22.07.2013

Der serbische Präsident Tomislav Nikolic entschuldigt sich

Bosnien und Herzegowina/Serbien

In Potocari bei Srebrenica wurden inzwischen 6066 Menschen bestattet, nachdem ihre sterblichen Überreste identifiziert worden waren. Sie starben 1995 beim Massaker von Srebrenica. Foto: CC by-nc-nd 2.0 Mikel Oibar (flickr.com)

Was sagen die Opfer?

Aus bedrohte völker_pogrom 275, 1/2013

„Er muss uns überzeugen, dass das, was er sagt, die Wahrheit ist, denn nur sieben Tage zuvor hat er in New York bei den Vereinten Nationen die Verbrechen geleugnet und das ICTY als Inquisition bezeichnet“, reagiert Hasan Nuhanovic auf die Entschuldigung des amtierenden serbischen Präsidenten Tomislav Nikolic für die Verbrechen in Srebrenica. Nuhanovic musste 1995 bei dem Massaker in der ehemaligen UN-Schutzzone mitansehen, wie serbische Einheiten seine Eltern und seinen Bruder erschossen. In einem Interview mit dem bosnischen Fernsehen Ende April 2013 sagte Nikolic : „Hier, ich knie nieder“ – obwohl er weiter im Sessel saß – „und ersuche um Gnade für Serbien wegen des Verbrechens, das im Namen unseres Staates einzelne Personen begangen haben.“ Die Entschuldigung Nikolics ist zwar unzulänglich, denn die Verbrechen wurden nicht von Einzelpersonen begangen, sondern von Armee und Polizei der Republika Srpska mit der Unterstützung des serbischen Staates. Dennoch ist die Abbitte des serbischen Präsidenten ein Fortschritt – bedenkt man seine politische Vergangenheit. Nikolic war ein enger Mitarbeiter der vor dem ICTY angeklagten Kriegsverbrecher Vojislav Šešelj und Slobodan Miloševic, die die Angriffskriege in Kroatien, Bosnien und Herzegowina und im Kosovo von 1991 bis 1999 geführt hatten. Nikolic unterstützte diese Politik. Zudem hatte er bei seinem Amtsantritt 2012 noch den Genozid in Srebrenica geleugnet und Vukovar als serbische Stadt bezeichnet. Vukovar liegt jedoch in Kroatien und wurde 1991 vollständig von der Jugoslawische Volksarmee und serbischen Freiwilligen zerstört.

Im April 2013 organisierten die Vereinten Nationen eine Diskussion darüber, inwieweit der ICTY in Den Haag zur Versöhnung auf dem Balkan beitragen könne. Nikolic sagte damals, dass Bosnien und Herzegowina auseinanderfallen werde. Außerdem stellte er fest, dass die Serben nach dem Dayton-Friedensabkommen zwei Staaten bekommen hätten: Serbien und die Republika Srpska – obwohl die Republika Srpska kein eigenständiger Staat ist, sondern zu Bosnien gehört. Gerade wegen dieser Aussagen glauben viele Menschen in Bosnien und Herzegowina und demokratische Kräfte in Serbien, dass Nikolic sich nur entschuldigt habe, weil die EU Druck ausgeübt hat.

Stimmen der Opfer

Nach jeder Entschuldigung muss die zentrale Frage gestellt werden: Was denken die Opfer darüber? Hatidža Mehmedovic aus Srebrenica, die dort 1995 beide Söhne, den Ehemann und alle männlichen Familienmitglieder verloren hat, nahm die Entschuldigung von Tomislav Nikolic nicht euphorisch auf: „Auch Serbiens Präsident Boris Tadic hat sich entschuldigt und ist nach Srebrenica gekommen. Aber dies waren nur leere Worte. Er unterstützte die Politik der Abspaltung des Präsidenten der Republika Srpska Milorad Dodik – und Dodik die Politik des bosnisch-serbischen Kriegsverbrechers Radovan Karadžic. Wir, die Rückkehrer nach Srebrenica, spüren sehr gut am eigenen Leib, wie sich diese Politik noch immer gegen die überlebenden Genozidopfer richtet. Nikolic kann nach Srebrenica kommen und vor uns niederknien, aber wenn sich die Politik Serbiens gegenüber Bosnien und Herzegowina nicht ändert, wird dieser Akt nur eine leere Formel bleiben.“

Behara Sinanovics beide Söhne sind ebenfalls bei dem Massaker von Srebrenica umgekommen. Für sie kann die Entschuldigung des serbischen Präsidenten die Kriegswunden nicht heilen. Sinanovic sieht es dennoch als Fortschritt: „Wir erwarten, dass nach der Entschuldigung auch der Staat Serbien seine Schuld an der Tötung von mehr als 8.000 unserer Söhne, Ehemänner, Brüder, Väter und anderer Verwandten zugibt.“

Šuhra Malic, Mutter aus Srebrenica, hat drei Söhne und alle männlichen Familienmitglieder verloren. Sie nimmt die Entschuldigung von Nikolic nicht ernst, solange die Täter noch immer frei in Serbien leben, ohne angeklagt und verurteilt zu werden: „In der Republika Srpska droht Milorad Dodik ständig, einen Volksentscheid über eine mögliche Abspaltung der Republika Srpska von Bosnien und Herzegowina durchzuführen. Ich hoffe, dass nach der Entschuldigung von Tomislav Nikolic auch die Politik von Milorad Dodik nicht mehr unterstützt wird.“

Fikret Alic ist ein ehemaliger Gefangener serbischer Truppen. Er war in mehreren Konzentrationslagern in der Region Prijedor inhaftiert und wurde weltweit bekannt durch ein Foto, auf dem er bis auf die Knochen abgemagert hinter dem Stacheldrahtzaun des Konzentrationslagers Trnopolje steht. Über die Entschuldigung von Nikolic sagt er: „Ich denke, dass seine Entschuldigung symbolisch ist und eine Wendung zu seiner Kriegsvergangenheit darstellt. Wir, Gefangene in Konzentrationslagern, in denen tausende Menschen getötet worden sind, leben heute mit schweren Traumata. Eines der Traumata ist, dass die Existenz der Konzentrationslager sowie der in ihnen begangenen Verbrechen geleugnet wurden. Ich wünsche mir auch, dass die Deportationen, Folterungen und Tötungen in Lagern, die von den Unterstützern der Politik von Slobodan Miloševic und Radovan Karadžic organisiert wurden – unter ihnen auch Präsident Nikolic – als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt werden. Von diesem ehemaligen Nationalisten, der durch seine Entschuldigung an die überlebenden Opfer zum Europäer geworden ist, erwarte ich auch eine angemessene Entschädigung für die Überlebenden.“

Die Geste von Tomislav Nikolic haben alle bosnischen wie auch europäischen Politiker begrüßt, insbesondere weil sie von jemandem kommt, der zwei Jahrzehnte lang extrem nationalistischen Kreisen angehörte . Je mehr Menschen, die für die Kriege gegen Länder des ehemaligen Jugoslawien verantwortlich sind, Bereitschaft für Entschuldigung und Anerkennung zeigen, umso grösser ist die Chance für eine Wiederherstellung der regionalen Zusammenarbeit und Versöhnung in Bosnien und Herzegowina.

Wer ist wer?

Slobodan Miloševic war von 1990 bis 2006 Vorsitzender der Sozialisten Partei Serbiens und von 1989 bis 2007 Präsident von Serbien.. Er wurde wegen zahlreicher Verbrechen – wie das Massaker von Srebrenica, Massenvertreibungen und Völkermord – während der Jugoslawienkriege (1991 bis 1995) und des Krieges im Kosovo (1998/99) verantwortlich gemacht. Das ICTY klagte ihn 1999 in 66 Punkten an. Zu einer Verurteilung ist es nie gekommen, weil Miloševi? beim Abschluss der Beweisaufnahme 2006 verstorben ist.

Vojislav Šešelj ist ein serbischer Politiker, der 1991 die Serbische Radikale Partei gegründet hat. Während der Amtszeit von Slobodan Miloševi? war er für einige Zeit Vizepräsident von Serbien. In den 1990er Jahren propagierte Šešelj die Schaffung eines „Großserbiens“. Während der Jugoslawienkriege soll er paramilitärische serbische Einheiten befehligt haben, die viele Verbrechen begangen haben sollen. Das ICTY verurteilte ihn 2009 zu 15 Monaten Haft, weil er in einem Buch drei geschützte Zeugen namentlich genannt hatte. Der ICTY ermittelt gegen Šešelj auch wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie Deportation, Folter und Mord. Das Urteil steht noch aus.

Radovan Karadži? war von 1992 bis 1996 Präsident der Republika Srpska. 1996 erließ das ICTY internationalen Haftbefehl gegen ihn. Karadži? wird vorgeworfen, während seiner Amtszeit für Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit – auch für das Massaker von Srebrenica – verantwortlich zu sein. Er versteckte sich in Serbien und wurde 2008 schließlich verhaftet. Bis heute weist er jede Schuld von sich. Sein Prozess vor dem ICTY ist noch nicht abgeschlossen.

Boris Tadi? war der Vorgänger von Tomislav Nikoli? und von 2004 bis 2012 Präsident der Republik Serbien. Er war der erste serbische Präsident, der 2004 Bosnien und Herzegowina nach dem Bosnienkrieg besuchte und sich für die Kriegsverbrechen, die die Serben begangen hatten, entschuldigte. Tadi? forderte jedoch auch eine Entschuldigung für die an den Serben verübten Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen.

Milorad Dodik ist seit 2010 Präsident der Republika Srspka. Seit 2006 leugnet Dodik konsequent die zahlreichen Verbrechen, die serbische Einheiten in Bosnien und Herzegowina während des Krieges von 1991 bis 1995 begangen haben. Er streitet auch das Massaker von Srebrenica ab, bei dem serbische Truppen 1995 mehr als 8.000 muslimisch-bosnische Jungen und Männer getötet hatten.