23.04.2005

Der Nordosten Indiens

Unabhängigkeitsbewegungen in Nordostindien

 

Die Unionsstaaten im Nordosten Indiens (Assam, Arunachal Pradesh, Manipur, Meghalaya, Mizoram, Nagaland, Sikkim, Tripura) unterscheiden sich in ihrer Geschichte und den zahlreichen dort lebenden Ureinwohnergemeinschaften und Nationalitäten deutlich von der Bevölkerung im Rest Indiens. Delegierte aus dieser Region berichten immer wieder, dass sie auf dem Flughafen in New Delhi wie Ausländer aus dem südostasiatischen Raum behandelt werden. Die nordöstlichen Unionsstaaten bilden für die nationale Regierung Indiens eine enorm wichtige strategische Pufferzone zum benachbarten China. Ihr Ruf nach Unabhängigkeit wird von der Zentralregierung in Neu Delhi entsprechend mit brachialer Gewalt beantwortet.

In den Bundesstaaten Assam, Manipur, Mizoram und Nagaland, in denen nationalistische Guerillabewegungen aktiv waren und sind, galt lange Zeit der Ausnahmezustand, der "Armed Forces (Special Powers) Act" von 1958. Die Ausnahmeregelung stattete die Sicherheitskräfte mit außerordentlichen Befugnissen für Festnahmen, Haftzeiten und Durchsuchungen aus. Verfassungsmäßig garantierte Bürgerrechte wurden außer Kraft gesetzt. Wer in den Verdacht geriet, Separatismus zu befürworten, musste mit Verhaftung, Mord und Folter rechnen. Schwere Menschenrechtsverletzungen gehörten zum Alltag in Nordostindien. Das Notstandsgesetz wurde inzwischen teilweise aufgehoben, die Berichte über Menschenrechtsverletzungen sind allerdings kaum weniger geworden.

Nagalim

"Naga" ist ein Sammelbegriff für ca. drei Millionen Angehörige von 16 größeren und 20 kleineren Volksgruppen. Die Nagas sprechen eine sino-tibetische Sprache. Ihre Vorfahren wanderten im 10. Jahrhundert aus der Mongolei in das waldreiche Hügelland im Grenzgebiet zwischen dem heutigen Indien und Burma ein. Ihr ursprüngliches Siedlungsgebiet wurde nach der erzwungenen Integration in das unabhängige Indien aufgesplittert. Der heutige Bundesstaat Nagaland umfasst nur einen Teil der Naga-Bevölkerung, wenngleich sie dort die Bevölkerungsmehrheit bilden. Als Minderheiten leben die Nagas außerdem in den Bundesstaaten Manipur, Assam und Arunchal Pradesh. Im Norden Burmas siedeln schätzungsweise 100.000 Nagas. Die Nagas sind teils Anhänger von Naturreligionen, teils Christen.

Am 14. August 1947, einen Tag vor Indien, riefen auch die Naga ihre Unabhängigkeit aus. Doch ihr Wunsch nach Selbstbestimmung wurde ignoriert. Indien gliederte den "Naga Hills"-Bezirk ins eigene Staatsgebiet ein. 1963 entstand der indische Unionsstaat Nagaland. 1975 schloss die indischen Regierung mit dem Naga Nationalrat (Naga National Council/NCC) ein Abkommen, demzufolge die Nagas die indische Verfassung annehmen und ihre Guerillakämpfer die Waffen abgeben sollten. Einige Führer des NCC unterstützten das Abkommen, andere lehnten es ab. Die Führung der Nagas brach auseinander. 1980 gründete sich der National Socialist Council of Nagaland (NSCN), der als Guerillaorganisation den Unabhängigkeitskampf fortsetzte.

Im März 1995 erklärte die Regierung Indiens Nagaland und Teile des benachbarten Manipur zum Aufstandsgebiet. Die Vollmachten des Militärs wurden erweitert. Nagas wurden aus ihren Dörfern vertrieben, gefoltert und misshandelt, weil man sie verdächtigte, die Guerilla zu unterstützen. 1997 schloss die Führung des NSCN unter Isaak Chishi Swu mit der indischen Regierung einen Waffenstillstand, der allerdings durch Scharmützel und gewaltsame Übergriffe immer wieder zu scheitern droht.

Assam

Mit dem Begriff "Assam" assoziieren die meisten Menschen den Tee aus dem gleichnamigen indischen Bundesstaat. Nur wenige wissen, dass in einigen Teilen Assams bis heute Ausnahmezustand herrscht. Willkürliche Verhaftungen, Folter und Vergewaltigungen beherrschen das Land der Assami, die für Selbstbestimmung kämpfen. Sie fühlen sich durch den enormen Zuwandererstrom der letzten Jahrzehnte zur Minderheit im eigenen Land degradiert. Der Ruf nach Ausweisung der Zuwanderer wird immer lauter.

Der erste große Zuwandererstrom nach Assam erfolgte 1947 nach der Teilung Britisch-Indiens. Damals flohen 1,5 Millionen Hindus aus Ostpakistan (dem heutigen Bangladesch) nach Assam. Im Zuge des Unabhängigkeitskrieges Ostpakistans kamen mehrere Millionen muslimische Bengalen ins Land. Die Überfremdungsängste der Assami wuchsen. 1978 stellten die Bengalen die Mehrheit der Wahlberechtigten in Assam. Als bei den Wahlen 1983 auf Grundlage dieser Wählerlisten erneut abgestimmt wurde, explodierten die ethnischen Spannungen. Tausende Einwanderer wurden vertrieben, ihre Dörfer verbrannt. über 4.000 Menschen starben. Zwei Jahre später einigten sich die indische Regierung und die "All Assam Students Union" (AASU) vertraglich, die Einwanderung zu stoppen. Bisher geschah diesbezüglich jedoch wenig. Immer wieder kommt es zu blutigen Auseinandersetzungen.

Die Situation wird noch dadurch verkompliziert, dass zusätzlich zu den Assami auch andere ethnische Volksgruppen ihre Selbständigkeit einfordern. Besonders die 1,4 Millionen Bodo, die Ureinwohner des Brahmaputra-Tales in Assam wehren sich ebenfalls gegen die Überfremdung ihres Gebietes durch Siedler. Militante Gruppen überfallen Dörfer der Einwanderer, massakrieren die Bevölkerung und begehen Sprengstoffanschläge. Seit 1989 kämpfen die Bodo für einen eigenen Staat. Die bitteren Folgen des Kolonialismus bekommen so auch Santals, Mundas oder Oraons zu spüren, die zu Zeiten der britischen Herrschaft unter Zwang aus ihrer Heimat in Bihar in die Teeplantagen Assams verschleppt wurden und nun den Angriffen der um ihre Siedlungsgebiete fürchtenden Bodos ausgesetzt sind.

Das Königreich Sikkim

Zwischen Nepal, Tibet und Bhutan liegt das ehemalige buddhistische Königreich Sikkim. 1975 wurde Sikkim unter Zwang in die indische Union integriert. Für die ursprüngliche buddhistische Bevölkerung, die Bhutia-Lepscha, hat die Region Denjong einen bedeutenden kulturellen und spirituellen Wert. Hier wurde ihr erster König gekrönt und der Staat Sikkim gegründet. Die Gottheiten der Bhutia-Lepscha wohnen in Seen, Felsen und Bäumen der Region. Jeder Eingriff in die Natur bringt dem Glauben nach Unglück. Doch ohne Rücksicht auf die kulturelle Bedeutung des Landes baut die indische Regierung in Denjong das 30 Megawatt-Wasserkraftwerk Rathong-Chu.

Das Kraftwerksprojekt liegt am Rande des Naturschutzgebietes Kanchendzonga und grenzt an unberührte Wälder mit seltenen Pflanzen- und Tierarten. Hier liegt auch der Gletscher Rathong Chu. Durch globale Erwärmungen hat sich der Gletscher bereits um zwei Drittel zurückgebildet. Ein Wasserkraftwerk an dieser Stelle könnte eine Naturkatastrophe auslösen. Land und Mensch leiden unter der rücksichtslosen Ausbeutung. Die Sikkimesen werden für den Landverlust nur unzureichend entschädigt und arbeiten nun als schlecht bezahlte und gefährdete Tagelöhner in Industrieanlagen. Aus Protest wurde die Bürgerbewegung "Concerned Citizenship of Sikkim" (CCS) gegründet. Ihre spektakulären Aktionen erregen Aufsehen im ganzen Land.