28.04.2005

Bilanz über das Versagen des Dayton-Vertrages

Die Rückkehrer bleiben aus

Das Jahr 2000 markiert den fünften Jahrestag nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages von Dayton. Aber noch immer halten sich etwa 760.000 ehemalige Einwohner Bosnien-Herzegowinas als Flüchtlinge außerhalb der Landesgrenzen auf: 1,2 Millionen der insgesamt vertriebenen oder umgesiedelten 2,2 Millionen Menschen sind über 100 Länder der Welt verstreut, 870.000 sind weiterhin innerhalb des Landes vertrieben. Mittellos und fern ihres Heimatortes leben sie meist in überfüllten Sammel- oder Notunterkünften. Sie werden schlecht mit Nahrung und Medikamenten versorgt, sind oft ohne Strom- und Wasseranschluss, ohne Arbeit und eigenes Einkommen.

Die bosnische Sektion der GfbV untersuchte im März 2000 in einer detaillierten mehrsprachig veröffentlichten Dokumentation die Situation der Rückkehrer in 11 Städten und verschiedenen Kollektiv- und Transitzentren. Sie trug dabei eine Fülle von konkreten Daten zusammen zum Umfang und zur geographischen Verteilung der Rückkehr sowie Kontaktadressen u.a. des Roten Kreuzes und der UNHCR-Büros in Bosnien-Herzegowina.

Das Abkommen von Dayton, dessen vorrangiges Ziel die Wahrung der Einheit Bosnien-Herzegowinas ist, hat sein Ziel verfehlt. Annex VII legte die rechtliche Grundlage für eine Rückkehr der Flüchtlinge und Vertriebenen. Das Jahr 1998 wurde zum "Jahr der Rückkehrer" erklärt. Aber nur 650.000 Menschen fanden bislang den Weg in ihr Heimatland, kaum einer von ihnen aber auch in seinen einstigen Wohnort. Die Demarkationslinie, die das Land in einen serbischen Sektor, die "Republik Srpska", und die sogenannte "bosniakisch-kroatische Föderation" teilt, weist der Bevölkerung auch weiterhin ihren "ethnisch gesäuberten" Platz zu. Minderheiten sind unerwünscht.

Der Begriff "Förderation" spricht der Realität Hohn. Auch nach dem Tod Tudjmans versuchen nationalistische kroatische Machthaber nach Kräften, eine Rückkehr der vertriebenen muslimischen und serbischen Bosnier in das kroatisch dominierte Gebiet zu verhindern. Im serbisch kontrollierten Sektor ist das Vorgehen gegenüber kroatischen und muslimischen Bosniern kaum anders. Die Bemühungen der Vereinten Nationen, den Flüchtlingen eine möglichst sichere Rückkehr zu ermöglichen, scheitern daran, dass elementarste Grundrechte wie das Recht auf Bewegungsfreiheit, auf Unversehrtheit der Person, an privatem Eigentum oder auf Religionsfreiheit nicht oder nur vereinzelt verwirklicht sind. Die Kriegsverbrecher, verantwortlich für Morde, Vergewaltigungen und Vertreibungen, sind oft in ihren Machtpositionen geblieben und sorgen noch immer dafür, dass die ethnische Teilung aufrechterhalten bleibt. Die wenigen, die unter diesen Umständen ihre einstigen, jetzt oft von Flüchtlingen besetzten, Häuser aufsuchen, tun dies unter Lebensgefahr. Sie werden mit Steinen beworfen, ihre Häuser werden vermint oder niedergebrannt.

Die Angst ist groß unter den Flüchtlingen. Nur zu lebendig sind die Erinnerungen an die Massaker, an Deportationen, Konzentrationslager und unvorstellbare Demütigungen. Aus dem Gebiet der heutigen Republik Srpska sind etwa 80 Prozent der Einwohner vor den serbischen Aggressoren geflohen. Lediglich drei Prozent sind bislang dorthin zurückgekehrt. Einer von ihnen, der Dichter Semso Avdic, ein Rom, lebt seit fast einem Jahr als Mieter im Keller seines eigenen Hauses. Er ist von der stets gegenwärtigen Diskriminierung so zermürbt, dass er das Land wieder verlassen und nach Übersee auswandern will.

Die GfbV Bosnien-Herzegowina dokumentiert aber nicht nur die verzweifelte Situation der Rückkehrer sondern sie rekonstruiert auch Kriegsverbrechen, um die Behörden darin zu unterstützen, die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Beides ist von individueller Hilfeleistung kaum zu trennen. Die GfbV bemüht sich daher um vermittelnde Gespräche mit den Behörden, den SFOR-Kräften oder ehemaligen Nachbarn der Rückkehrer und stellt im Rahmen ihrer Möglichkeiten finanzielle Mittel bereit. In ihrem Report weist sie auch auf die schwere psychische Traumatisierung und die hohe Selbstmordrate unter ehemaligen Lagerinsassen hin, beides mitverursacht durch die enormen Probleme bei der Rückkehr.

In Drvar, einer Stadt in der kroatisch dominierten Herzeg-Bosna, lebten vor Kriegsausbruch 17.500 Serben (98,5 Prozent). Nach dem Krieg wurde Drvar mit Kroaten besiedelt. Ab 1997 kehrten ca. 4000 Serben zurück. Doch offene Diskriminierung zwang viele dazu, erneut zu gehen. Nevenka Pecanac zum Beispiel kehrte vor etwa einem Jahr in das Dorf Vrtoce bei Drvar zurück und hat noch immer keinen Stromanschluss. Das Haus ihrer kroatischen Nachbarn wird problemlos mit Strom versorgt. Serbische Schulkinder werden ausschließlich nach kroatischen Lehrplänen und mit kroatischem Unterrichtsmaterial unterrichtet.

Auch im Bezirk von Mostar, das vollständig zwischen Bosniaken und Kroaten aufgeteilten ist, haben einige Serben versucht, in zehn ihrer Heimatdörfer zurückzukehren. Sie werden ebenfalls immer wieder angegriffen, es kommt zu Anschlägen auf serbische Einrichtungen. Auffällig ist, dass die Rückkehr in allen Gebieten durch öffentliche Institutionen wie Polizei und Behörden behindert wird, Anzeichen dafür, dass die Kriegsverbrecher noch immer in Lohn und Brot stehen und nach wie vor mit Macht ausgestattet sind. In der westbosnischen Stadt Stolac beispielsweise sind alle entscheidenden Positionen von offen nationalkroatischen Agitatoren mit meist blutiger Vergangenheit besetzt. Diese Apartheidpolitik vollzog sich besonders gewaltsam im kroatisch kontrollierten "Herzeg-Bosna". Die nach Tudjmans Tod gewählte und weniger nationalistische Regierung Kroatiens lässt zwar hoffen, das die Extremisten allmählich an Einfluss und Terrain verlieren werden. Noch aber herrschen die alten Klüngel ungestraft über "ihr" Territorium.

Im bosniakisch kontrollierten Teil der "Förderation" besteht das dringlichste Problem im Mangel an Grundnahrungsmitteln, Unterkünften und Erwerbsmöglichkeiten. Egal ob in Gorazde, Tuzla, Zenica, Maglai oder Sarajevo, die katastrophale Lage unterscheidet sich nur geringfügig. Die Binnenflucht ist enorm. Die Kollektivunterkünfte, in denen jene untergebracht werden, die nicht in ihre Heimatorte zurück können, sind überfüllt und unzureichend ausgestattet. Städte und Gemeinden drohen aus allen Nähten zu platzen.

Schwerer zu beschaffen als Nahrung, Wasser und eine trockene Unterkunft und doch gleich wichtig bleibt aber die Gerechtigkeit und die Hoffnung, dem Elend der Flucht zu entrinnen, den Geist eines multikulturellen und multikonfessionellen Staates wieder zum Leben zu erwecken. Flüchtlinge, die nicht zurück kommen, haben den Glauben an Gerechtigkeit verloren. In den fünf Jahren seit Inkrafttreten des Friedensvertrages von Dayton hat der Gedanke an die Heimat zu verblassen begonnen. Der Traum von einem ungeteilten demokratischen und friedlichen Bosnien-Herzegowina verliert mit jedem Tag mehr an Kontur. Je länger die Rückkehr der Flüchtlinge verhindert wird, desto geringer wird die Chance, sie jemals zu verwirklichen.

Fadila Memisevic, langjährige Bosnien-Referentin der GfbV Deutschland, ist heute Geschäftsführerin der GfbV-Sektion in Sarajevo. Der Artikel entstand im April 2000