26.04.2005

Christliche Minderheiten in der Türkei

Auf der Lausanner Friedenskonferenz von 1923 segneten faktisch die Weltkriegsalliierten im Nachhinein die ethnisch-religiöse Säuberung des Osmanischen Reiches durch die Regierungen der Jungtürken sowie kemalistischen Nationalisten ab und verordneten die Zwangsaussiedlung der restlichen griechisch-orthodoxen Christen. Im türkischen Durchschnittsbewusstsein galten die christlichen Mitbürger, namentlich Griechen und Armenier, ohnehin seit den Balkankriegen als "innere Feinde". Entsprechend feindselig war und ist ihre Behandlung.

Durch Genozid und Vertreibung minorisiert, führten die christlichen Restgemeinschaften – Armenier, Griechen und Syrer (Assyrer, Aramäer) – gesellschaftlich und kulturell ein Schattendasein, das Mimikry und Assimilation bestimmen. Betrug der Anteil indigener christlicher Ethnien innerhalb der Grenzen der heutigen Türkei vor dem Ersten Weltkrieg ein Viertel der osmanischen Gesamtbevölkerung, so stellen Christen – einschließlich europäischer und amerikanischer Ausländer – Anfang des 21. Jh. weniger als ein Prozent der schätzungsweise 68,1 Millionen (2003) Einwohner der Türkei dar. Mit etwa 70.000 Angehörigen bilden Armenier die die "größte" Gruppe innerhalb dieser schwindenden Minderheit.

Wie schon zu osmanischer Zeit, verhängte die Republik Türkei 1942-1944 Sondersteuern über ihre nichtmuslimischen Bürger und schickte 4.000 bis 5.000 der schätzungsweise 28.000 als wohlhabend eingestuften Christen und Juden zur Zwangsarbeit, weil sie diese Steuern nicht aufbringen konnten. Jede außen- und innenpolitische Krise der Türkei führte zu staatlich gelenkten übergriffen auf Nicht-Muslime: in den 1950er bis 1970er Jahren Krisen mit Griechenland und Zypern, in den 1990er Jahren der aserbaidschanisch-armenische Konflikt in und um Berg-Karabach (1992-1994) sowie die militärisch ausgetragene Auseinandersetzung des türkischen Staates mit der PKK ("Terrorismusbekämpfung"). Aus dem Umfeld der rechtsextremistischen Partei MHP stammende Täter schleuderten Dutzende Male Brandbomben in armenische Kirchen Istanbuls, und in anonymen Faxbriefen wurden Listen mit Anschriften von Armeniern und Juden an türkische Geschäftsleute verschickt: "Macht keine Geschäfte mit Juden und Armeniern!"

Die ohnehin dünnen, vom Lausanner Vertrag (1923) garantierten Kollektivrechte, die Nichtmuslimen, also Christen und Juden, in der Türkei die Ausübung ihres Kultus ermöglichen sollen, wurden systematisch und zunehmend ausgehöhlt. Der syrisch-orthodoxen Kirche bestritt man selbst diese Rechte, so dass innerhalb der diskriminierten und benachteiligten christlichen Restgemeinden ein Benachteiligungsgefälle zwischen den weitgehend auf die einstige osmanische Hauptstadt Istanbul beschränkten Griechen und Armeniern sowie den bis in die 1960er Jahre überwiegend im Südosten der Türkei lebenden Syrisch-Orthodoxen entstand. Doch auch Istanbul bildet keineswegs eine Zufluchtsstätte für christliche Minderheiten. Hier kämpfen der ökumenische und der Armenisch-Apostolische Patriarch einen in der Mehrzahl der Fälle aussichtslosen Eingabe- und Beschwerdenkampf gegen staatliche oder städtische Willkür.

Die Mehrzahl der Christen hofft auf die EU-Vollmitgliedschaft der Türkei, von der sie sich eine Verbesserung ihrer Situation versprechen. Diese Erwartung wird von der armenischen Diaspora, der die meisten der rund neun Millionen armenischer Weltbevölkerung angehören, mitnichten geteilt. Diasporaangehörige erinnern daran, dass die Türkei eine einhundertfünfzigjährige Erfahrung mit europäischem Reformdruck besitzt und es bei der Verschleppung sowie Aushöhlung selbst von vertraglich zugesicherten Reformzusagen zu wahrer Meisterschaft gebracht habe. Eine solche Befürchtung könnte sich auch auf das Werk "Les réformes et la protection des chrétiens en Turquie 1673-1904" des französischen Autors A. Schopell stützen, der darin 645 Sultansdekrete, Vereinbarungen, Abkommen, Noten und Rundschriften zusammenstellte. Sie alle blieben ebenso unerfüllt wie das nach 30-jähriger Verzögerung 1913 von der osmanischen Regierung unterzeichnete Projekt zur Durchsetzung von Verwaltungsreformen in den "armenischen Provinzen", der zwei Jahre später der Genozid folgte. Ohne energische Kontrolle und den spürbaren politischen Willen der EU, so die Befürchtung vieler Armenier, könne auch jetzt jegliche Reformmaßnahme zugunsten der christlichen Minderheiten in ihr Gegenteil umschlagen und erneute Verfolgung und Hass auslösen.

Diese auf historische Erfahrung gestützte Befürchtung ist nicht von der Hand zu weisen. Nach Jahrzehnten fortgesetzter Hetze gegen Armenier und Griechen und der propagandistischen Instrumentalisierung der christlichen Minderheiten ist die Bevölkerung der Türkei vermutlich nicht in der Lage, unvorbereitet einer plötzlichen änderung der Minderheitenpolitik ihrer Regierung zu folgen. Um zu einer wirklichen Verbesserung der Lage zu finden, sind langfristige und nachhaltige Veränderungen in der gesellschaftlichen Erziehung, allen voran der staatlichen Schulpolitik, gefordert. Hier aber trifft es sich besonders misslich, dass das Hüseyin Çelik unterstehende (und von der EU üppig subventionierte) Erziehungsministerium noch im April 2003 negativ mit Dekreten auffiel, die türkische Schüler zur Teilnahme an einem Aufsatzwettbewerb gegen die angebliche "Völkermordlüge" der Armenier, Pontosgriechen sowie Syrisch-Orthodoxen zwang. Gleichzeitig wurde die türkische Lehrerschaft zur Teilnahme an Instruktionsmaßnahmen verpflichtet und Neuauflagen türkischer Schulbücher vorgenommen, in denen die nicht-muslimischen Minderheiten in der Türkei als "Spione", "Verräter" sowie "Barbaren" und ihre Schulen, Kirchen sowie Synagogen als "schädliche Gemeinden" bezeichnet wurden. Obwohl die Türkei inzwischen von der EU für die Dekrete gerügt worden sein, ist Hüseyin Çelik weiterhin im Amt.

Besteht also keine Aussicht auf Besserung? Erfreulicher als einzelne halbherzige Maßnahmen der Regierung ist der Bewusstseinswandel, der sich seit den 1990er Jahren bei manchen Türken vollzogen hat. Wissenschaftler, Menschenrechtler und Publizisten türkischer Abstammung oder Staatszugehörigkeit wagten seither im In- und Ausland, an das größte Tabu von Staat und Gesellschaft der Türkei zu rühren und öffentlich den Völkermord an den Armeniern zu erwähnen. Bis 2002 musste man als türkischer Bürger in einem solchen Fall mit strafrechtlicher Verfolgung wegen "Schmähung des Türkentums" oder "Aufrufs zum interethnischen Hass" rechnen. Ermutigend war auch, dass sich Hunderte, zum großen Teil auch prominente Bürger der Türkei öffentlich gegen die Çelik-Erlasse empörten und eine Protesterklärung der Bürgerinitiative "Geschichte für Frieden" unterzeichneten – ein deutlicher Hinweis darauf, dass das bisherige Meinungsmonopol des Staates bröckelt. Die türkische Lehrergewerkschaft verurteilte die Çelik-Maßnahmen in aller Deutlichkeit als "rassistisch". Wie stark die antiarmenische Indoktrination durch Medien, Schule und Politikeräußerungen insgesamt gewirkt hat, zeigt eine 1999 unter türkischen Jugendlichen durchgeführte Umfrage, bei der 76 Prozent die Armenier als unbeliebtes Volk nannten. In einer anderen Umfrage äußerten 44,2 Prozent der befragten Jugendlichen, dass es keine guten Armenier gebe.

Wie stark negativ besetzt gerade die Einstellung gegenüber Armeniern ist, zeigten im Februar 2004 auch die empörten Reaktionen auf die Enthüllung der Tageszeitung "Hürriyet", wonach Sabiha Gökcen, die erste Pilotin der Republik Türkei am Steuer eines Kampfflugzeuges und Adoptivtochter Mustafa Kemals, eine armenische Waise war. Dass der Staatsgründer ausgerechnet ein Kind armenischer Genozidopfer aus dem Assimilationsprogramm seiner späteren Sekretärin, der Nationalistin Halide Edib Advar, aufnahm und zur Türkin erzog, erscheint vielen Türken bis heute emotional unerträglich.

Tessa Hofmann (Freie Universität Berlin) leitet seit 1979 die Koordinationsgruppe Armenien der GfbV und ist Autorin bzw. Herausgeberin von einem Dutzend Sachbüchern zur Geschichte und Kultur Armeniens.