23.06.2005

China: 15. Jahrestag des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens

Göttingen
Am 4. Juni 2004 jährt sich zum 15. Mal das Tiananmen-Massaker der chinesischen Armee, dem 1989 in Peking hunderte Anhänger der chinesischen Demokratiebewegung zum Opfer fielen. Mit Panzern und Dum-Dum-Geschossen ging die Volksbefreiungsarmee brutal gegen chinesische Studenten und Arbeiter vor, die politische Reformen und eine Demokratisierung des Landes forderten. Begonnen hatten die Proteste nach dem Herzinfarkt und Tod des Politikers Hu Yaobang am 15. April 1989. Er war in der chinesischen Führung für politische Reformen eingetreten. Wochen der öffentlichen Proteste von Studenten und Arbeitern in mehr als 130 chinesischen Städten schlossen sich an, bevor sich die in der Bewertung der Demonstrationen zerstrittene Führung der Kommunistischen Partei entschied, das Aufbegehren um jeden Preis niederzuschlagen. Bis heute ist das wahre Ausmaß des Gemetzels auf dem Platz des Himmlischen Friedens und auf anderen Pekinger Straßen nicht bekannt. Die Tiananmen-Mütter, eine Vereinigung von mehr als 130 Angehörigen der Opfer des Blutvergießens, dokumentierte den Tod von 155 Menschen. Außerdem recherchierte die Selbsthilfeorganisation die Namen von 65 Verletzen. Doch vermutlich ist die Zahl der Getöteten und Verletzten weitaus höher, da viele Betroffene es aus Angst vor Repressalien nicht wagten, sich bei den Behörden nach dem Verbleib ihrer verschwundenen Angehörigen zu erkundigen.

Weltweite Empörung über brutale Repression

Mit Abscheu und Entsetzen reagierte die Weltöffentlichkeit auf das Tiananmen-Massaker. Regierungen in aller Welt verurteilten das brutale Vorgehen der Volksbefreiungsarmee. Der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl zeigte sich erschüttert und empört und sprach den chinesischen Studenten sein Mitgefühl aus. Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth erklärte, Deutschland wolle sich zwar nicht in die inneren Angelegenheiten Chinas einmischen, doch sei es unzulässig, dass ein Staat das Feuer auf seine eigenen Bürger eröffne. Aus Protest gegen das Vorgehen der chinesischen Führung verhängte die Europäische Union (EU) am 26. Juni 1989 ein Waffenembargo gegen die Volksrepublik China.

Bundeskanzler Schröder und Präsident Chirac wollen Sanktionen aufheben

15 Jahre nach dem Massaker will die Europäische Union nun dem Wunsch der chinesischen Regierung entsprechen und das Waffenembargo aufheben. Insbesondere Bundeskanzler Gerhard Schröder und der französische Staatspräsident Jacques Chirac sprachen sich in den vergangenen Wochen nachdrücklich für eine Beendigung des Waffenembargos aus. Der Bundeskanzler signalisierte in Gesprächen mit dem chinesischen Ministerpräsidenten Wen Jiabao im Dezember 2003, es sei "an der Zeit dafür", die Sanktionen aufzuheben (dpa, 1.12.2003). Das China von heute sei nicht mehr das der Panzer auf dem Platz des Himmlischen Friedens, hieß es zur Rechtfertigung von Schröders Beratern. China sei heute ein verlässlicher Partner in den Vereinten Nationen. Ähnlich argumentierte auch der französische Außenminister Dominique de Villepin, der im Januar 2004 erklärte: "Unser Gefühl ist, dass dieses Embargo aus einer Zeit der Beziehungen zwischen der Europäischen Union und China stammt, die heute überholt ist. China ist heute ein privilegierter Partner der EU und hat eine bedeutende und verantwortungsvolle Position in der internationalen Staatengemeinschaft" (BBC, 26.1.2004). "Dieses Embargo macht nicht länger irgendeinen Sinn", befand Staatspräsident Chirac auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem chinesischen Partei- und Regierungschef Hu Jintao (AP, 27.1.2004).

Hat sich die Volksrepublik China seit 1989 tatsächlich so tief greifend gewandelt, dass eine Aufhebung des Embargos angemessen ist und China Waffen aus Europa geliefert bekommen sollte? Sicherlich hat sich China in diesen 15 Jahren sehr verändert. Die Wirtschaftsreformen haben das Land zu einer der wichtigsten Welthandelsmächte gemacht. Zugleich ist vor allem in den ländlichen Gebieten die Kluft zwischen armer und reicher Bevölkerung größer geworden. Doch erst vor wenigen Tagen drohte die chinesische Führung Taiwan erneut mit einer militärischen Intervention. Die Menschenrechtslage wird immer katastrophaler, nicht nur in Tibet und Xinjiang (Ostturkistan): Folter, Todesstrafe, Arbeitslager, Unterdrückung der Meinungs-, Presse-, Religions- und Versammlungsfreiheit, Administrativhaft, unfaire Gerichtsverfahren - die Liste der Menschenrechtsverletzungen ließe sich beliebig fortführen.

Machtmonopol der Kommunistischen Partei darf nicht in Frage gestellt werden

Vor allem fehlt es an demokratischen Reformen, die dem einzelnen Bürger mehr Rechtssicherheit und Schutz vor Verfolgung gewährleisten sowie mehr Mitwirkung am politischen Leben einräumen. Zwar wurde die Wirtschaft umfassend reformiert, doch in allen anderen Bereichen des gesellschaftlichen und politischen Lebens hält die Kommunistische Partei an ihrem absoluten Machtanspruch fest. Wer das Machtmonopol der Partei und der politischen Führung in China in Frage stellt, dem drohen auch 15 Jahre nach dem Pekinger Massaker Isolationshaft, langjährige Gefängnisstrafen, Folter und Tod. Zwar lässt die chinesische Führung keine Panzer gegen die Praktizierenden der Meditationsgruppe Falun Gong auffahren, doch ihre Politik der systematischen Zerschlagung und Vernichtung Falun Gongs hat heute schon mehr Blutvergießen verursacht als das Massaker von 1989. Jede Woche kommen Anhänger von Falun Gong in Polizeistationen, Gefängnissen und Arbeitslagern aufgrund von Gewaltanwendung zu Tode. Seit Juli 1999 starben 960 von ihnen eines gewaltsamen Todes im Gewahrsam chinesischer Sicherheitskräfte.

Das brutale Vorgehen gegen Falun Gong hat System, wie die Repression gegen die chinesische Demokratiebewegung in den 90er Jahren zeigte. Als 1997/98 führende Dissidenten wie Wei Jingsheng und Wang Dan aus gesundheitlichen Gründen auf Bewährung freigelassen wurden, entstanden zahlreiche Organisationen, die sich wie die China Development Union für eine Demokratisierung des Landes einsetzten. Als schließlich mit der Chinesischen Demokratischen Partei erstmals offiziell eine Oppositionspartei registriert wurde, reagierte die chinesische Führung mit aller Härte und beendete gewaltsam den kurzen "Pekinger Frühling". Mehr als 25 führende Vertreter der neuen Partei wurden wegen "subversiver Aktivitäten" verhaftet und zum Teil zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. So muss Zhu Zhengming, ein führendes Mitglied der Chinesischen Demokratischen Partei, eine zehnjährige Haftstrafe verbüßen.

Wahrheit über Tiananmen-Ereignisse werden unterdrückt

Auch ihren Streit in den eigenen Reihen über den Umgang mit der Demokratiebewegung tabuisiert die chinesische Führung bis heute. Nachdem im Jahr 2001 mit der "Tiananmen-Akte" erstmals Geheimdokumente über die Auseinandersetzungen unter den Führern der Kommunistischen Partei über den richtigen Umgang mit der Demokratiebewegung im Ausland veröffentlicht wurden, ließen die chinesischen Behörden 23 Personen verhaften. Ihnen wurde vorgeworfen, die bislang geheim gehaltenen Gesprächsprotokolle ins Ausland geschmuggelt zu haben (AP, 3.6.2002). Chinas Staatsführung sprach dem Buch jeden Wahrheitsgehalt ab und bezeichnete es öffentlich als Phantasieprodukt. Tatsächlich nahm die Partei die Veröffentlichung der "Tiananmen-Akte" jedoch sehr ernst und beauftragte eine spezielle Sonderermittlungskommission, alle Personen zu verhaften, die an der Herausgabe des in China verbotenen Buches beteiligt waren. Im ganzen Land beschlagnahmte die Ermittlungskommission Dokumente, Fotos, Adressbücher sowie Video- und Tonbandaufzeichnungen.

Chinas Führung fürchtet den Geist der Reformer

Aus Angst vor einem Verlust ihres Machtmonopols werden bis heute auch die Kritiker des Militäreinsatzes in der Kommunistischen Partei zum Schweigen gebracht. So wird der heute 84 Jahre alte und schwer kranke ehemalige Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Zhao Ziyang, seit 15 Jahren unter Hausarrest gehalten und hermetisch von der Öffentlichkeit abgeschirmt. Zhao Ziyang hatte sich während der Krise im Mai 1989 für einen friedlichen Dialog mit den demonstrierenden Studenten ausgesprochen und insbesondere die von Ministerpräsident Li Peng und anderen Hardlinern erwogene Ausrufung des Ausnahmezustandes abgelehnt. Doch Zhao Ziyang konnte sich mit seinen vermittelnden Appellen nicht durchsetzen und wurde schließlich Ende Mai 1989 als Generalsekretär abgelöst. In der Öffentlichkeit trat Zhao Ziyang zuletzt am 19. Mai 1989 auf, als er die demonstrierenden Studenten bat, den Platz des Himmlischen Friedens zu räumen. Ein Tag später unterzeichnete Li Peng den Befehl über die Verhängung des Ausnahmezustandes in verschiedenen Stadtvierteln Pekings, der zur Eskalation der Gewalt in den Straßen der Hauptstadt führte.

Nach dem 4. Juni 1989 verlor Zhao Ziyang auch seine übrigen Ämter und wurde unter Hausarrest gestellt. Seit dem 15. Kongress der Kommunistischen Partei im Jahr 1997 und der Gründung der Chinesischen Demokratischen Partei dürfen ihn nur noch seine engsten Angehörigen in seinem streng bewachten Haus in Peking besuchen. Seine Proteste gegen den Hausarrest blieben unbeantwortet. Doch auch in diesem schwer kranken alten Mann sieht die chinesische Parteiführung eine Gefährdung ihres Machtmonopols. So fürchten die Strategen der Kommunistischen Partei seinen Tod. Denn dann könnte es – wie nach dem Ableben des Reformers Hua Yuobang im April 1989 – erneut zu einem offenen Aufbegehren der chinesischen Demokratiebewegung kommen.

Massaker wird weiter tabuisiert

Auch 15 Jahre nach der blutigen Niederschlagung der Protestbewegung lehnt die chinesische Führung jede öffentliche Diskussion und Neubewertung der Demonstrationen vom Frühjahr 1989 und des anschließenden Massakers der Volksbefreiungsarmee ab. Wie sehr das Massaker in China noch immer tabuisiert wird, wurde im Februar 2004 deutlich. Damals wurde im chinesischen Fernsehen in einer Live-Übertragung der US-amerikanischen National Football League eine Werbung ausgestrahlt, die das spektakuläre und weltweit bekannte Foto eines Chinesen zeigte, der am 4. Juni 1989 unter Einsatz seines Lebens die Panzer beim Vorrücken auf dem Platz des Himmlischen Friedens behinderte. Mit dem Werbespot sollten amerikanische Wähler aufgefordert werden, zu den Wahlurnen zu gehen. In den USA wurde die Werbung kaum beachtet, doch Chinas staatliche Fernsehmacher reagierten erbost. Schließlich wird das staatliche Sportfernsehen CCTV5 von 600 Millionen Zuschauern regelmäßig gesehen. Kaum war der Werbespot ausgestrahlt, protestierten die staatlichen chinesischen Fernsehmacher telefonisch bei der National Football League (Newsweek, 16.2.2004). Nur wenige Minuten später unterbrach das chinesische Fernsehen seine Live-Übertragung und strahlte stattdessen alte Aufzeichnungen von Football-Spielen in den USA aus.

Angehörige fordern Aufklärung

Seit Jahren wenden sich die Tiananmen-Mütter mit Appellen und Petitionen an den Staatspräsidenten, den Ministerpräsidenten, den Vorsitzenden des Nationalen Volkskongresses und an die Bundesanwaltschaft Chinas. Die Hinterbliebenen der Ermordeten fordern:

     

  • die Freilassung aller noch aufgrund der Proteste 1989 in Gefängnissen Inhaftierten;

  • eine öffentliche Untersuchung der Tatumstände des Massakers sowie eine Bestrafung der Verantwortlichen;

  • in Ruhe und Frieden auch öffentlich um ihre ermordeten Angehörigen trauern zu dürfen;

  • humanitäre Hilfe von Organisationen im In-und Ausland empfangen zu dürfen;

  • nicht länger mehr eingeschüchtert, verfolgt oder diskriminiert zu werden, nur weil ihre Angehörige während der Demonstrationen getötet wurden.

     

Doch vergeblich warten die Tiananmen-Mütter bis heute auf eine Antwort offizieller Stellen. Stattdessen werden die Angehörigen der Verstorbenen weiter eingeschüchtert und bedrängt. So wurden am 28. März 2004 drei Tiananmen-Mütter verhaftet. Offiziell festgenommen wurde die 67 Jahre alte Ding Zilin, weil sie die "Staatssicherheit gefährde". Ihr 17-jähriger Sohn war durch einen Schuss in den Rücken am 4. Juni 1989 getötet worden. Ding Zilin ist eine der bekanntesten Sprecherinnen der Selbsthilfeorganisation. Schon 1995 war Ding 43 Tage lang ohne formelle Anklage von Sicherheitskräften festgehalten worden. Auch am 10. Jahrestag des Massakers war ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt und Ding am Verlassen ihrer Wohnung in der Volksuniversität gehindert worden. Wenige Wochen später wurde Frau Ding im Rahmen umfangreicher Verhöre gezwungen, 25.000 US-Dollars Spendengelder dem chinesischen Staats zu übereignen, die sie für die Arbeit der Tiananmen-Mütter von Nichtregierungsorganisationen aus den USA erhalten hatte (AFP, 9.2.2000).

Festgenommen wurden am 28. März 2004 auch Frau Zhang Xinliang, die ebenfalls ihren minderjährigen Sohn bei der blutigen Niederschlagung der Proteste verloren hatte sowie Frau Huang Jinpin, deren Ehemann als Fotograf Zeuge des Massakers war und erschossen wurde. Nach massiven internationalen Protesten wurden alle drei Inhaftierten am 2. April 2004 wieder freigelassen.

Regelmäßig werden Angehörige der bei den Protesten 1989 Getöteten im Vorfeld von Jahrestagen des Massakers eingeschüchtert, in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt oder verhaftet. Schon im April 2004 hatten die chinesischen Behörden angesichts des nahenden 15. Jahrestages die Sicherheitsvorkehrungen auf dem Platz des Himmlischen Friedens deutlich verschärft.

Appell von bekanntem Parteimitglied wird ignoriert

Der bekannte Pekinger Arzt Jiang Yanyong forderte Ende Februar 2004 eine Neubewertung des Massakers von 1989. "Die Fehler unserer Partei müssen von der Partei selbst gelöst werden", forderte der 72jährige Jiang in einem Brief an den Volkskongress (dpa, 8.3.2004). In seinem Offenen Brief schilderte das angesehene Parteimitglied, wie er als Arzt des Militärkrankenhauses 301 in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni 1989 mitten unter weinenden Angehörigen Dutzende, von Schüssen regelrecht durchsiebte junge Demonstranten medizinisch versorgte. "Ich werde dies niemals vergessen können", schrieb der Arzt (Libération, 12.3.2004). Das Volk werde immer wütender über die Weigerung der chinesischen Führung, die Protestbewegung und das Massaker neu zu bewerten. Es sei eine "patriotische Bewegung" der Studenten gewesen und nicht eine "konterrevolutionäre Rebellion", wie offiziell immer behauptet werde. Jiang Yanyong beklagte, dass die vielen Appelle der Angehörigen der Getöteten nicht von den Behörden beantwortet werden. Dies sei unverantwortlich und nicht zu rechtfertigen.

Der 1998 verstorbene ehemalige Präsident der Volksrepublik China, Yang Shangkun, habe ihm kurz vor seinem Tod anvertraut: "Der 4. Juni war der schwerste Fehler, der in der Geschichte der Partei begangen worden ist. Es ist nicht zu verhindern, dass er in der Zukunft aufgearbeitet wird."

Der ehemalige Militärarzt Jiang Yanyong genießt in China große Anerkennung, seit er im Jahr 2003 den staatlichen Behörden vorgeworfen hatte, das katastrophale Ausmaß der Lungenkrankheit SARS zu verschweigen. Nachdem der Arzt darüber berichtet hatte, dass hunderte Pekinger wegen SARS in Krankenhäuser eingeliefert worden waren, wurde der Gesundheitsminister entlassen und eine Kampagne zur Bekämpfung der Lungenkrankheit eingeleitet.

Sein Ruf als Volksheld schützte Jiang Yanyong nach der Veröffentlichung des Offenen Briefes vor Verhaftung, doch sein Appell fand bei der chinesischen Führung kein Verständnis. Auch im Nationalen Volkskongress wurden kritische Stimmen laut, wie die des Delegierten Wang Shusen, der vor einer Neubewertung warnt: " Die Geschichte hat schon ihr Urteil über Tiananmen gesprochen, so kann dies nicht neu bewertet werden" (Guardian, 9.3.2004).

Intellektuelle fordern Umdenken

"Wir fordern, dass die Verantwortlichen (für das Massaker) öffentlich in schriftlichen und mündlichen Erklärungen um Vergebung bitten und sich dreimal vor den Toten verbeugen", erklärten 67 chinesische Intellektuelle in einem am 20. Mai 2004 an die Behörden gerichteten Offenen Brief (AFP, 20.5.2004). In den letzten 15 Jahren hätten viele chinesische Intellektuelle aus Angst vor Repressalien zu dem Massaker geschwiegen. Doch Schweigen sei "nicht gesund", da es die herrschende Partei und die gesamte chinesische Gesellschaft zerstöre. Als Unterzeichner wollten sie nicht Vergeltung oder Rache nehmen, sondern Versöhnung schaffen, die die Demokratisierung im Land fördere. In dem Brief forderten die Intellektuellen den Nationalen Volkskongress auf, eine Sonderkommission zur Untersuchung des Massakers einzusetzen. Die chinesische Regierung forderten die Unterzeichner auf, die Einsicht in Geheimdokumente freizugeben, um eine objektive Neubewertung der Geschehnisse des 4. Juni vornehmen zu können.

Unterzeichnet wurde der Offene Brief von 34 in China ansässigen bekannten Oppositionellen und 33 im Exil lebenden Dissidenten. Doch auch dieser Appell fand nicht die erhoffte Resonanz bei der chinesischen Führung.

Ministerpräsident rechtfertigt Massaker

Im Ausland gilt Chinas neuer Ministerpräsident Wen Jibao als Reformer. Als enger Vertrauter des seit dem Tiananmen-Massaker gestürzten und unter Hausarrest lebenden ehemaligen Generalsekretärs der Kommunistischen Partei, Zhao Ziyang, ruhten große Hoffnungen der Tiananmen-Mütter und anderer Anhänger der Demokratiebewegung auf Wen Jibao. Doch sein Verhalten in der Frage einer Neubewertung der Proteste von 1989 nähren ernste Zweifel, ob der Ministerpräsident tatsächlich zu weitreichenden politischen Reformen bereit ist.

Denn Wen Jibao rechtfertigte das Tiananmen-Massaker auf einer Pressekonferenz in Peking am 14. März 2004. Bei der Niederschlagung der Proteste sei es "um die Zukunft unserer Partei und unseres Landes gegangen", erklärte der Ministerpräsident (AP, 14.3.2004). Ende der 80er Jahre und zu Beginn der 90er Jahre habe sich China mit ernsten politischen Unruhen konfrontiert gesehen. "Erfolgreich haben wir die Reformen stabilisiert und das Land geöffnet, um einen Sozialismus unter chinesischen Vorzeichen aufzubauen….Wir haben die Einheit der Partei immer aufrechterhalten und soziale und politische Stabilität in diesem Land gewährleistet", sagte Wen Jibao. Peinlich bemühte sich die Dolmetscherin des Ministerpräsidenten bei der Übersetzung seiner in Englisch vorgetragenen Antworten, die live im chinesischen Fernsehen ausgestrahlt wurden, die Wörter "Tiananmen" und "4. Juni" zu vermeiden. Stattdessen sprach sie von der "Angelegenheit 1989".

Studentenführer weiter in Haft

Noch immer verbüßen mehr als 80 Menschen aufgrund ihrer Beteiligung an der Protestbewegung 1989 langjährige Haftstrafen. Ihre Freilassung wäre ein erster Schritt, um eine Aufarbeitung der schrecklichen Geschehnisse des Juni 1989 zu ermöglichen und eine Versöhnung einzuleiten.

Doch bislang deutet nichts darauf hin, dass die chinesische Führung an eine Freilassung aller inhaftierter Anhänger der Demokratiebewegung denkt. Im Gegenteil, immer wieder werden Chinesen aufgrund kritischer Äußerungen zur Haltung der Parteiführung in der Tiananmen-Frage bedrängt oder inhaftiert. So wurden Ende Mai 2004 die Wohnungen von Liu Xiaobo, Hu Jia und mehreren anderen Dissidenten unter Polizeibewachung gestellt und den Oppositionellen Hausarrest erteilt. Ihre Telefonleitungen werden überwacht und alle Telefongespräche politischen Inhalts werden von staatlichen Zensoren unterbrochen. Jeder Kontakt mit Journalisten und anderen Dissidenten wurde ihnen untersagt. Der Wissenschaftler Liu Xiaobo setzt sich seit Jahren engagiert für die Presse- und Meinungsfreiheit ein und hat zahlreiche Artikel über die Verletzung der Meinungsfreiheit im Internet verfasst. Der Oppositionelle Hu Jia kritisierte besonders die Untätigkeit der chinesischen Behörden bei der Bekämpfung der Immunschwäche Aids.

Bereits im Oktober 2003 war der Lehrer Yan Jun in einem Geheimverfahren zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, weil er im Internet kritische Artikel zur Niederschlagung der Protestbewegung 1989 verbreitet hatte.

Der langjährige Dissident Zhang Ming wurde nach Vorlage fragwürdiger Beweise wegen Unterschlagung im September 2003 zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Nach einem monatelangen Hungerstreik wurde ihm Ende Mai 2004 eine Wiederaufnahme seines Verfahrens in Aussicht gestellt.

Im Jahr 2002 wurde Wang Jinbo, ein Mitglied der Chinesischen Demokratischen Partei, zu vier Jahren Haft verurteilt, weil er im Internet dazu aufgerufen hatte, die Regierung müsse die Protestbewegung neu bewerten.

China muss zur Neubewertung des Massakers gedrängt werden

Wenn Chinas Führung nicht ihre Glaubwürdigkeit in der eigenen Bevölkerung gänzlich einbüßen will, muss sie endlich eine Neubewertung der Protestbewegung von 1989 vornehmen, die in Haft verbliebenen Studentenführer freilassen und die Verantwortlichen für das Massaker juristisch zur Rechenschaft ziehen. Die Forderungen der Tiananmen-Mütter müssen endlich erfüllt werden, um einen weiteren Vertrauensverlust der führenden Politiker zu verhindern.

Dies sollte auch im Interesse der internationalen Staatengemeinschaft und der Europäischen Union sein, die auf Stabilität in der Volksrepublik angewiesen sind, um den erwünschten Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen voranzutreiben. Denn angesichts der großen sich andeutenden sozialen Probleme insbesondere in den immer mehr verarmenden ländlichen Gebieten Chinas könnte ein weiterer Vertrauensverlust der Staatsführung katastrophale Folgen für das gesamte Land und die Region Ostasien haben.

Statt die Lage in der Volksrepublik China schön zu reden und darauf zu vertrauen, dass das Massaker nun endlich vergessen werde, sollte sich die Europäische Union aktiv für eine Neubewertung der Protestbewegung von 1989 und ihrer brutalen Niederschlagung einsetzen. Eine Aufhebung des EU-Waffenembargos gegen China in diesem wichtigen Gedenkjahr wäre ein Schlag ins Gesicht aller chinesischen Demokraten, die auf Unterstützung aus dem Ausland hoffen, um die Demokratisierung der Volksrepublik China voranzutreiben.