13.11.2006

Das Recht auf Kälte

Bedrohte Ökosysteme

aus: bedrohte völker_pogrom 238, 4/2006
Klimaveränderung als Menschenrechtsverletzung. Besonders schwerwiegend sind die Folgen für indigene Völker.

Françoise Hampson, Expertin der UN-Unterkommission zum Schutz der Menschenrechte und Mitglied der UN-Arbeitsgruppe Indigene Bevölkerungen (UNWGIP), legte 2004 und 2005 einen Überblick vor, der sich mit der Lage von indigenen Völkern beschäftigt, die durch veränderte Umwelt- und Klimabedingungen vor großen Überlebensproblemen stehen. Françoise Hampson berichtet über indigene Territorien, denen das Verschwinden droht, oder über indigene Völker, die im Angesicht naher Notlagen durch Naturereignisse zwangsweise von ihren Gebieten umgesiedelt oder vertrieben werden. Die Ursachen derartig gravierender Eingriffe in die Lebensverhältnisse liegen im Ansteigen des Meeresspiegels infolge der Klimaerwärmung, in der Verdrängung von Süßwasser durch Salzwasser oder in der buchstäblichen Verwüstung großer Landstriche durch extrem umweltfeindlichen Ressourcenabbau. Besonders betroffen sind indigene Territorien mit empfindlichen Ökosystemen, wie sie etwa in der Arktis, in borealen und tropischen Regenwäldern sowie im Gebirge vorkommen oder auf Inseln im Pazifik, in der Karibik und im Indischen Ozean.

Als vom Untergang potenziell bedroht gelten etwa Tuvalu, Nauru, Kiribati, die Salomon-Inseln, die Malediven und die Bahamas. Einen großen Teil seiner Landmasse zu verlieren droht auch Bangladesh. Ian Aujare-Zazao, ein indigener Repräsentant der Salomon-Inseln beim Montrealer Klimagipfel im November 2005, machte mit drastischen Worten auf die drohende Überflutung aufmerksam.

Im nördlichen Polarmeer erleben die Inuit die Folgen der Klimaerwärmung ebenfalls schon hautnah. Sheila Watt-Cloutier, die Vorsitzende der Inuit Circumpolar Conference (ICC) reichte im Washingtoner Büro der Interamerikanischen Menschenrechtskommission Klage wegen Verletzung von Menschenrechten aufgrund der vor allem in den USA weiter ungehinderten Emission von Treibhausgasen ein. Die Klage soll die USA dazu bringen, Höchstgrenzen für die Emissionen festzulegen sowie sich endlich zur internationalen Zusammenarbeit aufzuraffen. Außerdem sollen die USA verpflichtet werden, zusammen mit den Inuit einen Plan auszuarbeiten, wie die jetzt schon eingetretenen gravierenden Folgen der Klimaveränderung abgefedert werden können.

Das Schmelzen von Gletschern im Himalaya beeinträchtigt auf indischer Seite vor allem in den trockenen Monaten die Versorgung mit sauberem Wasser just jener abgelegenen ländlichen Gebiete, die als Rückzugsgebiete der wenigen verbliebenen Adivasi ("erste Siedler") gelten. Nicht nur die Wasserversorgung ist betroffen, sondern die biologische Vielfalt und damit die bisherige Grundlage der Nahrungssicherheit der Gemeinschaften. Soweit die indische Regierung nach Lösungen sucht, findet sie ohne Konsultation oder gar Beteiligung der Adivasi statt. Es gab bereits erste Umsiedlungen von lokaler Bevölkerung im nordöstlichen Bundesstaat Arunachal Pradesh – ähnlich wie in Indonesien – auf Territorien der Adivasi, ohne diese zuvor in Kenntnis gesetzt oder gar gefragt zu haben. Indonesien missbrauchte in den 1970er Jahren zerstörerische Naturereignisse, um davon betroffene lokale Bevölkerungen zu evakuieren und strategisch auf indigenen Territorien, etwa in West-Papua, anzusiedeln und die indigenen Gemeinschaften zu verdrängen.

In Nord-, Mittel- und Südamerika treten Verwüstungen und nachhaltige regionale Klimaveränderungen vor allem im Zusammenhang mit Ressourcenabbau auf. Die Peabody Western Coal Company in Arizona ruiniert nicht nur den sakralen Black Mesa der Dineh und Hopi, sondern greift tief in das ökologische Gleichgewicht der ganzen Region ein und untergräbt die kulturelle wie physische Existenz der lokalen Bevölkerung. In Guatemala, Ecuador, Kolumbien, Peru oder Bolivien vergiften Erdöl- und Gasexplorationen auf Jahrzehnte die überlebensnotwendige Umwelt von Dutzenden indigener Gemeinschaften, bringen ganze Ökosysteme zum Absterben und verunmöglichen die historisch gewachsene Lebensplanung zukünftiger Generationen. Die Abwanderung insbesondere junger Menschen in andere Gebiete oder Städte ist vorgezeichnet.

In ähnlicher Weise zerstörerisch für Region und Klima vollzieht sich der Ressourcenabbau in Sibirien (vgl. pogrom/bedrohte Völker Nr. 235, 1/2006). Zu diesen Verheerungen kommt in der Russischen Föderation die politisch gewollte Privatisierung der elementaren Naturressourcen wie Wasser und Wald hinzu, so dass bei ungebrochener Fortsetzung dieser Prozesse vom traditionellen und selbstbestimmten Lebensentwurf etwa der Nivkhi, Nanai und Ulta auf Sachalin nichts mehr übrig bleiben wird.

Zusätzlich zum Verlust an Land, an Ressourcen für die Generationenvorsorge, an regionalem Charakter und religiösen Stätten droht auch der Wegfall zentraler rechtlicher Normen bis hin zur Frage, inwieweit die Geflohenen, Umgesiedelten oder Vertriebenen den Status des "indigenen Volkes" verlieren, wenn die Gemeinschaften etwa in einem anderen Land Zuflucht suchen müssen. Sie bleiben zwar anthropologisch betrachtet "indigen", würden aber im neuen (Bundes-)Staat politisch und rechtlich eher als "Minderheit" eingestuft, mit deutlich anderen Rechtsansprüchen als zuvor. Internationale Regelungen zu solchen Fragen existieren bislang nicht.

All die – drohenden – Zerstörungen einer vormals menschliches Leben ermöglichenden Umwelt sind Ergebnis eines Prozesses, an dem Eingriffe durch den Menschen ein gehöriges Maß an Mittäterschaft aufweisen. Solange die zerstörerischen Eingriffe sich fortsetzen, werden Menschenrechte verletzt.

Die Betroffenen sind nicht mehr bereit, dies hinzunehmen. Seit langem nehmen indigene Repräsentanten an den Folgekonferenzen zum Kyoto-Protokoll teil. Am Klimagipfel 2005 in Montréal beteiligten sich indigene Repräsentanten aus der Arktis, den USA, Kanada, Mexico, Ecuador, Panamá, Norwegen, Russland, Grönland, Indien, Neuseeland und verschiedenen Inseln im Pazifik. Zu Tausenden, vor allem aus den USA und Kanada, gingen sie zusammen mit Umweltschützern zum Protest auf die Straße. Beeindruckt werden sollten nicht nur die Regierungen. Das Protestpotenzial gezeigt bekamen auch die Industrieunternehmen, die wesentlich zur menschlich-induzierten Klimaveränderung beitragen. Im Konferenzgebäude verhandelten indigene Delegierte allerdings überwiegend mit Regierungsdelegationen über rasche Maßnahmen zur Reduzierung wenigstens der Treibhausgasemissionen.

Die Vereinten Nationen und ihre Sonderorganisationen beginnen, sich dem Problem auch unter dem Gesichtspunkt gravierender Menschenrechtsverletzungen anzunehmen. Françoise Hampson ist dabei, einen Kontroll- und Schutzmechanismus auszuarbeiten, der zumindest extreme Beeinträchtigungen der Lebensbedingungen indigener Völker denunzieren hilft und die Regierungen zum Handeln auffordert oder gar zwingt. Eigentlich müssten die Regierungen ein großes Interesse an solchen Warnsystemen haben, da die klimatisch bedingten, drohenden Wanderungen ganzer Völker nicht nur kulturelle Verwerfungen mit sich bringen, sondern ernsthaft den Frieden von Regionen bedrohen. Soviel Weitsicht und Weisheit ist bei Regierungen jedoch eher die Ausnahme; wir sollten sie also damit nicht alleine lassen.

 

[ Quellen ]

- Françoise Hampson; The human rights situation of indigenous peoples in States and other territories threatened with extinction for environmental reasons. UN-Dokumente Nummer E/CN.4/Sub.2/2004/CRP.1 und E/CN.4/Sub.2/2005/28

- Indian Country Today; Indigenous peoples voice urgency on global warming. Ausgabe 5. Januar 2006

- Indigenous Peoples Caucus; Quito-Declaration regarding the process of the Framework Convention on Climate Change. Quito, Mai 2000

- Indigenous Peoples Caucus; Indigenous Peoples Statement to the Eighth Session of the Conference of the Parties. Klimagipfel New Delhi, Oktober / November 2002

- Rodolfo Stavenhagen; Report of the Special Rapporteur on the situation of human rights and fundamental freedoms of indigenous people. UN-Dokument Nummer E/CN.4/2005/88