19.01.2006

Bolivien: Eine Revolution mit dem Stimmzettel

EVO PRESIDENTE

Evo Morales nach der Wahl (Foto: www.nrk.no)

Der nächste Präsident Boliviens wird Evo Morales heißen! Er ist nicht nur der erste Indígena in diesem Amt - sondern auch der Präsident, der mit dem überzeugendsten Mandat der demokratischen Geschichte Boliviens in den Palacio Quemado einzieht (der bisher Stimmstärkste, "Goni" Sanchez de Lozada, bekam im Jahr 1993 35,5%): Das vorläufige Endergebnis liegt bei 54%, der Zweite, Jorge "Tuto" Quiroga, liegt 25 Prozentpunkte zurück! Das ist eine Quasi-Revolution per Stimmzettel, die sicherlich auch Signalwirkung auf die Region haben wird.

"Wir haben einen historischen Rekord der Stimmen erreicht. Ich will den Aymaras, Quechuas, Guaraníes und Chiriguanos sagen, dass wir zum ersten Mal den Präsident stellen", verkündete Morales nach seinem Wahlsieg. Der Bauernsohn aus dem Volk der Aymara, wurde am 26.10.1959 in Iasllave, nahe der Minenstadt Oruro auf dem fast 4.000 Meter hoch gelegenen Altiplano, geboren. Er ist in Armut aufgewachsen. Als er zum Militärdienst eingezogen wurde, ging seine Familie in das tropische Tiefland des Chapare, um Koka anzubauen. Die Familie Morales war Teil einer regelrechten Migrationswelle. Immer wiederkehrende Trockenperioden, Frost und die Marktöffnung für Produkte aus den klimatisch begünstigteren Nachbarländern im Rahmen der neoliberalen Strukturanpassung von 1985 lösten sie aus. Der Zusammenbruch des Bergbaus tat gleichzeitig ein Übriges. Die meisten Migranten waren Quechua, gefolgt von Aymara. Sie verdrängten und assimilierten in den Wäldern lebende Jäger, Sammler und Fischer der Yuqui und Yuracaré. Sie verstanden sich zunächst weniger als Indígenas, sondern vielmehr als Bauern und Bergleute.

Die Revolution von 1952 hatte die Indios zu "Bauern" gemacht und in sindicatos (Gewerkschaften) organisiert. Die sindicatos der Bergarbeiter verstanden sich als Avantgarde des Proletariats. Die Revolution hatte das allgemeine Wahlrecht eingeführt. Doch ihr Konzept des Staatsbürgers richtete sich auch gegen die autonome Kollektivität der traditionellen andinen Dorfgemeinschaften. Die Landreform von 1953 richtete sich gegen den Großgrundbesitz und gab das Land "dem, der es bebaut" – aber eben auch gegen traditionelle kollektive Besitz und Nutzungsformen, wie sie seit vorinkaischer Zeit existierten. Um es mit den Worten der Soziologin Silvia Rivera Cusicanqui zu sagen: "Die Menschenrechte der Indios wurden erst anerkannt, wenn sie aufhörten Indios zu sein." Trotzdem: Andine Kollektivität lebte im Rahmen einer Kultur des Widerstands weiter, gerade auch im sindicato.

In dem für sie fremden agro-ökologischen Kontext des Chapare waren die neuen Siedler vor eine ganze Reihe von Herausforderungen gestellt: Besitzverhältnisse mussten geregelt werden, Wälder gerodet, ein Brunnen, ein Zufahrtsweg angelegt, eine Schule gebaut werden. In Abwesenheit staatlicher Strukturen wurden sindicatos gegründet, die hier lokale de facto-Regierungen waren. Noch heute kontrollieren sie 80% des Bodens und können das Nutzungsrecht entziehen, wenn das Land länger als drei Jahre nicht genutzt wird. Entscheidungen werden kollektiv und im Konsens getroffen. Mit dem Kokaboom verloren die sindicatos des Chapare kurzfristig an Bedeutung, um sie im Kampf gegen die Kokavernichtungspolitik wiederzugewinnen. Sie organisierten sich in centrales und diese bilden wiederum sechs federaciones. Im Jahr 1991 schufen diese ein Koordinationskomitee, zu dessen Vorsitzenden Evo Morales gewählt wurde. Mit Straßenblockaden und wochenlangen Protestmärschen nach La Paz zwangen sie diverse Regierungen immer wieder zu Zugeständnissen, die dann meist nicht eingehalten wurden, da La Paz in dieser Hinsicht unter großem Druck Washingtons steht. Eine Politisierung und Radikalisierung war die Folge, aber auch eine Wiederentdeckung der eigenen indigenen Identität, die zwar nie verloren gegangen, aber aus dem Bewusstsein verdrängt worden war. Wenn heute das ampliado im Chapare tagt, so treffen sich die Vertreter von 36 centrales, die ihrerseits mehr als 600 sindicatos repräsentieren. Es gilt das Konsensprinzip.

Mit dem Ley de la Participación Popular von 1994 wurden überall in Bolivien Gemeinden mit eigener Rechtspersönlichkeit und eigenem Budget geschaffen. Die Gemeinderäte und Bürgermeister wurden weit reichenden basisdemokratischen Kontrollen unterstellt. Doch kandidieren mussten sie auf der Liste politischer Parteien. Die sindicatos der Kokabauern nutzten die kleine Splittergruppe Izquierda Unida (IU) und gewannen. Alle Chapare-Bürgermeister waren ehemalige sindicato-Führer. Bei den Parlamentswahlen von 1997 gewann die IU in Bolivien ganze vier Mandate, alle Direktmandate und alle aus dem Chapare, darunter Evo Morales mit 69%.

Nachdem das Wahlgesetz Kandidaturen nur auf der Liste politischer Parteien zuließ, hatten sich die Kokabauern entschlossen, ein eigene zu gründen: MAS (Movimiento al Socialismo – Instrumento Político para la Soberanía de los Pueblos), die "Bewegung zum Sozialismus", versteht sich in Abgrenzung zu den diskreditierten Altparteien, die man als Werkzeug einer schmalen nationalen Oberschicht im Dienste ausländischer Mächte sieht, als "politisches Instrument für die Souveränität der Völker". MAS füllte ein Vakuum im politischen System Boliviens und wurde vom singulären politischen Instrument der Kokabauern sogleich zum Kristallisationskern für die Unzufriedenen im Land. Auf die reichsten 10% der Bevölkerung entfallen 32% des Nationaleinkommens, 82% der Menschen gelten als arm. Bei den Parlamentswahlen vom Juni 2002 wurde MAS auf Anhieb zweitstärkste Partei. Spitzenkandidat Evo Morales kam in die Stichwahl um das Präsidentenamt, die er verlor. Doch zusammen mit dem kleineren, radikaleren Movimiento Indígena Pachacutic (MIP) des Felípe Quispe, zogen nun 41, überwiegend indianische Fundamentaloppositionelle in den Kongress ein. Statt jedoch die Zeichen der Zeit zu erkennen, herrschte gegenüber den parlamentarischen Neulingen weiter Ausgrenzung vor. Der Druck der Straße nahm zu. Und zunehmend ist ihm auch das MAS unterworfen. Im Oktober 2003 jagte ein Volksaufstand den amtierenden Präsidenten Sanchez de Lozada aus dem Amt und aus dem Land. Im Juni 2005 warf auch dessen Vize und Nachfolger, der parteilose Historiker und Journalist Carlos D. Mesa unter dem Eindruck von Massenprotesten das Handtuch.

Bolivien gilt heute als ein Land an der Schwelle zur Unregierbarkeit. Allein: Die Armee verhält sich bisher überraschend neutral und demokratiestützend. Und das MAS war als Oppositionspartei paradoxerweise lange Präsident Mesa’s kräftigste Stütze im Parlament. Morales steht vor großen Herausforderungen. Die Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung (Constituyente) steht im Juli an. Zwischen Forderungen nach einer Nationalisierung der Energieressourcen und Separationsbestrebungen aus den energiereichen Departments Santa Cruz und Tarija befindet sich Bolivien in einer Zerreißprobe. Die Erwartungen der verarmten und marginalisierten Bevölkerung sind groß, die (finanziellen) Handlungsspielräume begrenzt. Und die radikale Opposition um den Gewerkschaftsbund COB, Felípe Quispe’s MIP und die Nachbarschaftskomitees der Satellitenstadt El Alto ist ungeduldig.

Der Wahlsieg des MAS hat nicht nur die politischen Repräsentanten des alten Modells zum Verschwinden gebracht: ADN und MIR haben als Parteien aufgehört zu existieren, das traditionsreiche Movimiento Nacionalista Revolucionaria (MNR), Trägerin der Revolution von 1952 und der neoliberalen Strukturanpassungen unter den Präsidenten Estenssoro und Sanchez de Lozada bekam noch ganze 6,4%. Auch Felípe Quispes radikal-indigenistisches MIP ist mit 2,1% der Stimmen vorläufig in die Bedeutungslosigkeit abgetaucht. Darin liegt eine große Chance: Bolivien sehnt sich nach einem Ende der Polarisierung und der Unruhen. Der "Zusammenprall der Kulturen" muss in einen "Dialog der Kulturen" überführt werden. Die Constituyente, die am 2. Juli zusammentreten soll, wäre der passende Rahmen. Ob die MAS über die personelle und programmatische Decke verfügt, um diese Herausforderungen zu bewältigen, wird vielfach bezweifelt. Allein: Die Wählerinnen und Wähler haben die junge Bewegung genau damit beauftragt...

War Evo Morales bis vor kurzem noch das Schreckgespenst aller westlichen Außenpolitiker, so kann man nach diesem Votum nicht mehr an ihm vorbei. Die USA hatten im letzten Wahlkampf noch damit gedroht, im Falle eines Wahlsiegs der MAS die Hilfen an Bolivien einzufrieren, was Morales dann zusätzliche Stimmen eingebracht hatte. Nunmehr macht Washington seine Haltung vom Verhalten der neuen Regierung abhängig. Man erwarte, dass die Demokratie respektiert werde und bestehende Verpflichtungen und Verträge eingehalten. Eine klare Drohung, vor allem hinsichtlich der Drogenpolitik und der Kokavernichtung. Die Europäische Union hat dagegen fürs Erste klaren Kooperationswillen ohne Wenn und Aber signalisiert. Progressistische Nachbarregierungen in Brasilien, Argentinien, Uruguay und Venezuela begrüßen den Wahlausgang ausdrücklich. Bolivien ist ein Aid Regime. Ausländische Entwicklungsfinanzierung entspricht etwa 8-10% des Bruttoinlandsprodukts und finanziert praktisch 100% der öffentlichen Ausgaben. Das ist nicht wünschenswert, aber eine Konsequenz des alten Modells. Bolivien wird auch in Zukunft Unterstützung brauchen. Und die internationale Gemeinschaft wird gut daran tun, konstruktiv mit der neuen Regierung zusammenzuarbeiten. Es geht darum, ein Auseinanderbrechen der Gesellschaft und eine Balkanisierung zu vermeiden. Der Wahlausgang sollte zum Nachdenken Anlass geben. Denn er ist auch eine Schlappe für jene ausländischen Entwicklungsorganisationen und ihre Vordenker, die das alte Modell zum großen Teil unterstützt und finanziert hatten.