26.04.2005

Das Muster von Wounded Knee

In diesem kleinen Fleck auf dem Land der Oglalla-Lakota steckt die Formel, die das Verhältnis der US-Regierung zu den Ureinwohnern definiert. Vor 30 Jahren blickte die Welt auf Wounded Knee. Ein Rückblick.

28. Februar 1973. Sondersitzung im Pentagon. Draußen liegt Schnee. Alexander Haig, der stellvertretende Stabschef der US-Armee lässt seine besten Männer kommen. Es gibt Probleme im Westen, die historischen Feinde sind über Nacht auferstanden. Eigentlich sollte so etwas Routine sein, doch der letzte Einsatz gegen Indianer liegt immerhin 83 Jahre zurück. Wounded Knee im Dezember 1890, ein eisiger Winter: An der Biegung des Flusses Cankpe Oki (Wounded Knee) standen über 300 unbewaffnete Männer, Frauen und Kinder der Minneconjou-Lakota, angeführt von ihrem lungenkranken Häuptling Big Foot, der 7. US-Kavallerie und zwei Kanonen gegenüber. Das heißt, die Indianer waren nicht ganz unbewaffnet, viele Frauen hatten Messer und unter den Kriegern gab es zwei mit Gewehren. Von den Indianern überlebte nur eine Handvoll, die Armee hatte keine Verluste zu beklagen. Die gefrorenen Leichen der Indianer wurden in einem Massengrab beerdigt, die Soldaten erhielten in Washington die Ehrenmedaille. Das Massaker beendete den Jahrhundertkrieg gegen die Ureinwohner. Von nun an waren alle Stämme auf Reservate aufgeteilt. Die Indianerfrage galt als gelöst.

Wir wissen nicht, ob General Haig an diesem Morgen im Februar 1973 an das letzte Jahrhundert dachte, als er zwei seiner besten Leute heraus griff und beauftragte, sich der Sache anzunehmen. Colonel Volney Warner von der 82. Division der Luftwaffe und Colonel Jack Potter von der Sechsten Armee, beide mit Vietnam-Erfahrung. Ihr Ziel: Wounded Knee in South Dakota. Sie sollten, das war Teil des Befehls, bei diesem Auftrag im Dienst keine Uniform tragen. Die Zeiten hatten sich geändert, die Medien sollten nicht sofort merken, dass die Armee im eigenen Land eingriff. Denn das war seit dem Bürgerkrieg nicht mehr passiert; im übrigen fehlte die notwendige Kriegserklärung ebenso wie der Sonderbefehl des Präsidenten, der Richard Nixon hieß. Aber es gab einen Beschluss aus den Sechziger Jahren, mit dem Titel Garden Plot – Verschwörung im Garten – und auf den stützte sich Haig. Garden Plot sollte Anwendung finden, wenn das Sozialgefüge der USA von Kräften innerhalb des Landes bedroht war. Für diesen Fall war ein Zusammenwirken aller Verteidigungskräfte vorgesehen: Armee, Marine und Luftwaffe mit der Nationalgarde, den US-Marshals und der Highway Patrol.

Alexander Haig war zufrieden mit seiner Entscheidung. Zu den Partnern vor Ort gehörte auch noch das FBI, das seinen Plan COINTELPRO anwenden wollte, eine Unterwanderungsmethode, die bereits bei den Black Panthers angewandt worden war. Und dann gab es noch die indianische Reservatspolizei, sowie eine vom Stammesrats-Vorsitzenden Dick Wilson eingesetzte Privattruppe, die GOONs. Haig und seine Berater einigten sich auf 17 Panzer, dazu Helikopter und Phantom-Bomber nach Bedarf, 130.000 Schuss Munition vom Typ M-16, 41.000 vom Typ M-1, 24.000 Leuchtraketen, zwölf M-79 Abschussrampen, 600 Patronen Tränengas, 100 M-40 Sprengkörper. Dann gingen die Männer zum Lunch. Es war Mittag am 28. Februar 1973, über Washington ließen die Wolken etwas Sonne durch.

In Wounded Knee wehte ein eisiger Wind, doch den spürten die Akteure kaum. Sie waren aus Minneapolis-St.Paul gekommen und nannten sich AIM, wie das englische Wort für Ziel; AIM stand für American Indian Movement. Die Bewegung wollte den Ureinwohnern helfen, die sich vom B.I.A. verraten sahen, und das waren die meisten. Das B.I.A. – Büro für Indianische Angelegenheiten im US-Innenministerium – favorisierte die good Indians, die guten Indianer, die bereit waren, mit dem weißen Amerika zu kooperieren. Die Guten nannten sich "progressives", um zu signalisieren, dass sie für den Fortschritt waren. Von der anderen Seite wurden sie geringschätzig "apples" genannt: Äpfel – außen rot, innen weiß. Die andere Seite, das waren die "traditionals", die Traditionalisten, die sich dem Ausverkauf indianischen Landes und indianischer Kultur entgegen stellten. Eine Stammesregierung, darauf legte Washington Wert, sollte sich tunlichst immer aus guten Indianern zusammensetzen.

Es waren die alten Frauen aus dem traditionellen Lager der Oglalla auf dem Reservat Pine Ridge, die die Idee hatten, AIM um Hilfe zu holen. AIM, da war man sicher, würde wissen, wie die Weltöffentlichkeit auf ihre Misere aufmerksam zu machen war. Ohne Solidarität aus dem Rest der Welt sahen sie ihren Kampf als verloren an. Das Reservat Pine Ridge führte in der US-Statistik mit Armut, Arbeitslosigkeit, Selbstmordhäufigkeit und geringer Lebenserwartung. Hinzu kam der Rassismus von South Dakota, dem Bundesstaat, in dessen Grenzen sich das Reservat befand. In South Dakota galt Indianermord zu jener Zeit immer noch als Kavaliersdelikt. Die "traditionals" wollten Öffentlichkeit, nicht zuletzt, um auf den Diebstahl ihrer heiligen Berge, der Black Hills, aufmerksam zu machen. Laut Vertrag von Laramie 1876 gehörte das Bergmassiv den vereinigten Stämmen der Lakota und Dakota. Wie man in Washington über Verträge mit indianischen Nationen dachte, zeigt die Statistik: alle 371 Verträge hatten die USA einseitig gebrochen.

Die Indianer von AIM wussten, dass sie ohne Fernsehen keine Chance hatten. Nur was im Fernsehen zu sehen war, würde von der Öffentlichkeit als wirklich betrachtet werden. Um das Fernsehen anzulocken, war es nötig, den Erwartungen zu entsprechen: Als Indianer mussten sie also so agieren, wie es das weiße Amerika von den Ureinwohnern erwartete. Dazu gehörten Trommeln, Gesang, Fransen, lange Haare, Gesichtsbemalung, Gewehre – und ein historischer Bezug: Man entschloss sich, die Trading Post von Wounded Knee, einen Souvenir- und Gemischtwarenladen, und das Gelände um den Friedhof zu besetzen. Geiseln wären für die Medien nicht schlecht, meinte einer der Anführer. Der Inhaber des Ladens und seine Familie erklärten sich einverstanden, zu elft die Rolle der Geiseln zu übernehmen, um durch ihre Anwesenheit, vorschnelle übergriffe der Polizeikräfte zu verhindern.

Das Militär rückte an, und mit ihm die Medien. Vielleicht wäre es außer den zwei Toten auf indianischer Seite zu größerem Blutvergießen gekommen, wenn die Belagerung nicht von den Augen der internationalen Öffentlichkeit beobachtet worden wäre. Der Ausnahmezustand dauerte 71 Tage. Immer deutlicher offenbarte sich, dass der Aufstand von symbolischem Charakter war und allein zum Ziel hatte, in einen fruchtbaren Dialog mit der US-Regierung zu treten. Doch diese Regierung schien den Dialog mit Waffen zu bevorzugen. Die Strafprozesse gegen die Aufständischen wurden später niedergeschlagen. Als Richter Fred Nichols feststellen musste, dass sämtliche Telefonate der Angeklagten mit ihren Anwälten vom FBI abgehört wurden, sich außerdem das Weiße Haus weigerte, Gesprächsprotokolle zu Wounded Knee dem Gericht auszuhändigen, stellte er die Verfahren ein. Von Nichols ist der Ausspruch überliefert, er habe bisher an die Amerikanische Verfassung, die Flagge und Apple Pie geglaubt. Davon sei jetzt nur noch der Apfelkuchen geblieben. Anders William Janklow, der Gouverneur von South Dakota: Er gab öffentlich bekannt, die einzige Lösung des Indianerproblems sei eine Kugel durch den Kopf der militanten Indianerführer Dennis Banks und Russel Means.

Was wie ein Höhepunkt erschien, war jedoch nur der Anfang. Washington wollte sicher gehen, dass der Widerstand nicht wie ein Lauffeuer auf die anderen Reservate übergreifen würde. Unter dem Boden der Reservate lagen wertvolle Bodenschätze: Uran, öl, Kohle, Gold. Man brauchte kooperative Stammesregierungen. Würden die Reservate künftig von "traditionals" kontrolliert, wäre der ungehinderte Zugriff auf die Ressourcen gefährdet. Also wurden über 30 FBI-Agenten in Kampfanzügen auf dem Reservat Pine Ridge stationiert und die Privatpolizei des Stammesrats mit Bier und Munition versorgt, damit sicher gestellt war, was nach außen hin vertreten wurde: Ein interner Bürgerkrieg, den das FBI schlichten wollte. Doch es war ein Bürgerkrieg, den das FBI schürte. über 80 Reservatsbewohner wurden ermordet. Zwei Jahre dauerte der Terror. Die permanente Erinnerung an diese Ära der Angst ist Leonard Peltier, der seit 26 Jahren im Gefängnis sitzt. Er soll zwei FBI-Agenten ermordet haben. Die Beweise für seine Verurteilung hatte das FBI gefälscht, die ballistischen Untersuchungen, die ihn entlastet hätten, waren dem Gericht vorenthalten worden.

30 Jahre später ist die Erinnerung an 1973 wach wie eh und je. Noch immer stehen sich "progressives" und "traditionals" gegenüber, doch die Fronten verlieren an Härte. Noch immer sind die über 80 Morde aus der Zeit nach Wounded Knee nicht untersucht. Leonard Peltier wird noch immer kein neuer Prozess gewährt. Noch immer ist William Janklow ... nein, der Gouverneur, der aus seiner Einstellung zu Indianern nie einen Hehl gemacht hatte, ist seit kurzem von der Bildfläche verschwunden. Eine seiner letzten Amtshandlungen vor seinem Abgang war eine Intervention bei Präsident Bill Clinton, der signalisiert hatte, während seiner letzten Tage im Weißen Haus Leonard Peltier zu begnadigen. Noch immer wird Uran auf indianischem Land abgebaut und strahlender Müll abgeladen. Das geplante atomare Endlager im Yucca Mountain in Nevada ist ein Verstoß gegen einen alten Vertrag und ein neues Gesetz: Der Berg liegt auf dem Land der Western Shoshone, zugesprochen durch den Vertrag von Rubbey Valley 1863; der Berg hat außerdem spirituelle Bedeutung, somit wäre ein atomares Endlager auch ein Verstoß gegen den Native American Religious Freedom Act von 1978.

Doch das indianische Bewusstsein hat damals einen Stoß erhalten, dessen Schockwellen bis heute reichen und auch die neue Generation erfassen. Heute müssten die alten Frauen nicht mehr AIM um Hilfe bitten, denn die Gemeinschaft wäre selbst stark genug, politisch wie moralisch. Ein Netz von Rechtsanwälten spannt sich über den Kontinent und in über 30 indianischen Colleges und Universitäten wächst eine indigene Akademia heran, die ihren eigenen Wurzeln treu bleiben wird. Mit der weißen Umweltbewegung bestehen Bündnisse verschiedenster Art, denn man hat begriffen, dass die Vergiftung von Luft, Wasser und Boden beide trifft: Rot und Weiß. Man diskutiert Windkraft, eigene Währung, eigene Wirtschaftsformen. Russel Means, der Rebell von 1973 bewarb sich 2002 um das Amt des Stammesvorsitzenden von Pine Ridge – und hätte fast gewonnen. Der Stammesrat – ein Beispiel für Kooperation statt Konfrontation – erließ 2000 ein Gesetz, das den Reservatsbewohnern den Anbau von Hanf erlaubt, um sich mit eigenen Baustoffen zu versorgen. Zwar trat in den ersten beiden Jahren pünktlich zur Ernte das FBI auf den Plan und vernichtete die Pflanzen auf dem Feld von Alex White Plume, doch 2002 gelang das Vorhaben. In den US-Behörden scheint sich langsam die Erkenntnis durchzusetzen, dass Hanf nicht nur zum Rauchen da ist. Der Stamm der Oglalla-Lakota hat seine eigene Bisonherde und viele Familien entscheiden sich wieder für das Zusammenleben in der Großfamilie, der Tioshpaye.

30 Jahre später haben die Oglalla den Anschluss an die Welt gewonnen und sind im Internet präsent. Delegationen aus Pine Ridge reisen jährlich zur UNO nach Genf, wo sie sich bei der Working Group for Indigenous People mit Stammesvertretern aller Erdteile treffen. Arvol Looking Horse, der Hüter der Heiligen Pfeife, hat seinen festen Platz auf dem Weltgebetstag. Die Isolation ist aufgebrochen, und der Funke von damals hat panindianische Renaissance entflammen lassen. Die indianischen Nationen und Organisationen nehmen am Weltgeschehen teil und Anteil: Als US-Außenminister Colin Powell Anfang Februar 2003 davon sprach, "die USA werden im Falle eines Einmarsches im Irak die Ölfelder als Treuhänder für die Iraker verwalten" ging ein spöttischer Aufschrei durch die indianische Welt. "In trust", diesen Terminus kannten sie alle, von Küste zu Küste. In trust: Rohstoffe, Wasserrechte, Holzrechte, Weideland. Immerhin geht es um 10 Milliarden Dollar. Die indianische Rechtsorganisation Native American Rights Fund hat 1997 eine Klage wegen Veruntreuung gegen die US-Regierung eingereicht, die bis heute ohne Ergebnis durch die Instanzen wandert; auch 2003 ist nicht mit einem Urteil zu rechnen. Die Menschen im Irak sollten sich das Treuhandverhältnis im Indianerland anschauen, rät die Juristen-Organisation, dann sehen sie, was die Amerikaner meinen, wenn sie in trust sagen.