17.11.2006

Bleiberecht für langjährig geduldete Flüchtlinge!

Offener Brief an die Innenminister und -senatoren

Jasna Causevic, GfbV-Südosteuropa-Referentin überreicht den Appell zusammen mit drei betroffenen Flüchtlingen an den Koordinator der Innenministerkonferenz Olaf Hannig

Absender: Martin Walser und Prof. Ernst Tugendhat für den Beirat der Gesellschaft für bedrohte Völker, Tilman Zülch, Generalsekretär der Gesellschaft für bedrohte Völker

Sehr geehrte Frau Ministerin, sehr geehrte Herren Minister und Senatoren,

"Auf keinem Auge blind", ist die Leitlinie der internationalen Menschenrechtsorganisation Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV). Wir widmen unsere Arbeit bedrohten religiösen und ethnischen Minderheiten, daher auch den vor Abschiebung bedrohten langjährig Geduldeten in Deutschland. Wir bitten Sie: Verschließen Sie Ihre Augen nicht vor ihrem Schicksal!

Unser Schirmherr, der international renommierte jüdische Philosoph Ernst Tugendhat, geboren in Brünn / Mähren, von einer deutschen Regierung aus dem Lande gejagt, hat diesem Schreiben hinzugefügt:

"Es ist traurig genug, dass das Recht auf Asyl in Europa heute weitgehend ausgehöhlt ist. Aber Menschen, die schon Jahre unter uns leben, abzuschieben, ist ein schweres Unrecht und unvorstellbar grausam. Wenn wir keinerlei Achtung mehr für andere Menschen haben, verlieren wir die Achtung vor uns selbst."

Deutschland ist in vieler Hinsicht Vorbild für andere Länder, auch was das Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft betrifft. Und unser Land hat sehr lange verfolgte Menschen aufgenommen. Umso weniger darf man die Augen vor dem Schicksal einer Gruppe von 200 000 Menschen verschließen, die bei uns seit vielen Jahren eine Heimat gefunden haben und denen gleichwohl kein Heimatrecht gewährt worden ist. Sie werden von Monat zu Monat oder von Halbjahr zu Halbjahr nur geduldet. Sie erhalten in den meisten Fällen keine Arbeitserlaubnis, können nach dem Schulabschluss keine Ausbildung beginnen.

Ihre Zehntausende Kinder sprechen Deutsch als Muttersprache mit niedersächsischem oder bayrischem Akzent, sie sind hier in unserer Gesellschaft de facto zu ethnisch und kulturell Deutschen geworden. Die meisten dieser Kinder haben keine Verbindung mehr zur Heimat ihrer Eltern. Auch diese sind inzwischen hier fest verwurzelt.

Lehrer, Sozialarbeiter, Geistliche, christliche Gemeinden, Flüchtlingsräte, Menschenrechtler aber auch Sportvereine und Nachbarn haben unendlich viel geleistet, um ihnen die von Ausländerbehörden verweigerte Integration auf andere Weise zu geben.

Ein Beispiel ist das Schicksal einer christlich-assyrischen Familie aus dem Tur Abdin. Als Christen hatten sie in der Heimat im Südosten der Türkei keine Chancen mehr. Sie flüchteten nach Deutschland. In diesem Jahr wurden sie abgeschoben. Alle drei Söhne waren in unseren Schulen und Universitäten erfolgreich. Der Vater hatte eine Arbeit. Die 15-jährige Tochter wurde in Handschellen aus dem Schulunterricht in Kassel herausgeholt. Die Abschiebung wurde so zur Deportation.

Wir sagen bewusst, fast alle dieser Abschiebungen werden zu Deportationen ins Nichts. Das ist es, was diese "eingedeutschten" Menschen dann in der früheren Heimat ihrer Eltern vorfinden. Sie stammen aus Ländern, die nach Bürgerkriegen, Völkermord, Flucht oder Vertreibung ohnehin für viele Minderheitenangehörige nicht mehr Heimat sein kann.

Benutzt man dann den Ausdruck Deportation für viele dieser Abschiebungen, fühlen sich Innenminister und Ausländerbehörden provoziert, weil wir an die Schrecken der jüngsten deutschen Vergangenheit erinnern. Zu recht, denn dem Holocaust voran gingen solche "Abschiebungen" von jüdischen Menschen schon seit 1933.

Diese fatale deutsche Abschiebungspolitik zeigt, dass aus den Schrecken der Vergangenheit nicht gelernt wurde, auch nicht aus den oft tabuisierten Vertreibungen, die 14 Millionen Deutsche aus dem früheren Ostdeutschland erlitten haben. Dabei stammt fast jeder zweite nachgewachsene Deutsche mit mindestens einem Eltern- oder Großelternteil von diesen Vertriebenen ab, denen damals die Heimat genommen wurde.

Alle Politiker klagen jetzt darüber, dass in Deutschland zu wenige Kinder geboren werden. Warum schieben Sie dann Woche für Woche, Monat für Monat gut integrierte Kinder ab? Warum machen Sie deutsch gewordene Kinder und Jugendliche für ihr Leben unglücklich und vertreiben sie aus ihrer deutschen Heimat?

Wir bitten Sie: Geben Sie diesen 200.000, seit vielen Jahren in Deutschland ansässigen Menschen, denen nur die deutsche Staatsbürgerschaft fehlt, endlich ein dauerhaftes Bleiberecht und ermöglichen Sie eine schnelle Einbürgerung. Deutschland braucht diese Familien und darf ihren Kindern nicht länger Unrecht tun.

Eine Entscheidung aber, die jene unter den Flüchtlingen, die keinen Arbeitsplatz haben, wieder vom dauerhaften Aufenthaltsrecht (Niederlassungserlaubnis) ausschließt, verändert das Unrecht nicht, sondern verstärkt nur das Leid dieser Menschengruppe.

Mit freundlichen Grüßen

Tilman Zülch, Generalsekretär

Martin Walser, Schirmherr