17.12.2005

Bildungsstrategien und Sprachstrategien von Sprach-minderheiten

Minderheit & Bildung

Durch die tiefgreifenden Modernisierungen der sozialen Beziehungen während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben viele Minderheitensprachen ihre soziale Basis – in den meisten Fällen das Dorf als primären Kommunikationsbereich – verloren. Wenn wir uns das Beziehungsgeflecht zwischen Kultur, Sprache und Bildung als ein Dreieck vorstellen, können wir für die Bildungskonzeptionen von Sprachminderheiten in gemischten Regionen generell zwei Modelle ausmachen:

Modell A betont die Einheit von Kultur und Bildung für die Angehörigen der verschiedenen Sprachgruppen. Es geht davon aus, dass die Sprecher verschiedener Sprachen als vollkommen gleichberechtigte Elemente einer Gesellschaft denselben Entwicklungen unterworfen sind, ähnliche Interessen teilen und ähnliche Bedürfnisse haben, dies aber in verschiedenen Sprachen tun. Die wesentlichen Unterschiede der Sprachgruppenangehörigen sind in erster Linie nicht kulturell definiert, schon gar nicht sozial, sondern sprachlich. Solche Modelle sind gekennzeichnet durch einen hohen Grad an gegenseitiger Kulturvermittlung, gegenseitiger Anteilnahme am kulturellen Leben der anderssprachigen Gruppe und durch die generelle politische und soziale Integration der Sprachgruppen. Das in der Schule vermittelte Curriculum ist in den wesentlichen Zügen für beide Sprachgruppen gleich, nur dass es eben in verschiedenen Sprachen vermittelt wird und dass in einigen Fächern die historische Tradition der einen oder anderen Sprachgruppe stärker im Vordergrund steht.

Modell B betont dagegen das grundsätzliche Anderssein von Kultur und Sprache der Angehörigen der verschiedenen Sprachgruppen. Es geht davon aus, dass die Sprecher verschiedener Sprachen Träger grundsätzlich verschiedener Kulturen sind, worunter in diesem Zusammenhang meist unterschiedliche soziale, moralische und politische Wertvorstellungen gemeint sind. Solche Modelle sind gekennzeichnet durch einen Hang zur "Sauberhaltung" des eigenen kulturellen Systems, der Verteidigung der "einzig wahren" kulturellen Tradition der jeweiligen Sprachgruppen sowie durch weitgehende soziale Segregation zwischen den verschiedenen Sprachgruppenangehörigen.

Nicht nur Sprache

Den Bildungseinrichtungen in Minderheitengebieten liegen nicht nur unterschiedliche Konzepte von Kultur, Bildung und Sprache zugrunde, Bildungseinrichtungen transportieren neben dem explizit ausgewiesenen Curriculum an Fächern und Lehrstoff auch noch immer ein sogenanntes "hidden curriculum" von impliziten Wertehaltungen, Orientierungen, Kommunikations- und Interaktionsformen, das meist an der gesellschaftlich dominanten Kultur ausgerichtet ist. Das Scheitern vieler Romakinder in den Bildungsinstitutionen vieler Länder Europas ist eigentlich ein Versagen dieser Bildungseinrichtungen im Umgang mit einer kulturell anders sozialisierten Schülerpopulation.

Auch das Verständnis von der Rolle der Eltern im Zusammenspiel von Eltern und Bildungsinstitutionen steht oft in krassem Gegensatz zur Familienkonzeption und Familiensolidarität in traditionellen Romapopulationen. Diese kommunikativen Probleme könnten auch dann nicht einfach "ausdiskutiert" werden, wenn die Lehrer der Muttersprache der Schüler mächtig wären, also des Romanes. Hier wird eine der grundlegenden Bedingungen für die Effizienz von minderheitensprachlichen Schulsystemen deutlich. Damit schulische Einrichtungen den gesteigerten Erwartungen beim muttersprachlichen Spracherwerb und bei der Spracherhaltung entsprechen können, bedarf es einer harmonischen Behandlung dieser Kultur nicht nur im schulischen, sondern ebenso im außerschulischen, also im öffentlichen Bereich der Region, aber auch im familiären Bereich der zweisprachigen Personen.

Bildungseinrichtungen von Sprachminderheiten sind überall dort besonders erfolgreich, wo sie in ein ganzes Netzwerk von umgebenden Institutionen der Sprachvermittlung und Sprachverwendung eingebunden sind.