12.05.2005

China nutzt Anti-Terrorismus-Allianz zur Rechtfertigung eigener Menschenrechtsverletzungen aus

 

Die Autonome Region Xinjiang im Nordwesten Chinas steht am Scheideweg. China befürchtet, dass es in dieser abgelegenen, von den Uiguren Ostturkestan genannten Region zu neuen Unruhen kommen könnte. Erst kürzlich hat der chinesische Außenminister Tang Jiaxuan gegenüber seinen Kollegen aus Russland und Qatar geäußert, China sei ein Opfer des Terrors in Xinjiang. Die chinesische Führung betrachtet die muslimischen Uiguren als berechtigte Ziele der globalen Anti-Terror-Kampagne und vergleicht ihre Aktivitäten mit dem bewaffneten Widerstand in Tschetschenien und dem militanten Kampf im Nahen Osten. Nach den Angriffen vom 11. September versucht die chinesische Führung jetzt nicht nur, ihre bereits seit Jahren geführte Kampagne gegen die um Respektierung der Menschenrechte und ihrer religiösen Freiheiten kämpfenden uigurischen Aktivisten zu rechtfertigen. Beijing sucht nun auch nach internationaler Hilfe für seine Anti-Terror-Kampagne in Ostturkestan. Wir appellieren an die Europäische Union, jedem Missbrauch des weltweiten Kampfes gegen Terrorismus energisch entgegen zu treten. Die Europäische Union sollte jedes Ersuchen Chinas um aktive oder verdeckte Unterstützung seiner repressiven Politik in Ostturkestan öffentlich zurückweisen.

Die Menschenrechtslage in Ostturkestan verschlechtert sich zusehends. Seit den Terrorangriffen in New York und Washington D.C. hat China insbesondere im Westen Xinjiangs mit einer neuen und brutalen Repressionskampagne begonnen. In den chinesischen Medien wird über die enormen Anstrengungen berichtet, in Ostturkestan " Separatismus und Terrorismus auszulöschen". Dort sind vor kurzem Einheiten der bewaffneten Polizei und Tausende von Angehörigen der Volksbefreiungsarmee stationiert worden, darunter Sondertruppen, die sich aus Elitesoldaten der Militärregion Lanzhou und des Xinjiang Militärdistrikt zusammensetzen. Der Xinjiang Militärdistrikt hat kürzlich eine Schnelle Eingreiftruppe aufgestellt und an den Grenzen zu Afghanistan und Pakistan stationiert.

Beijings Elitetruppen üben im Westen Ostturkestans den Guerillakrieg. Die meisten von ihnen sind in Kashgar stationiert, der westlichsten Stadt Xinjiangs, nur 400 Kilometer von der Grenze entfernt. Zeugenberichten zufolge sollten Dutzende von mutmaßlichen uigurischen Aktivisten in Kashgar eingeschlossen worden sein. Europäische Journalisten, die vor kurzem die Stadt besucht haben, berichteten von willkürlichen Verhaftungen und Hinrichtungen ohne ordentlichen Prozess. öffentliche Schauverurteilungen wurden in dem Distrikt um Kashgar herum organisiert. Sicherheitskräfte in Urumqi gaben bekannt, sie hätten 210 Uiguren verhaftet und 10 uigurische Organisationen zerschlagen. Beijing hat seine Anstrengungen verstärkt, alle Bewegungen der Uiguren zur Förderung ihrer traditionellen Kultur und Religion zu unterdrücken. Nach den Anschlägen in den USA starteten die chinesischen Behörden die zweite Phase der "Schlag hart zu"-Kampagne, die im April 2001 begonnen worden war. In der ersten Phase der Kampagne zwischen April und August 2001 wurden mehr als 13.000 Uiguren verhaftet und mindestens 30 hingerichtet. Nur gegen uigurische politische Gefangene wurden Todesurteile ausgesprochen und auch vollstreckt.

Bei ihrer brutalen Unterdrückungskampagne machen die Sicherheitskräfte keinen Unterschied zwischen der großen Mehrheit jener Uiguren, die auf friedliche Weise Respektierung der Menschenrechte sowie ein Ende der chinesischen Unterdrückung fordern und der kleinen Gruppe Gewalttätiger. Menschenrechtler werden systematisch als "Separatisten", als "Spalter", "Terroristen" und "religiöse Extremisten" kriminalisiert. Doch mit jedem neuen Tag, an dem diese brutale Repression fortgesetzt wird, wird auch die Gewalt eskalieren und die Unterstützung der Uiguren für gewalttätige Handlungen zunehmen. Die Verweigerung von wirklicher Autonomie und Menschenrechten hat unter den Uiguren eine tiefgreifende Frustration entstehen lassen. Die großangelegten, von der chinesischen Führung unterstützten Bevölkerungsumsiedlungen schüren die Angst unter den Uiguren, zur Minderheit in ihrem eigenen Land zu werden. Offizielle Bevölkerungsstatistiken, die im November 2000 veröffentlicht wurden, weisen für die 1990er Jahre einen Bevölkerungszuwachs unter Han-Chinesen um 32 Prozent auf 7,5 Millionen und unter den Nicht-Han um 16 Prozent auf 11 Millionen Menschen aus. Das bedeutet, dass die Han, deren Bevölkerungsanteil 1949 bei gerade 4 Prozent gelegen hatte, mittlerweile einen Anteil von 41 Prozent der 18,5 Millionen Einwohner Xinjiangs haben. In der Inneren Mongolei und Tibet lassen sich die negativen Folgen dieser willkürlichen Bevölkerungspolitik für die Mongolen und die Tibeter schon heute beobachten.

Nach offiziellen chinesischen Statistiken leben die meisten uigurischen Bauern unterhalb der Armutsgrenze. Die Han-Chinesen jedoch, die seit der Besetzung Ostturkestans durch China 1949 dort einwandern, leben oberhalb der Armutsgrenze und haben einen deutlich höheren Lebensstandard, als die Uiguren. Zwar lag das Durchschnittseinkommen in Xinjiang im Jahr 2000 mit 900 $ knapp über dem nationalen Durchschnitt, doch außerhalb der von den Han dominierten Städte ist die Armut alarmierend. So lag das Pro-Kopf-Einkommen von zwei Dritteln der Landbevölkerung bei gerade 195 $. Uiguren klagen darüber, dass sie bei chinesischen Unternehmen keine Arbeit bekommen. Die staatliche Industrie ist von Han-Chinesen dominiert. In sensiblen Bereichen wie der öl- und Gasindustrie werden Uiguren nicht beschäftigt. Die Diskriminierung der Uiguren ist nicht auf die Autonome Region Xinjiang beschränkt. Wenn sie in anderen Landesteilen auf Reisen sind, werden Uiguren immer wieder von Sicherheitsbeamten willkürlich kontrolliert und es wird ihnen häufig der Aufenthalt in Hotels verweigert. Viele Herbergen im Osten Chinas, die häufig von Uiguren aufgesucht wurden, sind von den Behörden geschlossen worden, um die Bewegungsfreiheit der Uiguren in China einzuschränken. Das ist keine durch Terroranschläge verursachte Überreaktion, sondern Rassismus. Für die Einzeltaten einiger gewalttätiger Extremisten darf niemals deren gesamte ethnische Gruppe verantwortlich gemacht werden.

Wir sind in großer Sorge über die Versuche Chinas, engere Bindungen mit den zentralasiatischen Republiken zu knüpfen. China nutzt die enge Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich zwischen Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan, Usbekistan und Russland im Rahmen der Schanghai Organisation für Zusammenarbeit (Shanghai Cooperation Organisation / SCO) für seine eigenen Interessen aus, um die uigurischen Widerstandsbewegungen abzuwehren und zu zerschlagen. Mit überaus großem Erfolg hat sich China bereits die Unterstützung von Kasachstan und Kirgisien erworben. Beide Staaten wiesen uigurische Flüchtlinge, die angeblich an anti-chinesischen Aktivitäten beteiligt gewesen sind, aus.

Beijings umstrittene "Go West" - Entwicklungskampagne wird Ostturkestan sicherlich nicht befrieden. Die systematische Ausplünderung der öl- und Gasvorkommen in Ostturkestan und Tibet gegen den Willen der unterdrückten Bevölkerung wird hingegen die Opposition gegenüber der chinesischen Herrschaft verstärken. China wirbt weltweit für sein "Go West" - Programm. Als am 18. September 2001 hochrangige chinesische Politiker in Berlin eine Konferenz zum "Go West" - Projekt eröffneten, protestierten wir gegen diese unkritische Werbekampagne für unausgesetzte Unterdrückung. TV- und Rundfunkstationen, aber auch Wirtschaftsfachleute zeigten sich an Hintergrundinformationen über dieses höchst umstrittene Programm sehr interessiert.

Immer mehr europäische Unternehmen beteiligen sich an diesem neuerlichen Versuch, Ostturkestan und Tibet zu kolonisieren. So hat Siemens, eine der führenden europäischen Firmen für Hochtechnologie, 2001 die Telekommunikations-Netzwerke in Tibet und Xinjiang mit einem Kostenaufwand von 50 Millionen $ modernisiert. Wenn europäische Geschäftsleute nun mit der Prüfung von Investitionsmöglichkeiten in Xinjiang beginnen, sollten sie sich dabei bewusst sein, dass alle größeren Infrastrukturprojekte vom Nationalen Wirtschaftskomitee der Kriegszone Lanzhou (Lanzhou War Zone National Economy Mobilisation Committee) genehmigt werden müssen, das nur solchen Projekten positiv gegenübersteht, die sowohl militärischen als auch zivilen Zwecken dienen und bei deren Bauphase Vertreter der Armee zugegen sind.

Die multinationalen Ölkonzerne Shell, EXXON und Gazprom sind interessiert daran, in den Bau einer Gaspipeline von Ostturkestan nach Schanghai zu investieren. Seit Monaten warnt die Gesellschaft für bedrohte Völker davor, dass internationale Konzerne sich mitverantwortlich machen werden für die Eskalation der Gewalt in Ostturkestan. Wir haben ausdrücklich unsere Bedenken gegenüber jedweden internationalen Investitionen in dieses umstrittene Programm geltend gemacht, da wir befürchten, dass uigurische Aktivisten Anschläge auf die Pipeline verüben werden. Solche Anschläge wiederum würden den Chinesischen Behörden als Rechtfertigung dafür dienen, die Repression insgesamt zu verschärfen. Wir als Europäer sollten unsere Anstrengungen fortsetzen zu verhindern, dass europäische Unternehmen zusehends in die Repression in Ostturkestan verwickelt werden.

Seit Mitte der 1990er Jahre lenkt die Gesellschaft für bedrohte Völker immer wieder die Aufmerksamkeit der Europäischen Union auf die Menschenrechtskrise und die eskalierende Gewalt in Ostturkestan. Wir haben an die Europäische Union appelliert, Druck auf China auszuüben, damit die politischen Gefangenen in Ostturkestan unverzüglich freigelassen werden, damit die Massenverhaftungen und Exekutionen endlich ein Ende finden, damit der Zustrom Han-chinesischer Siedler gestoppt wird, damit eine echte Autonomieregelung verwirklicht und mit repräsentativen Vertretern der Uiguren der Dialog gesucht wird, um auf diese Weise die Krise friedlich beizulegen. Leider scheint die Europäische Union weit entfernt zu sein von einer umfassenden Chinapolitik, die sich der Förderung der Menschenrechte verpflichtet sieht. China konnte die Europäische Union erfolgreich davon überzeugen, öffentliche Kritik durch Dialog zu ersetzen. Und so zielt die Europäische Union noch immer darauf ab, gleichzeitig ihre Wirtschaftsbeziehungen auszubauen und den Dialog über politische Themen - einschließlich Menschenrechte - zu verstärken. Der zur Zeit praktizierte Menschenrechtsdialog hat jedoch keinerlei positive Auswirkungen auf die tatsächliche Menschenrechtssituation in Ostturkestan, die sich im Gegenteil kontinuierlich verschlechtert.

China konnte mit einer aggressiven Lobbying-Kampagne die Staaten der Europäischen Union ebenfalls dazu bewegen, sämtliche in der UN-Menschenrechtskommission geplanten Resolutionen fallen zu lassen. China will um jeden Preis den Gesichtsverlust vermeiden, der sich aus der Verabschiedung einer kritischen Resolution in der UN-Menschenrechtskommission ergeben würde. Diese Bemühungen Chinas, derartige Schritte von der Tagesordnung fern zu halten, dürfen nicht mit tatsächlichen Fortschritten verwechselt werden. Denn während die chinesische Führung mit einer Öffentlichkeitskampagne auf internationaler Ebene davon überzeugen will, dass sie sich an die Menschenrechte gebunden fühle, lässt sie gleichzeitig ihre Übergriffe gegen Uiguren, Tibeter, Mongolen, Falun Gong und die Demokratiebewegung eskalieren.

Dass die Europäische Union darin versagt, Initiativen zur Konfliktvermeidung in Xinjiang zu ergreifen und die Frage der massiven Menschenrechtsverletzungen in Ostturkestan auf internationaler Ebene zum Thema zu machen, hat schwerwiegende Konsequenzen: Die Gleichgültigkeit Europas trägt zu einer Vertiefung des Gefühls der Frustration unter den Uiguren und zur Radikalisierung der uigurischen Bewegung bei. Als Menschenrechtsorganisation beklagen wir diese Radikalisierung. Aber es wäre zu einfach, China allein für die Eskalation der Gewalt verantwortlich zu machen. Die Europäische Union, die Vereinigten Staaten von Amerika und andere westliche Staaten werden mitverantwortlich werden für diese wachsende Gewalttätigkeit in Ostturkestan, wenn sie nicht endlich ihren Einfluss auf die chinesische Führung und die Staaten Zentralasiens geltend machen, um weiteres Blutvergießen in Ostturkestan zu verhindern.