30.09.2004

Dankesrede von Alsia Muratcaus

Rede von Alisa Muratcaus, Präsidentin der Frauensektion beim Lagerinsassenverband – Kanton Sarajevo anlässlich der Verleihung des Victor Gollanzc-Preises der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV)

Dresden
Sehr geehrte Damen und Herren,

ich komme in Vertretung von über 20 000 vergewaltigten Frauen aus Bosnien. Ich spreche im Namen dieser Frauen, die alle Schrecken der Lager erlebt haben. Wenn jeder Moment ihres Leidens zu einem Regentropfen werden würde, würde der Regen heute beginnen und niemals wieder aufhören.

Ich komme im Namen derjenigen, die in Konzentrationslagern in ganz Bosnien unter menschenunwürdigen Umständen als Opfer einer wahnsinnigen Ideologie vergewaltigt, gefoltert, geschlagen wurden, nun Narben von Messerstichen, Verbrennungen von Zigaretten tragen. Sie wurden dem Hunger ausgesetzt, mussten Zwangsarbeit verrichten, wurden zu weißen Sklaven gemacht. Sie wurden behandelt wie Puppen ohne Seele.

Ich komme im Namen der Frauensektion der ehemaligen Lagerinsassen, welche im Jahre 2000 gegründet wurde und ca. 1.000 Mitglieder zählt. Die Mehrheit unserer Frauen kommt aus den Orten Ostbosniens wie Visegrad, Rogatica, Vlasenica, Foca, Cajnice. Dort wurden sie in Frauengefängnissen, Konzentrationslagern oder Zwangsbordellen gefangen gehalten. Diese damaligen Opfer von Vergewaltigung und Misshandlung sind heute, acht Jahre nach Kriegsende, sowohl von der heimischen Regierung als auch von der Internationalen Gemeinschaft vergessen und verlassen. Sie leben am Rande der Gesellschaft und führen einen neuen Kampf um das tägliche überleben. Die meisten dieser Frauen können nicht in die Orte zurückkehren, aus denen sie durch schreckliche Verbrechen vertrieben wurden. Denn diejenigen, die sie misshandelt haben, sind noch immer frei. Die Frauen haben vorübergehend in serbischen Häusern in Sarajevo Unterkunft gefunden. Doch sie müssen jetzt ausziehen, weil die ehemaligen Besitzer ihr Recht auf Rückkehr geltend machen. Die Mehrheit unserer Mitglieder ist gezwungen, in Kollektivzentren nach einer Unterkunft zu suchen, in denen sie die Toilette und Küche mit 50 anderen Bewohnern teilen müssen. Obwohl sie schwer traumatisiert sind, haben sie nicht einmal ein Minimum an Privatsphäre. Die Mehrheit unserer Mitglieder arbeitet nicht und hat kein Einkommen. Sie können nicht einmal die Kosten für eine medizinische Behandlung bezahlen. Viele von ihnen haben kleine Kinder, was ihre sowieso sehr schwierige Situation zusätzlich erschwert. Um zu überleben, müssen unsere Mitglieder die Dienste der Armenküchen in Anspruch nehmen.

Wenn alle Anwesenden hier in die Seele meiner Mevla, meiner Marija, Ramiza, Nada und anderer Frauen schauen und ihre Schmerzen sehen könnten, würden sie sehen, dass es aus jede einzelne Faser aus der Tiefe ihres Wesens schreit. Trotz allem hatten wir die Kraft, uns zu organisieren, zu verbinden und unsere Sektion zu einem "kleinen Bosnien" zu machen, indem wir Frauen verschiedener Nationalität versammeln. Wir haben uns entschieden, mit unseren Zeugenaussagen die Wahrheit über das, was uns passiert ist, ans Tageslicht zu bringen. Die Wahrheit ist unsere Waffe! Unsere Zeugenaussagen sind die Basis für die Verurteilung von Verbrechern, für die Gerechtigkeit.

Als ich nach Deutschland losgefahren bin, haben mir die Frauen ans Herz gelegt: "Sage ihnen, wie groß unser Schmerz ist, sage ihnen, dass das Verbrechen an uns ein Verbrechen gegen das Leben ist! Sage ihnen, dass das Verbrechen an uns zugleich auch ein Verbrechen gegen Gott ist. Denn vor Gott, seinem Schöpfer, muss sich jeder für sein Leben und seine Taten, gute und schlechte, verantworten. Sage ihnen, dass wir das Recht auf Leben möchten, die Verurteilung derjenigen, die dies verdienen. Wir möchten für unsere menschliche Würde und ihre Erhaltung kämpfen."

Im Namen all dieser Frauen und in meinem persönlichen Namen: Vielen Dank für diesen Preis, welcher für uns ein Ansporn sein wird, weiter die Wahrheit auszusprechen und nicht zu schweigen über die Verbrechen, die an uns begangen wurden. Vielen Dank für das Verständnis, welches wir so dringend benötigen. Vielen Dank dafür, dass Sie durch diese Würdigung der Opfer - durch den Victor Gollancz-Preis - es nicht zulassen, dass wir vergessen werden. Wir bitten den lieben Gott, dass niemand den Schmerz erleiden muss, den wir erlitten haben.

Zum Schluss möchten wir sagen, dass wir trotz des Schreckens, den wir erlebt haben, bereit sind zu vergeben. Doch eine Bedingung haben wir: Diejenigen, die uns diese Schmerzen zugefügt haben, müssen verhaftet und bestraft werden, damit die Gerechtigkeit zufrieden gestellt werden kann.