27.08.2009

Der Gründer und Präsident der GfbV International / Society for Threatened Peoples International feiert am kommenden Mittwoch seinen 70. Geburtstag

Tilman Zülch, Gründer der GfbV, wird 70

Tilman Zülch, Gründer und Präsident der Gesellschaft für bedrohte Völker International / Society for Threatened Peoples International, wird am kommenden Mittwoch 70 Jahre alt. Geboren am 02.09.1939 in Deutsch-Libau / Nordmähren (Sudetenland), Flucht nach Ostholstein im Januar 1945, 1955-60 Engagement in der Bündischen Jugend, 1960 Abitur am Gymnasium Louisenlund, 1961 - 1968 Studium der Volkswirtschaft und Politik in Graz, Heidelberg und Hamburg, 1963 zweiter Vorsitzender des SHB (Sozialdemokratischer Hochschulbund), 1968 Gründung der Aktion "Biafra Hilfe" in Hamburg gegen den Völkermord an den Ibos und Aufenthalt in Biafra (Januar/Februar 1969). 1970 entstand aus der "Biafra-Hilfe" die "Gesellschaft für bedrohte Völker", seit 1978 deren internationales Büro in Göttingen, Mitglied der Jury des Weimarer Menschenrechtspreises.

 

Hauptanliegen der Gesellschaft für bedrohte Völker ist die Arbeit für ethnisch oder religiös verfolgte Gemeinschaften in allen politischen Systemen und auf allen Kontinenten. Die Menschenrechtsorganisation bekämpft Genozid, Ethnozid, Vertreibung und Rassismus. Sie setzt sich ein für die Rückkehr Vertriebener "in Würde" und die Integration an Leib und Leben gefährdeter politischer Flüchtlinge in ihren Aufnahmeländern. Zu den Prinzipien der GfbV, heute eine internationale Menschenrechtsorganisation, gehört gemäß ihrer Leitlinie "Auf keinem Auge blind" seit 1968 die politische und ideologische Unabhängigkeit, die u.a. von über 25.000 Mitgliedern, Förderern und Spendern garantiert wird. Die Gesellschaft für bedrohte Völker International hat "Beratenden Status beim Wirtschafts- und Sozialrat den Vereinten Nationen" (seit 1993) und "Mitwirkenden Status beim Europarat"(seit 1995). Sie hat nationale Sektionen und Büros in der Schweiz (Bern), Luxemburg, Österreich (Wien), Italien (Bozen/Südtirol), Bosnien-Herzegowina´(Sarajevo und Srebrenica), Deutschland (Göttingen und Berlin), und Arbil (Kurdistan/Irak) sowie Repräsentanten in den USA, Großbritannien und im Kosovo.

Die Gesellschaft für bedrohte Völker wurde schon früh von Persönlichkeiten wie Ernst Bloch, Helmut Gollwitzer, Günter Grass, Paul Celan, Robert Jungk, Martin Walser, Simon Wiesenthal, Ernst Tugendhat, Simone Veil, Freimut Duve, Rupert Neudeck, den Bischöfen Kurt Scharf und Heinrich Tenhumberg und später unter vielen anderen von Marek Edelman, Alfred Grosser, Johannes Rau, Rita Süssmuth, Christian Schwarz-Schilling, Erika Steinbach, Jovan Divjak, Mustafa Reis-ul-Ulema Ceric, Mirko Pejanovic, Smail Cekic, Stjepan Kljuic, Ralph Giordano und Daniel Cohn-Bendit unterstützt.

 

Zülch versteht Menschenrechtsarbeit als engagierten Einsatz für verfolgte Minderheiten. Für religiös und ethnisch Verfolgte einzutreten ist eine Verpflichtung, die sich vor allem für Deutschland und Österreich, nicht zuletzt aus den NS-Verbrechen und dem Holocaust ergibt: "Auschwitz", erklärte Heinrich Böll im März 1970 nach einem Gespräch mit Zülch über Biafra, "darf nicht zur Bremse, sondern muss zum Anlass für Brüderlichkeit werden." Vergangenheitsbewältigung in Deutschland, so Zülch, darf allerdings nicht dazu führen, andere historische Verbrechen wie die des Stalinismus, Maoismus, des europäischen Kolonialismus aber auch der Massenvertreibungen von Deutschen nach 1945 zu verdrängen und heutige Genozide zu tabuisieren. Seit den frühen 1970er Jahren bis heute dokumentierte die GfbV unter Leitung von Zülch die Völkermordverbrechen in Tibet, Ostbengalen, Osttimor, Westpapua-Neuguinea, an den Amazonas-Indianern, an den Kurden und assyrischen Christen des Nord-Irak, im Südsudan, in Ostslawonien und Bosnien Herzegowina und heute in Darfur. Sie trat für die Opfer ein und unterstützte ihre Forderungen. Um auf die Situation der indianischen Nationen aufmerksam zu machen, organisierte die Menschenrechtsorganisation bereits 1977/78 die erste große Deutschlandrundreise von indianischen Delegierten aus 16 merikanischen Staaten von Kanada bis Argentinien.

 

Mit der Herausgabe des seit Kriegsende ersten Buches über den lang tabuisierten Völkermord an Sinti und Roma und einer anschließenden dreijährigen Kampagne setzte Zülch 1979-1982 für die GfbV eine umfassende Berichterstattung in den deutschsprachigen Medien über diesen nationalsozialistischen Genozid in Gang, bewegte Bundespräsident Carstens und Bundeskanzler Schmidt zur öffentlichen Anerkennung der NS-Verbrechen an den deutschen und europäischen "Zigeunern", brachte eine erste Rentenlösung als Wiedergutmachung für die Jahre der Verfolgung von Angehörigen der ethnischen Minderheit auf den Weg, setzte die Eigennamen "Sinti" und "Roma" durch und initiierte die Wiedereinbürgerung von Angehörigen dieser Minderheiten aus den früheren deutschen Ostgebieten sowie die staatliche Förderung selbstverwalteter Sinti-und Roma-Büros, die es heute in den meisten Bundesländern gibt. Die seit 1979 im Zuge dieser Menschenrechtsarbeit entstehende Sinti-Bürgerrechtsbewegung führte diese Arbeit fort.

 

Nach langjährigem Engagement der Gesellschaft für bedrohte Völker auch für unterdrückte jüdische, krimtatarische und wolgadeutsche Minderheiten und Dissidenten in der Sowjetunion, gegen Genozid und Vertreibung in Afghanistan und gegen sowjetische Waffenlieferungen an Militärdiktaturen in der Dritten Welt erhielt Zülch von 1985 bis 1989 Einreiseverbot in die DDR. In seiner Stasi-Akte wurden Zülch und somit der Gesellschaft für bedrohte Völker subversive Tätigkeit gegen die DDR vorgeworfen. Nicht weniger absurd war die Observierung durch den Hamburger Verfassungsschutz (1973-1978) mit der Begründung, schwarz-afrikanische "Kommunisten" hätten die Menschenrechtsorganisation unterwandert. Die südsudanesischen und biafranischen GfbV-Mitglieder waren jedoch als Flüchtlinge auch Opfer sowjetischer Waffenlieferungen an die Regierungen ihrer Heimatstaaten geworden.

 

Zülch ist seit 1970 Herausgeber des Magazins "pogrom", des größten Fachblattes zur Situation ethnischer und religiöser Minderheiten und indigener Völker (Auflage heute 5.000). Die Zeitschrift erscheint im 40. Jahrgang. Bereits im Dezember 1989 initiierte er die Gründung der GfbV-DDR in Ost-Berlin, an der sich auch Vertreter der sorbischen Minderheit und viele langjährige Freunde der Menschenrechtsorganisation beteiligten, die sich jetzt offiziell engagieren durften. Im Januar und März 1990 veröffentlichte er eine Dokumentation über die Vernichtung von etwa 60.000 Deutschen in den Konzentrations- und Internierungslagern der sowjetischen Besatzungszone (1945-1950), die breiten Eingang in die Medien der Noch-DDR sowie in führende westdeutsche Tageszeitungen und Magazine fand.

 

In den Jahren 1987/88 und 1990/91 engagierte sich Zülch, gemeinsam mit Alexander von Sternberg, gegen deutsche Waffenlieferungen an den Irak, vor allem durch die hessischen Firmen "Pilot Plant" und "Karl Kolb", die am Aufbau einer irakischen Giftgasindustrie führend beteiligt waren. Im August 1987 wurde die GfbV dann vom Bonner Landgericht mit einer Strafe von zwei Mal DM 500.000 für den Fall der "wiederholten Verleumdung" der beiden Firmen belegt. Untersagt wurde die Behauptung, diese hätten die Vernichtung kurdischer und assyrisch-aramäischer Dorfgemeinschaften ermöglicht. Das Gerichtsurteil wurde dann später vom Bonner Oberlandesgericht aufgehoben. Die verantwortlichen Firmenleiter wurden drei Jahre später in Untersuchungshaft genommen. Im September 1990 deckte Zülch den Bruch des Waffenembargos gegen den Irak durch die Firma MBB auf. Kontinuierlich wandte sich die GfbV gegen Waffenlieferungen der Bundesrepublik an Diktaturen und in Kriegs- und Genozidregionen.

 

Seit April 1991 setzte sich Zülch besonders für die Opfer von Angriffskrieg und Genozid in Ostslawonien, Bosnien, der Krajina, dem Kosovo und gegenwärtig für die kosovarischen Roma, die von albanischen Extremisten verfolgt werden, ein. Er publizierte das erste in westlichen Ländern verschienene Buch über den Genozid an bosnischen Muslimen, auf dessen Vorab-Manuskript sich der damalige deutsche Post- und Telekommunikationsminister Christian Schwarz-Schilling berief, als er aus Protest gegen die Bosnienpolitik der Bundesregierung seinen Rücktritt erklärte. 1999 gab Zülch für die GfbV Dokumentationen über den Genozid an den Kosovo-Albanern sowie über die Vertreibung der Roma und Aschkali im Kosovo heraus. Diese GfbV-Medienarbeit erhielt für Bosnien 1992 bis 1995 weit über Deutschland hinaus ein internationales Echo in Westeuropa und Nordamerika. Gegenwärtig führt die GfbV eine

Menschenrechtskampagne gegen die Abschiebung langjährig in Deutschland ansässiger Flüchtlinge und ihrer Kinder.

 

EHRUNGEN

 

1982: Geo-Umweltpreis

1993: Ehrenmitgliedschaft des Bundes Stalinistischer Verfolgter e.V., Landesverband Sachsen-Anhalt

1996: Niedersachsenpreis für Publizistik, überreicht von Ministerpräsident Gerhard Schröder

1996: Silberorden des Wappens des (multiethnischen) Präsidiums der Republik Bosnien und Herzegowina, überreicht von Präsident Alija Izetbegovic

2001: Ehrenmitgliedschaft des Verbandes der weiblichen Lagerhäftlinge Bosnien Herzegowinas

2001: Jahresplakette des "Bundes der Vertriebenen" (BDV) "Für den Einsatz um die Menschenrechte der deutschen Vertriebenen"

2002: Bundesverdienstkreuz

2003: Menschenrechtspreis der Sudetendeutschen Landsmannschaft (2002 erstmals an Emilie Schindler verliehen)

2003: Göttinger Friedenspreis als "Anerkennung des Lebenswerkes"

2006: "Srebrenica Award against Genocide" 2006

2006: Menschenrechtspreis "Sloboda" (Freiheit) des Antikriegszentrums Sarajewo

 

AUSGEWÄHLTE BUCHPUBLIKATIONEN

 

* Biafra, Todesurteil für ein Volk?; gemeinsam mit Klaus Guercke, Lettner Verlag Berlin 1968, mit einem Vorwort von Golo Mann

* Von denen keiner spricht. Verfolgte Minderheiten, Rowohlt, Reinbek 1979

* In Auschwitz vergast, bis heute verfolgt - zur Situation der Sinti und Roma in Europa, Rowohlt, Reinbek 1979, mit einem Vorwort von Ernst Tugendhat

* Die "Zigeuner", verkannt, verachtet, verfolgt; gemeinsam mit Donald Kenrick und Grattan Puxon, Niedersächsische Landeszentrale für Politische Bildung, Hannover 1980

* Aufstand der Opfer - Verratene Völker zwischen Hitler und Stalin, gemeinsam mit Johannes Vollmer, pogrom Taschenbücher, Göttingen 1996

* Völkermord an den Kurden, Luchterhand, Hamburg/Zürich 1991

* Genozid im Irak - Verfolgung und Vernichtung von Kurden und assyrischen Christen 1968 bis 1990, gemeinsam mit Inse Geismar, Menschenrechtsreport der GfbV, Göttingen 1991

* "Ethnische Säuberungen" - Völkermord für Großserbien", Luchterhand, Hamburg/Zürich 1993 / "Etnicko ciscenje" - Genocid za "Veliku Srbiju", Sarajevo 1996

* Die Angst des Dichters vor der Wirklichkeit, 16 Antworten auf Peter Handkes "Winterreise nach Serbien", Steidl Verlag, Göttingen 1996 / Pjesnikov Strah od stvarnosti - 16 odgovora na P. Handkeovo "Zimsko Putovanje u Srbiju", Sarajevo 1997, Vijece Kongresa bosnjackih intelektualaca i institut za istrazivanje zlocina protiv covjecnosti i medunarodnog prava

* Bis der letzte "Zigeuner" das Land verlassen hat - Massenvertreibung der Roma und Aschkali aus dem Kosovo; mit einem Appell von Günter Grass; Menschenrechtsreport der GfbV, Göttingen 1999

* 40 Jahre Gesellschaft für bedrohte Völker, Von Biafra bis Darfur, bedrohte völker-pogrom, Göttingen 2008

 

 

Tilman Zülch ist erreichbar unter politik@gfbv.de