie haben den zweiten Tschetschenienkrieg begonnen und sind somit für den Tod von 80.000 tschetschenischen Zivilisten und tausenden russischen Soldaten verantwortlich. Sie haben die Stadt Grosny dem Erdboden gleich gemacht, sie sieht heute aus wie Dresden nach dem Terror-Bombardement der Alliierten. Allein durch eine einzige Langstreckenrakete auf den zentralen Marktplatz in Grosny starben am 21. Oktober 1999 Hunderte Unschuldige.

 

Die Tschetschenen, Kinder, Frauen und Männer wurden Opfer von Morden und Massakern, von Entführungen, Vergewaltigungen, Verletzungen, von Bombardements, von willkürlichen Verhaftungen und Folterungen. Sie wurden in so genannten Filtrationslagern eingesperrt, kamen dort ums Leben oder verschwanden. Ihre Flüchtlingstrecks wurden beschossen. Sie starben an den Strapazen der Flucht oder an Krankheiten in den Flüchtlingslagern.

 

Sie führen diese Politik weiter fort. Tag für Tag müssen Menschen in diesem Krieg sterben, Tschetschenen wie russische Soldaten. Den zivilen Staatsanwalt in Tschetschenien erreichten im Jahre 2003 4.763 Klagen tschetschenischer Bürger. 2.242 betrafen "ungesetzliche Untersuchungsmethoden". Nur 15 wurden vor Gericht gebracht. 13 tschetschenische Menschenrechtsverteidiger wurden getötet, 6 weitere sind verschwunden.

 

In dieser schrecklichen Situation haben Sie, Herr Präsident, unter den Bajonetten russischer Soldaten so genannte Wahlen durchgeführt, die wohl in keinem westlichen Land ernst genommen wurden. Es war Ihnen, sehr geehrter Herr Bundeskanzler Schröder, vorbehalten, diese Wahlen für korrekt zu befinden.

 

Die Gesellschaft für bedrohte Völker, die Menschen, die sich an dieser Mahnwache anlässlich Ihres Besuches in Schleswig beteiligen, appellieren dringend an Sie, Herr Präsident, schließen Sie Frieden. Geben Sie Tschetschenien regionale Selbstverwaltung. Und wir bitten Sie, Herr Bundeskanzler Schröder, unterstützen Sie diesen furchtbaren Völkermord nicht länger durch Schweigen und verharmlosende Erklärungen.

 

Mit freundlichen Grüßen

Tilman Zülch

Gesellschaft für bedrohte Völker